Dauerdeprimierte Kommunist*innen?

10.12.2015, Lesezeit 6 Min.
1

Psychische Probleme sind weit verbreitet, aber im Alltag wird wenig darüber gesprochen. Revolutionär*innen, die sich den Kampf gegen jede Art von Unterdrückung auf die Fahne schreiben, sind besonders anfällig. Ein Kommunist reflektiert hier über seine eigenen Erfahrungen mit Depressionen.

Revolutionär*innen, sagte Che Guevara einmal, müssen ein bisschen verrückt sein. Wer bildet sich sonst ein, die ganze Welt auf den Kopf stellen zu können?

Ein*e Revolutionär*in braucht einerseits die Überzeugung, dass das kapitalistische System unreformierbar schlecht ist; und andererseits die Gewissheit, dass arbeitende Menschen ein grundsätzlich besseres System erkämpfen können. Ein Hang zur Manie ist also praktisch eine Voraussetzung für revolutionäre Praxis: Wer zu positiv gesinnt ist, wird sich mit dem bestehenden System abfinden können; wer zu negativ denkt, wird den Kampf aufgeben.

Deswegen trifft man in der revolutionären Bewegung – von den Sympathisant*innen bis hin zu den einmaligen Genies, die die Theorien formuliert haben – immer wieder auf Depressionen. „Pessimismus des Verstandes“ verlangte der italienische Kommunist Antonio Gramsci, aber auch „Optimismus des Willens“. Diese notwendige Dichotomie greift immer wieder in Verzweiflung über.

Tabus, wo es keine geben sollte

Oft fällt es uns nicht leicht, über psychische Probleme zu sprechen. Wenn ich im Rausch der Agitation bin, denken Leute manchmal, dass ich einfach nie ermüde. Aber in der Tat leide ich seit etwa fünf Jahren an chronischen Depressionen.

Wie soll man das beschreiben? Immer, wirklich ununterbrochen, fühle ich mich erschöpft. Und nach wenigen Stunden Konzentration bin ich so gereizt, dass ich heulen oder schreien muss. Gedanken an den Tod drängen sich permanent auf (auch wenn ich seit Jahren keine Schritte in diese Richtung unternommen habe). Phasenweise bin ich von Traurigkeit so überwältigt, dass ich gar nicht weiß, wie ich einen Satz wie diesen beenden sollte.

Und warum fällt es so schwer, eine Beschreibung zu Papier zu bringen, wenn man sonst zu jedem denkbaren Thema schreibt? Bin ich für ein paar Tage erkältet, dann dreht sich wie selbstverständlich jede Unterhaltung über Schnupfen, Vitamin C und Hühnersuppe. Aber wenn ich mich mit einer depressiven Krankheit herumschlagen muss, greife ich schnell zu Euphemismen: „Kopfschmerzen“, „Migräne“, „krank“ ohne nähere Angaben. Meistens kann ich nur mit meinen engsten Freund*innen darüber sprechen.

Zum Glück bekomme ich auch professionelle Hilfe: Wie jede*r Hilfesuchende habe ich sowohl engagierte Therapeut*innen als auch den bürokratischen Spießrutenlauf eines kapitalistischen Gesundheitssystems erlebt. Aber psychische Krankheiten unterliegen in dieser auf Ausbeutung basierenden Gesellschaft vielen Tabus – und diese machen auch nicht vor Strukturen halt, die für den Kampf gegen den Kapitalismus aufgebaut werden.

Kranke Menschen bekommen oft das Gefühl, dass sie selbst schuld sind; dass sie andere mit ihren Problemen nicht „belästigen“ sollten; dass sie sich nur ein bisschen anstrengen sollten, die Sachen positiver zu sehen. Gerade als revolutionäre*r Aktivist*in möchte man Stärke ausstrahlen: Um gegen die Unterdrückung kämpfen zu können, müssen wir uns gegenseitig ermutigen. Schnell hat man Angst, dass eine Diskussion über Krankheit andere demoralisieren könne.

Wie sollten wir damit umgehen?

In den letzten Jahren habe ich viel mehr Sensibilität für psychische Probleme in meiner Umgebung gewonnen. Einige Schlussfolgerungen versuche ich im alltäglichen Aktivismus zu beachten.

Wenn der Repressivapparat auf eine Demonstration losschlägt, will er nicht nur die Demonstration selbst zerstreuen. Die Polizei will jene Menschen, die für ihre Rechte aufstehen, längerfristig einschüchtern. Anders ausgedrückt: Die Bullen wollen uns nicht nur physische, sondern auch psychische Traumata hinzufügen. Und welche*r Aktivist*in will schon zugeben, dass er*sie Angst vor der Bullerei hat? Aber gerade die Unfähigkeit, über diese – doch sehr rationale – Angst zu sprechen, kann Menschen zurückhalten.

Deswegen müssen revolutionäre Strukturen auch sehr offen über psychische Probleme reden. Denn egal ob in einer großen Runde oder privat unter zwei Genoss*innen (wie es die betroffene Person wünscht), zeigt sich oft, dass Ängste weniger überwältigend erscheinen, wenn man offen über sie sprechen kann.

In all den Jahren habe ich es nicht wirklich geschafft, mich ernsthaft mit Psychologie auseinanderzusetzen (nur Fetzen von Freud, Reich und eine Einführung in die kritische Psychologie). Und dennoch weiß ich, dass die herkömmliche, bürgerliche Psychologie auf die Wiederherstellung unserer Arbeitskraft als Lohnsklav*innen ausgerichtet ist. Viele Therapeut*innen gehen davon aus, dass man sich mit dieser krisenhaften, ausbeuterischen und zutiefst irrationalen Gesellschaftsform wohl fühlen sollte. Doch Depression ist eine sehr menschliche Reaktion auf die alltäglichen Erniedrigungen der Klassengesellschaft. Die Frage ist, wie aus dieser berechtigten Depression Energie für den Kampf dagegen geschöpft werden kann.

Denn ein psychisch gesunder Mensch ist nicht derjenige, der sich mit diesem Wahnsinn abfinden kann, sondern derjenige, der so weit wie möglich sein Leben in den Dienst des Kampfes dagegen stellt.

Der Kampf gegen jede Art von Unterdrückung ist erschöpfend – er macht uns alle zumindest ein bisschen verrückt. Den Stress, dem wir uns im Kampf für eine bessere Welt aussetzen, müssen wir uns immer wieder bewusst machen – statt so zu tun, als würde es uns nicht stören. Das kann verschiedenste Formen annehmen. Ich hoffe, dass ich mit diesem Beitrag zu einer Diskussion unter linken Aktivist*innen beitragen kann, damit wir bewusst mit unseren Problemen umgehen können.

Nachtrag: Ich musste mir lange überlegen, ob ein persönliches Narrativ dieser Art es unseren Klassengegner*innen leichter machen könnte, unsere Strukturen zu bekämpfen. Die Gefahr ist real. Doch unsere Ausbeuter*innen wissen sowieso in der Regel sehr viel mehr über unsere gesundheitlichen Probleme. Und unsere politischen Gegner*innen können das wenig ausnutzen. Schließlich hat Lars von Trier in „Melancholia“ gut verdeutlicht, dass depressive Menschen mit manchen ungewöhnlichen Stresssituationen erstaunlich gut umgehen. Also drücke ich voller Mut auf „Veröffentlichen“.

Mehr zum Thema