Corona zwingt Menschen in die Kernfamilie

15.05.2020, Lesezeit 6 Min.
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Über einen Monat galten in ganz Deutschland massive Ausgangsbeschränkungen, die nur langsam wieder gelockert werden. Das öffentliche Leben ist zum Erliegen gekommen. Dies galt auch für Kindergärten, Restaurants und Waschsalons. Warum das eine große Bedrohung für queere Menschen, Regenbogenfamilien und Alleinerziehende ist, erklärt Anja Bethaven.

Foto: „Family Parking“ von Sandy Millar

Seit über einem Monat gelten in ganz Deutschland Ausgangsbeschränkungen, das öffentliche Leben ist zum Erliegen gekommen. Der Staat ist überfordert, nicht nur angesichts des kaputt gesparten Gesundheitssystems, sondern auch im Hinblick auf all die gesellschaftlichen Aufgaben, die nicht mehr gelöst werden können.

Klar, eine angemessene Vergesellschaftung von Reproduktionsarbeit (also Kochen, Waschen, Kinder erziehen, Putzen, Pflege …) gibt es in der BRD nicht. Dennoch gibt es einige Einrichtungen, die zumindest einen Teil der Arbeit abnehmen, wenn auch oft nur kommodifiziert, also als Geschäftsmodell, und damit für den reicheren Teil der Gesellschaft: Kitas, Kindergärten, Schulen, Waschsalons, Restaurants, … Auch “Putzfrauen” oder “Kindermädchen” gehören dazu.

All diese Einrichtungen sind aktuell geschlossen, es gibt keine staatlichen Alternativen. So wird die Reproduktionsarbeit wieder verstärkt in die “private Sphäre”, also die eigenen vier Wände und in die eigene Familie, gedrängt. Man kocht wieder mehr selbst. Man verbringt “Quality time” mit seinen Kindern, usw. Was für manche auf den ersten Blick romantisch klingt, birgt eine tiefere Gefahr: Die Stärkung der “bürgerlichen Kernfamilie”.

Aber was ist das, diese Kernfamilie? Wikipedia definiert “Kernfamilie” folgendermaßen:
“Die menschliche Kernfamilie (auch Gattenfamilie) besteht aus einer Mutter und einem Vater sowie ihren gemeinsamen leiblichen Kindern, die in einem Haushalt zusammenleben. Die Kernfamilie gehört in den westlichen Gesellschaften zu den am weitesten verbreiteten Lebensformen der Familie.”

Doch warum ist die Kernfamilie so verbreitet?

Seit über 200 Jahren lagern Kapitalist*innen Reproduktionsarbeit auf die Kernfamilie aus. Statt sich darum zu kümmern, dass Arbeiter*innen genährt, gewaschen und gesund sind, also zum Beispiel durch “Volkskantinen”, kollektivierte Wäschereien, 24/7 Möglichkeiten zur Kinderbetreuung, …, werden diese Aufgaben auf die Familieneinheiten abgeschoben und dort individualisiert. Du hast nicht genug zu Essen? Tja, dann hat deine Familieneinheit (also vermutlich dein Mann als “Brotverdiener” oder deine Frau als “Ernährerin”) versagt.
Dein Kind ist krank? Dein Vater ein Pflegefall? Ja, das ist dein Problem, denn es ist deine Familie. So schädlich das für die Arbeiter*innen ist, so bequem ist es für die Kapitalist*innen: Die Reproduktionsarbeit wird innerhalb der Familieneinheiten geleistet, ohne dass die Kapitalist*innen für die benötigte Arbeitskraft bezahlen müssten.

Deswegen ist die Kritik an der “Familie” ein zentrales Element des Marxismus. Die Kernfamilie als ein Ort, an dem Reproduktion individualisiert stattfindet, und über den das Bürger*innentum Eigentum weitergibt (also vererbt). Friedrich Engels führt den Zusammenhang von Familie und der jeweiligen Produktionsweise in seinem Werk “Der Ursprung des Staates, der Familie und des Privateigentums” aus. Durch diese Mehrfachfunktion der Kernfamilie (Reichtum in der Bourgeoisie halten und Kosten für die Reproduktionsarbeit zu sparen) ist sie fester Bestandteil der kapitalistischen Gesellschaft. Karl Marx schreibt hierzu im Kommunistischen Manifest:

Worauf beruht die gegenwärtige, die bürgerliche Familie? Auf dem Kapital, auf dem Privaterwerb. Vollständig entwickelt existiert sie nur für die Bourgeoisie; […]
Die bürgerlichen Redensarten über Familie und Erziehung, über das traute Verhältnis von Eltern und Kindern werden um so ekelhafter, je mehr infolge der großen Industrie alle Familienbande für die Proletarier zerrissen und die Kinder in einfache Handelsartikel und Arbeitsinstrumente verwandelt werden.
” (K. Marx, Kommunistisches Manifest, MEW 4, 478f.)

Es geht also nicht darum, die Familie an sich zu kritisieren, Liebe und Zuneigung und Unterstützung füreinander zu zerpflücken. Es geht “nur” um die Kernfamilie als politische und ökonomische Einheit.

Schon für “klassische” Kernfamilien, also Mutter, Vater, Kinder, ist diese Auslagerung von reproduktiven Pflichten ein Problem. Sie führt zur Doppelbelastung von Frauen, der Repression von Sexualität, der Abhängigkeit von Kindern von ihren Eltern und vielen anderen Problemen. Massiver wird diese Situation für “nicht-klassische Familien”. Paare ohne Kinder, alleinerziehende Eltern, alle Formen von queeren Familien (LGBTQIA+, Polyküle, also romantischen Beziehungen, die mehrere Partner*innen oder mehr als eine Paarbeziehung beinhalten, “Patchwork-Familien”, …)

Seit vielen Jahren und Jahrzehnten steht die Kernfamilie als politische und ökonomische Einheit auf der Probe. Alternative Familien- und Beziehungsmodelle stellen die Kernfamilie infrage, hier und dort wurden Zugeständnisse erkämpft. Dem Kapitalismus gelingt es allerdings einem Teil der alternativen Beziehungsmodelle die gleichen Aufgaben wie den klassischen Kernfamilien zuzuweisen. So entlasten auch eingetragene Lebenspartnerschaften oder Patchworkfamilien den Staat von der Fürsorgepflicht. Letztlich bleibt das Ausleben von nicht-normativen Familienmodellen also nur eine Andeutung, dass Modelle jenseits der bürgerlichen Kleinfamilie möglich sind. Sie alleine reichen nicht, um die Familie abzuschaffen, sonst hätten die Millionen werktätigen Frauen, alleinerziehende Eltern oder Reproduktionsarbeit für ihre Familie leistende invaliden Väter die Familie schon längst abgeschafft.

Trotzdem ist die Kernfamilie nach wie vor ein Pfeiler des patriarchalen Kapitalismus, auf den er sich in Krisenzeiten wie diesen stützt. Die Isolation und das Herunterfahren gesellschaftlicher Sphären verstärken diesen Effekt noch. Aktuell sind die Errungenschaften queerer und alleinerziehender Menschen, ebenso wie die von Frauen unter Beschuss: zu der angesprochenen Auslagerung der Reproduktionsarbeit in die Familien (ohne staatlichen Ausgleich) kommt die Ausdehnung der Arbeitszeit für viele Sektoren, die aktuell in der Krise gebraucht werden. Diesen Angriffen müssen wir uns entgegen stellen.

Wie wir aus der Krise hervorgehen, das hängt auch von uns ab. Als Revolutionäre Internationalistische Organisation – RIO stellen wir Notfallforderungen auf, die uns helfen können, durch diese Krise zu kommen, und möglichst viele der Angriffe des Kapitals abzuwehren.
Einer dieser Angriffe, aktuell nicht von einer dieser Forderungen abgedeckt, ist eben genau die Bekämpfung dieses Zurückdrängens in die Kernfamilien. Lassen wir uns das nicht bieten.

Deswegen fordern wir (heute noch mehr als sonst):

  • Ein staatliches Pflege- und Erziehungsprogramm mit ausreichend Schutzmaßnahmen für die dort Arbeitenden
  • Vergesellschaftung von Haus- und Sorgearbeit, also Unterbringung und Betreuung für Kinder und zu pflegende Angehörige, Versorgung mit Lebensmitteln, Waschsalons, die offen gehalten werden, … und zwar nicht als bezahlte Dienstleistung, sondern kostenlos für alle.
  • Außerdem müssen wir den Umgang mit der Krise mitbestimmen können. Dazu schlagen wir das Bilden von Betriebskomitees vor, ebenso von Frauenkomitees, denn nach wie vor sind wir es, auf deren Schultern die Hauptlast für die Reproduktion liegt.

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