Trotzki, Gramsci und die kapitalistische Demokratie (Teil I)

30.08.2020, Lesezeit 50 Min.
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In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts dehnte sich die kapitalistische Demokratie, verstanden als politisches Regime und ideologisches Konstrukt, stärker aus als je zuvor. Ausgehend von den Ausarbeitungen der marxistischen Revolutionäre Leo Trotzki und Antonio Gramsci nehmen wir uns in diesem dreiteiligen Artikel vor, die Frage der Revolution in den gesellschaftspolitischen Strukturen „westlichen“ Typs und den bürgerlich-demokratischen Regimen zu beantworten. Teil I: Bürgerliche Demokratie, radikale Demokratie und Arbeiter*innenregierung.

Dieser Artikel erschien zuerst im Januar 2016 im Theoriemagazin Estrategia Internacional Nr. 29 auf Spanisch. Wir veröffentlichen ihn hier zum ersten Mal auf Deutsch in drei Teilen. Teil II erscheint am 6.9.2020, Teil III am 13.9.2020.

In den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts dehnte sich die kapitalistische Demokratie, verstanden als politisches Regime und ideologisches Konstrukt, stärker aus als je zuvor. Damit der Kapitalismus sich erneuern konnte, wurden der Faschismus und der Stalinismus zu tragenden Säulen. Dazu trug der Stalinismus besonders bei, indem er die Vorstellung einer höheren Form der Demokratie im Vergleich zum bürgerlichen Parlamentarismus diskreditierte: die Rätedemokratie, die Arbeiter*innendemokratie.

Derzeit, mehr als fünf Jahre nach Beginn der internationalen kapitalistischen Krise, offenbart sich vor den Augen von Millionen Menschen, wie Regierungen jeglicher Couleur, unabhängig der angenommenen parlamentarischen Formen, die Interessen des Kapitals mit despotischen Mitteln durchsetzen. Die bonapartistischen Formen, die sich hinter den Forderungen nach mehr Sicherheit verhüllen, versuchen genau diesen Widerspruch mit der Einführung von zunehmend autoritären Maßnahmen, je nach dem Grad der Krise in den einzelnen Ländern, auszugleichen. Gleichwohl offenbart sich der Glaube an die bürgerliche Demokratie als Ausdruck von Volkssouveränität für die großen Mehrheiten weiterhin als die höchste Freiheit, die anzustreben möglich ist. Daher der große Vorsprung, den die bürgerliche Hegemonie in unseren zunehmend turbulenten Zeiten immer noch hat.

Diese Kombination von Faktoren kommt am deutlichsten in Europa zum Ausdruck, mit der Krise der traditionellen Parteien und der Entwicklung neuer politischen Phänomene. Auf der einen Seite sehen wir dies mit dem Aufstieg rechtsgerichteter Organisationen wie unter anderen der Front National in Frankreich, der britischen UKIP oder der FPÖ in Österreich; auf der anderen Seite mit der Entstehung „neoreformistischer“ Organisationen wie Syriza in Griechenland oder Podemos im Spanischen Staat. Weitere Phänomene sind der Sieg von Jeremy Corbyn in der internen Abstimmung der britischen Labour Party oder der Aufstieg des Bloco de Esquerda (Linksblock) in Portugal, der – gemeinsam mit der Kommunistischen Partei Portugals – schließlich die Rückkehr der Sozialistischen Partei an die Macht ermöglichte.

In Lateinamerika kommt diese Dynamik allen voran in der Krise der sogenannten „postneoliberalen Regierungen“ zum Ausdruck. Der Chavismus in Venezuela ist am stärksten davon getroffen, aber auch in anderen Ländern im südlichen Südamerika, die sich in den letzten 30 Jahren am meisten gefestigt hatten, wie das chilenische oder brasilianische Regime, ist die Krise unübersehbar. In beiden Ländern regieren breite Koalitionen, in Chile die Nueva Mayoría (Neue Mehrheit) – der sich die Kommunistische Partei Chiles anschloß – und in Brasilien die Arbeiter*innenpartei (PT). In Argentinien wurde der Kirchnerismus bei den letzten Wahlen von der neuen unternehmensnahen Rechten um Mauricio Macri aus dem Amt gedrängt. Auf der gegenüberliegenden Seite hat sich die FIT, eine Front der Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse, bestehend aus der Partei der Sozialistischen Arbeiter*innen (PTS), der Arbeiter*innenpartei (PO) und Sozialistischen Linken (IS) gefestigt und ist zu einem Bezugspunkt für einen Teil der Massen geworden, ganz im Gegenteil zum Großteil der Linken weltweit, die sich den „neoreformistischen“ Varianten anbiedert.

Der Aufstieg dieses „Neoreformismus“ in Europa sowie der Zyklus von „postneoliberalen“ Regierungen in Lateinamerika haben den Theorien von Ernesto Laclau Flügel verliehen, entweder als „radikale pluralistische Demokratie“ oder als „populistische Vernunft“. In beiden Fällen, ausgehend von der Unmöglichkeit der Revolution, dienen Laclaus theoretische Annahmen als Stütze einer (reformistischen) „Strategie“, die die Hegemonie und selbst die bürgerliche Demokratie von ihrem objektiven Unterbau, d.h.  von den ökonomischen Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft, der sozialen Klassen und der Kräfteverhältnissen, trennt, um das Problem auf dem Gebiet des Diskursiven zu verorten.

Im diesem Artikel gehen wir in umgekehrter Weise vor: Wir denken die Revolution in den gesellschaftspolitischen Strukturen „westlichen“1 Typs und den bürgerlich-demokratischen Regimen.

Dies ist eine zentrale strategische Frage im jetzigen Szenario, nach Jahrzehnten der Ausbreitung von Illusionen in die bürgerliche Demokratie. Hierzu werden wir eine Reihe programmatischer, taktischer und strategischer Fragen behandeln und ihre Artikulation im Kampf für die Arbeiter*innenregierung angehen, insbesondere die Rolle der formal-demokratischen Forderungen, oder genauer gesagt, radikal-demokratischen Forderungen wie die verfassungsgebende Versammlung, die Abschaffung des Präsidentenamtes und die Zusammenführung der Legislative und Exekutive in einer einzigen Kammer, die Widerrufbarkeit der Mandate, die Abschaffung der Privilegien für die Beamt*innen, unter anderem.2

Wir werden diese Fragen auf der Grundlage der wichtigsten Arbeiten von Trotzki und Gramsci aufwerfen, in einer Polemik zur mittlerweile klassischen Arbeit von Perry Anderson, Antonio Gramsci: Eine kritische Würdigung, sowie zum kürzlich erschienenen Buch von Peter Thomas, The Gramscian  Moment, das heute zu einer Referenz der Studien über Gramsci geworden ist.

Dafür haben wir die kritische Aneignung der Ideen von Carl von Clausewitz seitens der III. Internationale und insbesondere seitens Trotzkis wieder aufgenommen und weiterentwickelt, welche der*die Leser*in im Artikel „Trotzki und Gramsci: Debatten über Strategie über die Revolution im Westen“3 finden kann. Denn es ist kein Zufall, dass in ihrem Versuch, endlich die Frage der Hegemonie von ihrem Klassencharakter zu entkoppeln, Laclau und Chantal Mouffe, mit Clausewitz zusammenstoßen. So behaupten sie, dass

[…] der politische Kampf am Ende stets ein Nullsummenspiel zwischen Klassen ist. Dies ist der verborgene essentialistische Kern, der im Denken Gramscis immer noch lebendig ist und der dekonstruktivistischen Logik der Hegemonie Schranken setzt. […] Es wäre keine Übertreibung zu sagen, dass die marxistische Konzeption von Politik von Kautsky bis Lenin auf einemImaginareberuhte, das Clausewitz sehr viel zu verdanken hat.4

Wie bereits erwähnt, gehen wir in die entgegengesetzte Richtung von Laclau und Mouffe vor. Jedoch geht es für uns nicht nur darum, „der dekonstruktiven Logik der Hegemonie Schranken“ zu setzen, sondern in vollem Umfang jene materiellen Kräfte, die die bürgerlichen Hegemonie innerhalb der Arbeiter*innenklasse und ihrer potentiellen Verbündeten verkörpern, sowie die strategischen Folgen, die sich daraus ergeben, aufzuzeigen.

TEIL I: Bürgerliche Demokratie, radikale Demokratie und  Arbeiter*innenregierung

In seinem Buch Antonio Gramsci: Eine kritische Würdigung hebt Perry Anderson die tiefgreifenden Kenntnisse Trotzkis hervor: „Sein Wissen über Deutschland, England und Frankreich war jedoch tatsächlich größer als dasjenige Gramscis. Seine Schriften über die drei wichtigsten Gesellschaftsformationen Westeuropas in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen sind den Gefängnisheften entsprechend überlegen“.5  Er fügt allerdings hinzu: „Die Probleme einer differenzierten Strategie für eine sozialistische Revolution in diesen Ländern, die nicht durch die Revolution in Rußland schon festgelegt war, warf er niemals mit der selben Sorge und Klarheit auf wie Gramsci“.6

In vorliegendem Artikel werden wir diese Aussage kritisch überprüfen. Nicht so sehr, weil Trotzki eine „differenzierte Strategie“ zu entwickeln versucht hätte, sondern weil es gerade die Entwicklung von Taktik und Strategie eines der Schlüsselmomente ist, um sich seinen wichtigsten Beiträgen in der Perspektive der Revolution in der „westlichen“ Welt anzunähern, als auch um eine produktive Gegenposition zu Gramsci über dieses Thema zu entwickeln.

Trotzki und Gramsci sind diejenigen gewesen, die die Problematik der westlichen kapitalistischen Demokratien am tiefsten untersuchten.
Sie waren Teil jener Gruppe von Revolutionär*innen der Dritten Internationalen – im Falle Trotzkis als einer der Hauptanführer zusammen mit Lenin –, die sich mit der Problematik der Revolution in Europa konfrontiert sahen, eine Region, in der der Einfluss der bürgerlichen Demokratie und des Parlamentarismus als ideologische Konstrukte in den breiten Massen vorherrschten. Die Arbeiter*innenbewegung war gespalten, und den jungen kommunistischen Parteien standen mächtige reformistische Arbeiter*innenparteien gegenüber, die auch in den Arbeiter*innenorganisationen die Mehrheit inne hatten.

Auf dieser „westlichen“ Bühne stellt sich die Frage, wie man die politischen Ziele der Eroberung der Macht mit den taktischen Schlachten und dem Kampf um die Massen verbindet. Wie könnte man die bürgerliche Hegemonie brechen und die proletarische Hegemonie für die Revolution erobern? Diese wurden Schlüsselfragen in den Debatten der Dritten Internationalen. Dabei wurden sie zur Grundlage bei den Antworten, die sich Trotzki und Gramsci auszuformulieren bemühten.

Taktik und Strategie im „Westen“

Natürlich stellte die Haltung gegenüber soziopolitischen Strukturen der zentralen Länder und den bürgerlich-demokratischen Regimen kein neues Problem für den Marxismus dar. Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatten sich drei große Erklärungsschemata herauskristallisiert.

Auf der einen Seite finden wir jene Position, die die revolutionären Methoden aufgab und dafür die bürgerliche Demokratie als notwendigen Mechanismus zum Voranschreiten des Sozialismus betrachtete. In verschiedenen Varianten geht diese Position von Bernsteins Revisionismus, über den späten Kautsky, bis zu den „Fabiern“ in Großbritannien. Diese Positionen sind selbst heute in verschiedenen Formen und Ausformulierungen anzutreffen, angefangen bei den Volksfronten, über den Eurokommunismus bis zu seinen heutigen Karikaturen, wie dem Neoreformismus à la Syriza.

Auf der anderen Seite finden wir die Ablehnung-Verleugnung der bürgerlichen Demokratie in ihrer „spontaneistischen“  Variante, die vom „revolutionären Syndikalismus“ von Sorel, über Gorter, Pannekoek und den Linksradikalismus der Dritten Internationalen geht, wo wir selbst Gramsci unter der Führung Amadeo Bordigas antreffen. Man kann Spuren davon im „Operaismus“ Trontis, teilweise im Werk Antonio Negris und wenn man es so will, heute – die wie im ersten Fall zu einer Karikatur wurde – in manchen Versionen des Autonomismus ausmachen.

Es ist wichtig zu betonen, dass auf diesen zwei Positionen eine dritte Antwort aufbaut. Damit meinen wir jene Position, die die bürgerliche Demokratie mit Formen von Arbeiter*innendemokratie (Rätedemokratie) zu kombinieren vorschlägt, angefangen bei Vertretern wie Rudolf Hilferding, über Ernest Mandel, bis zum späteren Nicos Poulantzas. Mandel stellte eine linkere Variante dieses Ansatzes auf, der heute mit Theoriker*innen aus dem französischen Trotzkismus wie Antoine Artous eine Vertretung findet.

Die III. Internationale von Lenin und Trotzki versuchte einen vierten Weg angesichts der hohen Komplexität des operativen Feldes im „Westen“ (bürgerliche Hegemonie,  Parlamentarismus, Stärke des Reformismus, usw.). Sie bereichterten den Marxismus mittels kritischer Aneignung der zeitgenössischen Ausarbeitungen des militärstrategischen Denkens – mit dem Ergebnis einer beispiellosen Entwicklung der Taktik und der revolutionären Strategie7; dabei wird die Taktik als die Führung einzelner Schlachten verstanden, während die Strategie die Verknüpfung der Ergebnisse der verschiedenen Taktiken mit dem „Ziel des Krieges“ darstellt, in diesem Falle: die Diktatur des Proletariats.

Daher rührte die Fähigkeit, Verteidigungsformen zu nutzen, die die  III. Internationale entwickelte, um die anfängliche Schwäche der kommunistischen Parteien im „Westen“ umzukehren. Von der Verteidigung als stärkere Form des Kampfes (während die Offensive schwächer ist, da es einfacher ist, eine Position zu halten als eine zu erobern) ausgehend, ging es darum, sich der Defensive zu bedienen mit dem Zweck, Kräfte für die Offensive zu sammeln8.

So wurde der rudimentäre Ansatz ultralinker Tendenzen überwunden, die die Offensive als höchste Form des Kampfes postulierten. Sie gingen soweit zu behaupten, auch Teilkämpfe müsse man mit den Methoden des proletarischen Aufstandes angehen9. Auf der anderen Seite herrschte der Kult der „passiven Verteidigung“ der Sozialdemokratie; Clausewitz betrachtete diese aus strategischer Perspektive10 als absurd.

Diese Beziehung, defensiv zu kämpfen (dabei die Lücken der bürgerlichen Demokratie ausnutzend), um Kräfte zu sammeln (Aufbau von revolutionären Parteien) für die Offensive (Aufstand und Bürger*innenkrieg für die Machtübernahme), kann in jeder der unterschiedlichen Ausarbeitungen der Dritten Internationalen beobachtet werden. Ein sehr bedeutsames Beispiel ist die Teilnahme an Wahlen und im Parlament (Institution der bürgerlichen Hegemonie par excellence), um zur Entwicklung des außerparlamentarischen Kampfes und der „revolutionären Agitation von der Parlamentstribüne, der Entlarvung der Gegner, dem geistigen Zusammenschluß der Massen“11 beizutragen. D.h., Institutionen der bürgerlichen Hegemonie ausnutzen, um sie zu durchbohren, um die Bedingungen ihrer Niederlage vorzubereiten.

Das gleiche gilt dafür, jene „Hochburgen, Basen, Bollwerke proletarischer Demokratie“ in Trotzkis, oder „Gräben und Bunker“ in Gramscis Worten, die die Arbeiter*innenklasse im Laufe ihrer Kämpfe innerhalb der bürgerlichen Demokratie errichtete, sie ausnutzte und zugleich bekämpfte, den Händen der Agent*innen der Bourgeoisie (Arbeiter*innenbürokratie) zu entreißen. Zum Beispiel die Intervention in reformistischen Gewerkschaften, um gegen die Spaltung der Arbeiter*innenbewegung, die die Gewerkschaftsbürokratie aufzwingt, und gegen die korporatistische Ideologie vorzugehen, die die Arbeiter*innenbewegung von der politischen Arbeit zu entfremden sucht.12

Die Taktik der Arbeiter*inneneinheitsfront, die im Dritten Kongress der Kommunistischen Internationalen aufgestellt wurde, ist der umfassendste Ausdruck dieser Logik. Sie hat eine taktische Ebene, eine des Manövers sowie eine strategische. Auf der einen Seite bedeutet sie, bestimmte Vereinbarungen – die das Ergebnis aus einem gegebenen Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen Tendenzen sind – mit den Reformist*innen bzw. „Zentrist*innen“ als punktuelle Verbündete zu treffen (Manöveraspekt), um die proletarischen Reihen zusammenzuschweißen für gemeinsame Teilkämpfe (taktischer, defensiver oder offensiver Aspekt). Und auf der anderen Seite, als Hauptziel die Ausdehnug des Einflusses der revolutionären Parteien als Ergebnis der gemeinsamen Erfahrung (oder der Ablehnung dieser durch die offiziellen Führungen) mit dem Ziel, die Mehrheit in der Arbeiter*innenklasse zu erobern, um sie für den Kampf um die Macht zu gewinnen (strategischer, offensiver Aspekt)13.

Es handelt sich jedoch nicht um ein begrenztes Schema für die Verwendung der Verteidigung zum Sammeln von Kräften für die revolutionäre Offensive. Wenn dem so wäre, würde die Verbindung zwischen Defensive und Offensive sich noch auf der Ebene des von Rosa Luxemburg bezeichneten „latenten und theoretischen Bewusstseins“ verorten und dies könnte eine zentristische „Strategie“ umfassen, die zwischen Reform und Revolution pendelt14.

Die Verteidigung: Ein Schild, gebildet durch geschickte Streiche

Clausewitz sagte: “Die verteidigende Form des Kriegführens ist also kein unmittelbares Schild, sondern ein Schild, gebildet durch geschickte Streiche.”15 Daraus folgert er: „Gewöhnlich gelten die Verteidigungen, welche sich der aktiven oder gar der offensiven Mittel am meisten bedienen, für die besseren; allein teils hängt dies sehr von der Beschaffenheit des Terrains, der der Streitkräfte und selbst vom Talent des Feldherrn ab […]“16. Was ist aber genau mit diesen besonders geschickten Streichen gemeint, diese offensiven Mittel der Defensive in der revolutionären Strategie, und was ist ihre Bedeutung in den „westlichen Ländern“?

Während der Russischen Revolution hatten die Bolschewiki die versöhnlerischen Mehrheitsführungen der Massenbewegung (Menschewiki und Sozialrevolutionäre) aus der Defensive heraus aufgefordert, mit den kapitalistischen Ministern und den imperialistischen Mächten zu brechen und die Macht zu ergreifen. Revolutionär*innen würden sich nicht an einer solchen Regierung beteiligen, jedoch würden sie mit friedlichen Mitteln durch die Eroberung der Mehrheit in den Sowjets um die Macht kämpfen17. Parallel dazu behielten sie die radikaldemokratische Losung nach einer verfassungsgebenden Versammlung bei. Gleichzeitig riefen sie, ohne die Regierung Kerenski politisch zu unterstützen, dazu auf, den Kornilow-Putsch zu bekämpfen, indem sie die Arbeiter*innen zur Bewaffnung aufriefen.

Weder Lenin noch Trotzki als Anfüher der Bolschewiki glaubten an eine demokratische Zwischenetappe, weder unter Führung der Versöhnler*innen noch unter einer verfassungsgebenden Versammlung. Jedoch wäre die Arbeiter*innenklasse im Falle der Erfüllung einer der beiden Varianten besser dazu in der Lage, um die Macht zu kämpfen. Und sollte dies nicht durchführbar sein, was am wahrscheinlichsten war, dann würde dies dazu dienen, die Massen vom Einfluss der versöhnlichen Führungen zu befreien.

Das Vorgehen der Bolschewiki während der Revolution von 1917 war eine wahrhaftige Schule, wie man aus der Defensive (in der Minderheit) heraus kämpft, wie „geschickte Streiche“, d.h. die Mittel der offensiven Verteidigung, multipliziert werden. Im Falle Russlands – ein Land, das auf keine gefestigten bürgerlich-parlamentarischen Institutionen zählen konnte, und in dem die Macht in den Händen der Sowjets lag – wurden jene „geschickten Streiche“ tödlich. So hatten die Versöhnler*innen, die über eine Mehrheit in den Sowjets verfügten, keine Ausrede.

In den „westlichen Ländern“ können sich die versöhnlerischen Führungen auf ihre „Tugend“ verlassen, sich hinter den Schutzschild der Institutionen der bürgerlichen Demokratie zu stellen, angefangen beim Parlamentarismus, bis hin zur Gewaltenteilung, der Justiz usw.
und so sich selbst erhalten und dabei die Illusionen in die kapitalistische Demokratie aufrechterhalten. Wie Trotzki in Bezug auf die Situation in Spanien Mitte 1931 nach den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung hinwies:

Gerade in dieser Richtung müssen die Kommunisten die Gedanken der Arbeiter richten: «Stellt Forderungen an die Regierung! Dort sitzen ja Eure Führer!» Die Sozialisten werden sich gegenüber den Arbeiter-Deputationen darauf berufen,dass sie nicht die Mehrheit haben. Die Antwort ist klar. Bei einem wirklich demokratischen Wahlrecht und beim Bruch der Koalition mit der Bourgeoisie ist die Mehrheit gesichert. Aber das eben wollen die Sozialisten nicht.Ihre Stellung bringt sie in Widerspruch zu den Losungen einer entschiedenen Demokratie.18

In den auf dem Parteitag von Lyon vorstellten Thesen von Lyon, ein Schlüsseldokument in seinem reifen Denken, drückt Gramsci eine analoge Sorge aus. 1926 geschrieben, stellten sie das Werkzeug dar, mit dem er die ultralinke Tendenz von Amadeo Bordiga19 bekämpfen würde. Sie gingen von der Unmöglichkeit einer demokratischen „Zwischen“revolution angesichts des Aufstiegs des Faschismus aus. Dagegen sah er die sozialistische Revolution als nächstes Ziel an. Darin stimmt er mit Trotzki überein, der das Theorie-Programm der Permanenten Revolution für Russland vertrat, die er zwischen 1929 und 1930 verallgemeinerte20.

Wie Trotzki misst Gramsci dem Kampf gegen die Versuche, eine „‚reformistische‘ Lösung für das Problem des Staates (Linksregierung)“ zu finden21, besondere Bedeutung zu. Um die Problematik anzugehen, nimmt Gramsci die Taktiken der Bolschewiki wieder auf:

Die Präsentation und Agitation dieser Zwischenlösungen ist die spezifische Form des Kampfes, die man anwenden muss, um gegen die selbsternannten demokratischen Parteien vorzugehen, die in Wirklichkeit eine der festesten Säulen der wankenden kapitalistischen Ordnung sind, und als solche sich die Macht abwechselnd mit reaktionären Gruppen teilen, wenn diese Parteien mit bedeutenden Schichten der arbeitenden Bevölkerung verbunden sind (wie in Italien in den ersten Monaten der Matteotti-Krise22), und wenn unmittelbare und ernste reaktionäre Gefahr droht (Taktik, die von den Bolschewiki während des Kornilow-Putsches gegenüber Kerenski angewendet wurde). In diesen Fällen wird die kommunistische Partei die besten Ergebnisse mit den gleichen Losungen erzielen, die die sogenannten demokratischen Parteien annehmen würden, wenn sie einen konsequenten Kampf für Demokratie führen würden, mit allen Mitteln, die die Situation erfordert. In Anbetracht der Tatsachen entlarven sich diese Parteien vor den Massen und verlieren ihren Einfluss auf sie.23

Wir können somit sagen, dass sowohl für Gramsci als auch für Trotzki – solange der Sturz des bürgerlichen Parlamentarismus durch die Diktatur des Proletariats nicht unmittelbar an der Tagesordnung war – die Anwendung von solchen offensiven Mitteln (geschickte Streiche), um die bürgerliche Hegemonie zu durchbohren, als Teil des defensiven Kampfes von besonderer Bedeutung waren. Damit sollten die „demokratischen“ Parteien, verstanden als  Agenten der „‚reformistischen‘ Lösung für das Problem des Staates“, bekämpft werden.

Die bürgerliche Demokratie und das radikaldemokratische Programm

In den erwähnten Thesen von Lyon von 1926 misst Gramsci den radikaldemokratischen Losungen viel Bedeutung zu. Gegen die von Bordiga angeführte ultralinke Tendenz polemisierend, schrieb er: „Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass  unmittelbare Forderungen und Teilaktionen lediglich einen wirtschaftlichen Charakter haben können“24. In den Thesen nahm die Losung nach der Verfassunggebenden Versammlung in Italien eine besondere Rolle ein. Wir werden auf diesen Punkt später zurückkommen25.

Von diesem Standpunkt aus übt Gramsci 1926 eine scharfe Polemik gegenüber der Zeitung Il Mondo, die eine Reihe von Artikeln gegen die UdSSR unter dem Titel „Auf der Suche nach dem Kommunismus“ veröffentlicht hatte. Gramsci antwortete darauf, wir „könnten eine ganze Reihe von Artikeln unter dem Titel »Auf der Suche nach der Demokratie«, schreiben, und beweisen, dass es die Demokratie nie gegeben hat. Und in der Tat, wenn Demokratie bedeutete, wie es nichts anders sein kann als die Herrschaft der Volksmassen ausgedrückt durch ein aus allgemeinen Wahlen hervorgehenden Parlament, dann stellt sich die Frage, in welchem Land jemals eine solche Regierung existiert hat, die solche Kriterien erfüllt?“ Und weiter: „Selbst in England, Heimat und Wiege des parlamentarischen Regimes und der Demokratie, wird das regierende Parlament durch das Oberhaus und die Monarchie flankiert. Die Kräfte der Demokratie sind in Wirklichkeit null. […] Existiert etwa die Demokratie in Frankreich? Neben dem Parlament gibt es in Frankreich den Senat, der nicht durch die allgemeine Wahlen gewählt wird, sondern durch zwei Ebenen von Wählern, die ihrerseits nur zum Teil ein Ausdruck des allgemeinen Wahlrechts darstellen; und es besteht auch die Institution des Präsidenten der Republik“26. Gramsci schlussfolgert, dass diese Institutionen genau deshalb existieren, „um die möglichen Auswüchse des in allgemeinen Wahlen gewählten Parlaments zu moderieren“27.

Etwas früher und für den selben Zeitraum geht Trotzki eingehend auf diese Art Kritik ein, der er ein Großteil seines Buches Wohin treibt England? widmet. Über dieses Buch behauptete Isaac Deutscher, trotz unterschiedlicher Meinung, es sei „das wirksamste oder vielmehr das einzige wirksame Plädoyer für die proletarische Revolution und den Kommunismus in England, das je gehalten wurde“28.

Im selben Tenor wie Gramsci stellte Trotzki die rhetorische Frage: „Was ist politische Demokratie, und wo beginnt sie? (…)  Darf man einen Staat demokratisch nennen, der eine Monarchie und ein aristokratisches Parlament hat? Ist es zulässig, die revolutionäre Methoden zur Vernichtung solcher Institutionen anzuwenden? Darauf wird man vielleicht antworten, das englische Unterhaus besitze Macht genug, um die königliche Macht und das Haus der Lords zu beseitigen, falls es ihm im Interesse der Arbeiterklasse notwendig erscheint; wäre dann der friedliche Weg zur Vervollkommnung des demokratischen Systems in ihrem Lande frei? Nehmen wir einen Augenblick an, es verhielte sich so. Aber wie steht es mit dem Unterhaus selbst? Kann denn diese Institution, auch nur rein formal als demokratisch bezeichnet werden? Nicht im Geringsten. Beträchtliche Bevölkerungsgruppen sind praktisch des Wahlrechtes beraubt. Die Frauen sind nur vom 30. Lebensjahr an stimmberechtigt, die Männer nur vom 21. an. Die Herabsetzung des Wahlalters ist vom Standpunkte der Arbeiterklasse aus, in der man schon sehr jung arbeiten muss, eine elementare Forderung der Demokratie. Außerdem sind die Wahlkreise in England so perfide eingeteilt, dass auf einen Arbeitervertreter zweimal soviel Stimmen entfallen, als auf einen konservativen Abgeordneten […]. So stellt sich das heutige englische Parlament als schreiender Hohn des Volkswillens dar, selbst dann, wenn man diesen Willen vom bürgerlich-demokratischen Standpunkt aus betrachtet. Hat die Arbeiterklasse das Recht – wir sprechen immer vom Boden der demokratischen Prinzipien aus – herrisch zu fordern, dass das jetzige privilegierte und faktisch usurpatorische Parlament sofort ein wirklich demokratisches Wahlrecht proklamiert? Wenn das Parlament den Antrag verwirft […], wird dann das Proletariat das „Recht“ haben, durch einen Generalstreik die Verwirklichung des demokratischen Wahlrechtes seitens des usurpatorischen Parlaments erzwingen zu dürfen?“29

Auf der Basis solcher Charakterisierungen, in denen Gramsci und Trotzki übereinstimmten, vertiefte Trotzki die Erkenntnisse der III. Internationale bezüglich des programmatischen Werts und der strategischen Artikulation der radikaldemokratischen Losungen, sowohl im Falle Großbritanniens, als auch Frankreichs und Deutschlands.

Die Kommunistische Internationale hatte sich Lenins Thesen über die bürgerliche Demokratie und die proletarische Diktatur zu eigen gemacht. Darin wurden die Unterschiede zwischen der bürgerlichen und der sowjetischen Demokratie betont.

Erstere hatte, mittels allgemeinen Wahlen alle paar Jahre, die als „Wille des Volkes“ ausgegeben werden, als primäres Ziel, die Massen mittels verschiedener Mechanismen (formelle Annerkennung der politischen Freiheiten, Trennung der Staatsgewalten in Legislative, Judikative und Exekutive, Unmöglichkeit der Abwählbarkeit von Mandaten, Nicht-Wahl der Judikative, Privilegien von Beamten, usw.) von der Regierung des Staates zu trennen.

Zweitere, die sowjetische Demokratie, begründete sich in den entgegengesetzten Prinzipien, nämlich die größtmögliche Partizipation der Massen in den Staat durch zahlreiche Mechanismen, viele davon bereits während der Pariser Kommune von 1871 implementiert (materielle Garantie politischer Rechte, Zusammenführung der Legislative und Judikative, Widerrufbarkeit der Mandate, Ende der Privilegien von Beamten, Wahl und Teilnahme des Volkes in den Gerichten, usw.). Somit wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass die sowjetische Republik viele der republikanischen Prinzipien, die die Bourgeoisie lediglich proklamierte, umsetzen konnte.

Trotzkis Neuerung ist die Artikulation dieser Themen als radikaldemokratische Losungen in einem Übergangsprogramm im Kampf (unter den Bedingungen der bürgerlichen Demokratie) für eine Arbeiter*innenregierung (Diktatur des Proletariats). Die anschaulichste Formulierung findet man offensichtlich im Artikel Ein Aktionsprogramm für Frankreich, geschrieben 1934 als Vorschlag für die kurz zuvor aufgeworfene Arbeiter*inneneinheitsfront zwischen der Kommunistischen Partei und der SFIO (Sozialisten).

Trotzkis Dialog lautete: „Wir sind feste Partisanen eines Arbeiter- und Bauernstaates, der den Ausbeutern die Macht wegnehmen wird. Es ist unser erstes Ziel, die Mehrheit der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten für dieses Programm zu gewinnen. Solange die Mehrheit der Arbeiterklasse auf der Grundlage der bürgerlichen Demokratie verbleibt, sind wir bereit, diese mit all unseren Mitteln gegen die heftigen Angriffe der bonapartistischen und faschistischen Bourgeoisie zu verteidigen. Dennoch verlangen wir von unseren Klassenbrüdern, die dem ‚demokratischen‘ Sozialismus anhängen, dass sie ihren Ideen treu bleiben, dass sie ihre Eingebung nicht aus den Ideen und Methoden der Dritten Republik ziehen, sondern aus der Verfassung von 1793.“30

Man beachte, dass der Gründer der Roten Armee von der Feststellung der unterschiedlichen Ziele zwischen Kommunist*innen und sozialdemokratischen Arbeiter*innen ausgeht, um anschließend darauf hinzuweisen, dass Revolutionär*innen bereit sind, ein Übergangsprogramm aufzustellen, das die Verteidigung der bürgerlichen Demokratie gegen die Angriffe der Bourgeoisie beinhaltet, mit dem Ziel eine Arbeiter*inneneinheitsfront aufzubauen. Anschließend stellt er die revolutionären Methoden, um diese voranzutreiben, den parlamentarischen Methoden entgegen, und er setzt seinen Dialog fort, indem er sich dabei nicht auf die Pariser Kommune, sondern auf den Jakobinischen Konvent von 1793 bezieht.31

Anschließend transkribiert Trotzki mit leichten Änderungen (Anpassungen) das Programm der Pariser Kommune, so wie es Marx in den Manifesten der Internationale Arbeiterassoziation32  synthetisiert hatte:

Nieder mit dem Senat, der durch beschränktes Wahlrecht zustande kam und der die Macht des allgemeinen Wahlrechts zu einer bloßen Illusion macht! Nieder mit der Präsidentenschaft der Republik, die als Versteck für die konzentrierten Kräfte von Militarismus und Reaktion dient! Eine einzige Versammlung muss die legislative und die exekutive Gewalt verbinden. Die Mitglieder sollen für zwei Jahre durch allgemeines Stimmrecht ab 18 Jahren, ohne Diskriminierung von Geschlecht oder Nationalität, gewählt werden. Die Abgeordneten sollen auf der Basis örtlicher Versammlungen gewählt werden, jederzeit durch ihre Wähler abberufbar sein und das Gehalt eines Facharbeiters erhalten.33

Trotzki bekräftigt die Aussage, indem er darauf hinweist, dass „eine freigiebigere Demokratie den Kampf für die Arbeitermacht erleichtern“ würde. Dabei nimmt er sogar auf die Taktik der „Arbeiter*innenregierung“ in seiner ursprünglichen Formulierung in der ersten Ettape der Russischen Revolution vorweg, indem er darauf hinweist, dass wenn die SFIO „im Laufe des unausweichlichen Kampfes gegen den Feind das Vertrauen der Mehrheit gewinnen sollte, sind wir und werden wir immer bereit sind, eine SFIO-Regierung gegen die Bourgeoisie zu verteidigen.“34

Trotzki: Radikale Demokratie, Einheitsfront und Räte

Angesichts dieser von Trotzki aufgestellten Überlegungen wundert es ein wenig, dass Trotzki von Autoren wie Rolando Astarita kritisiert wird, weil er angeblich den Einfluss der bürgerlich-demokratischen Ideologie auf das Bewusstsein der Arbeiter*innen unterschätze. In seiner Kritik am Übergangsprogramm – eine Kritik des gesamten Werkes von Trotzki, die wir im vorliegendem Artikel nicht vertiefen werden – behauptet Astarita: „Für Trotzki scheint sich das Bewusstsein der Arbeiter*innen in einer ‚Glocke ideologischer Leere‘ zu manifestieren, geeignet um Losungen zu empfangen, ganz so, als ob es sich um eine Art ‚Tabula rasa‘ handeln würde, so wie es der raueste Empirismus postulierte. Außerdem ist es symptomatisch, wie wenig Aufmerksamkeit er den Auswirkungen der Erfahrungen in der UdSSR und dem Nationalsozialismus auf das Bewusstsein schenkt, die den apologetischen Diskurs der kapitalistischen Demokratie verstärkten.“35

Wir wir bereits gesehen haben, misst Trotzki im Gegenteil den ideologischen Faktoren besondere Bedeutung zu. Wie Anderson richtigerweise sagt, ist „die allgemeine Form des repräsentativen Staates -die bürgerliche Demokratie- selbst die ideologische Hauptwaffe des westlichen Kapitalismus […]“36. Er schenkt den Auswirkungen des Voranschreiten des Faschismus für das Bewusstsein der Arbeiter*innen nicht nur „Aufmerksamkeit“, wie wir für Frankreich bereits gesehen haben, sondern führt auch eine scharfe Polemik gegen diejenigen, die dies relativieren wollen. So antwortet er für Deutschland in den 30er Jahren auf die Frage, ob es zuträfe, dass Hitler die „demokratischen Vorurteile“ zerstört hätte: „Theoretisch ist der Sieg des Faschismus zweifelsohne ein Beweis dafür, dass die Demokratie sich erschöpft hat; aber praktisch konserviert das faschistische Regime die demokratischen Vorurteile, erweckt sie wieder, impft sie der Jugend ein und ist sogar imstande, ihnen für kurze Zeit größere Stärke zu verleihen. Darin besteht auch eine der bedeutendsten Erscheinungen der reaktionären geschichtlichen Rolle des Faschismus.“37

Dasselbe können wir von den ideologischen Auswirkungen des Stalinismus sagen. Trotzki weist nicht nur auf diese hin, indem er das radikaldemokratische Programm entwirft, sondern nahm die Verteidigung einer möglichen reformistischen Arbeiter*innenregierung gegenüber den Angriffen der Bourgeoisie vorweg, ganz im Gegensatz zum unheilvollen Erbe der stalinistischen Politik der „Dritten Periode“38. Und sollten noch Zweifel bestehen, betont er im selben Aktionsprogramm für Frankreich folgendes: „Wir wollen unser Ziel nicht durch bewaffnete Konflikte zwischen den verschiedenen Arbeitergruppen erreichen, sondern durch wahre Arbeiterdemokratie, durch Propaganda und loyale Kritik, durch freiwillige Umgruppierung der großen Mehrheit des Proletariats unter die Fahne des wahren Kommunismus.“39

Insbesondere was das Übergangsprogramm angeht, welches im Zentrum von Astaritas Kritik steht, schreibt dieser, dass „die demokratische Illusionen im Übergangsprogramm kaum behandelt werden; für die unterentwickelten Ländern werden sie kaum erwähnt…“40. Da Europa im Jahr 1938 angeführt vom Faschismus direkt in den Krieg voranschritt, und der Militarismus die Bühne beherrschte, konnte das radikaldemokratische Programm in dieser Situation dem schwer etwas entgegensetzen. Im Übergangsprogramm betont Trotzki jedoch:

Vom gleichen Gesichtspunkt aus muß die Forderung nach dem Wahlrecht für Männer und Frauen ab 18 Jahren vorgebracht werden. Wen man morgen dazu ruft, für das „Vaterland“ zu sterben, der muß das Recht haben, heute seine Stimme hören zu lassen. Der Kampf gegen den Krieg muß vor allem mit der revolutionären Mobilisierung der Jugend beginnen.41

Gleichzeitig schlägt er im Übergangsprogramm für die Vereinigten Staaten von Amerika, ein etwas entfernter vom operativen Feld gelegenes Land, folgendes vor: „In diesem Sinne unterstützt unsere amerikanische Sektion zum Beispiel kritisch den Vorschlag, einen Volksentscheid über die Frage der Kriegserklärung durchzuführen.42 […] Aber welche Illusionen auch die Massen bezüglich des Volksentscheids haben mögen, diese Forderung spiegelt das Mißtrauen der Arbeiter und der Bauern gegenüber der Regierung und dem Parlament wider. Ohne die Illusionen zu unterstützen, aber auch ohne sie links liegen zu lassen, muß man mit allen Kräften das fortschreitende Mißtrauen der Unterdrückten gegen die Unterdrücker stärken.“43

Diese Elemente, denen Astarita zu wenig Wichtigkeit gibt, drücken die Kontinuität derselben Logik aus, die Trotzki für Frankreich anwendete, jedoch auf die Bedingungen des drohenden Krieges eingegrenzt44. Man könnte diese Beispiele verzehnfachen. Die Aussage, Trotzki – jenseits der gewiss vorhandenen ökonomistischen Karikaturen seines Werkes – verstünde das Bewusstsein der Arbeiter*innen als eine „Glocke der Leere“, ist so schwer haltbar. Astaritas Fehler besteht darin, die Frage der Ideologie und des Bewusstseins der Massen so anzugehen, als entwickelten sie sich im luftleeren Raum, ohne dem Rechnung zu tragen, dass sie sich in der Erfahrung entwickeln. Ohne dies ist es unmöglich, die strategische Artikulation zu verstehen, die Trotzki zwischen Bewusstsein und Erfahrung macht.

Dies zeigt sich eindeutig in den Jahren 1934-1935 in Frankreich. Während Trotzki die Notwendigkeit jener radikaldemokratischen Losungen und einen Dialog zum Aufbau der Einheitsfront postulierte, gab die stalinistische Führung der PCF, als Überbleibsel der „Dritten Periode“, die Losung „Sowjets überall!“ vor. Trotzki kritisierte dies scharf. Verneinte er dadurch den Kampf um die Sowjets und somit die Diktatur des Proletariats? Offensichtlich nicht.

Seine strategische Logik war so einfach wie präzise. Der Kampf um die Errichtung von Räteorganen ist fundamental für die Revolution, verstanden als Organe des Aufstandes und als Grundgerüst der Dikatur des Proletariats. Was sind jedoch Sowjets? Einheitsfrontorganisationen der Massen. Welche war also die Bedingung, um die Einheitsfront zu gründen? Die Aktionseinheit mit der Mehrheit der Arbeiter*innen, die Vertrauen in die bürgerliche Demokratie hatten, und sie angesichts des Voranschreitens des Faschismus verteidigen wollten. Was schlägt ihnen Trotzki vor? Die bürgerliche Demokratie gegenüber den Angriffen der selben Bourgeoisie zu verteidigen, jedoch nicht mit den parlamentarischen Methoden, sondern mit dem Methoden des Klassenkampfes, nicht unter den Fahnen des gescheiterten Regimes der Dritten Republik, sondern unter den Fahnen der radikalen Demokratie.

Strategisch gesehen lag der Schlüssel darin, eine Brücke zwischen dem reformistischen Bewusstsein der proletarischen Arbeiter*innenmassen und der Vorbereitung der Bedingungen für die Offensive (dem Aufstand) zu schlagen. Nicht nur, weil dies das Voranschreiten der Arbeiter*inneneinheitsfront zum Kampf gegen die Bourgeoisie ermöglichte (taktischer Aspekt), sondern auch weil die gemeinsamen Aktion im Klassenkampf den Revolutionär*innen die Möglichkeit gab, die Mehrheit für den „integralen Kommunismus“ zu gewinnen (strategischer Aspekt).

Gramsci und die strategische Artikulation der radikaldemokratischen Losungen

Wie wir bereits erwähnt haben, war die Frage der Entwicklung eines radikaldemokratischen Programms ein Schlüsselpunkt in Gramscis Kampf gegen die ultralinken Tendenzen im italienischen Kommunismus. Insgesamt hatte die Artikulation zwischen Ersterem und dem Übergangsprogramm als Ganzes, die Gramsci vorschlug, viele Ähnlichkeiten mit dem, was wir bereits bei Trotzki gesehen haben.

Während Gramsci auf die Bedeutung der Verwendung von Losungen der radikalen Demokratie hinwies, unterstrich der italienische Revolutionär die Notwendigkeit des Kampfes gegen die Illusionen in die parlamentarischen Methoden. „Das Ziel, das die Kommunistische Partei sich setzt“, sagt Gramsci, wird sein, jede Losung, die sie auf diesem [radikaldemokratischen] Felde aufruft, mit den allgemeinen Leitlinien ihres Aktionsfeldes zu verbinden: insbesondere mit der praktischen Demonstration der Unfähigkeit des durch den Faschismus etablierten Regimes, radikale Einschränkungen und Veränderungen im ‚liberalen‘ und ‚demokratischen‘ Sinn zu erfahren, ohne dabei einen Massenkampf anzustoßen, der unweigerlich zu einem Bürgerkrieg führen muss“45.

Genauso setzte er den Schwerpunkt auf der Notwendigkeit, jene Losungen mit einem ökonomischen Charakter mit den politischen Losungen zu verbinden. „Dieser Nachweis [von der Unvermeidlichkeit des Bürgerkriegs] wird sich den Massen aufdrängen, indem wir die partiellen Forderungen mit einem politischen Charakter mit den Forderungen mit wirtschaftlichen Charakter verbinden, so werden wir es schaffen, die revolutionär-demokratischen Bewegungen in revolutionär-sozialistische Bewegungen der Arbeiter*innen zu verwandeln“.46 Daher die Bedeutung der Verbindung des Kampfes gegen die Monarchie mit dem Angriff auf die strukturellen Säulen des italienischen Kapitalismus: „Die anti-monarchistische Mobilisierung der Massen der italienischen Bevölkerung ist eines der Ziele, die von der Kommunistischen Partei vorgeschlagen werden sollte. […] Aber seine Realisierung sollte immer parallel zu der Bewegung und des Kampfes gegen den anderen Säulen des faschistischen Regimes, gegen die industrielle Plutokratie und Grundbesitzer erfolgen“.47

In all diesen Punkten wird die Ähnlichkeit mit den bereits behandelten Vorschlägen von Trotzki sowie mit einigen der Punkte deutlich, die in der Theorie und dem Programm der permanenten Revolution systematisiert wurden. Im Gegensatz zu Trotzki hat Gramsci das radikaldemokratische Programm nicht weiter entwickelt, jedoch hat er der Losung nach der verfassungsgebenden Versammlung großes Gewicht zugemessen. Gramsci glaubte, dass die Losung der verfassungsgebenden Versammlung, die die ultralinken Sektoren ablehnten, eine Schlüsselfunktion in der Isolierung der Arbeiter*innenbewegung gehabt hatte, was dem Faschismus erlaubte, Massensektoren für sich zu gewinnen. Für ihn war dies wahrscheinlich der grundlegende Fehler des Kommunismus in der präfaschistischen Periode, und in der Tat war es kein geringes Problem, um die Hegemonie des Proletariats über die italienischen Bauern und insbesondere denen des Mezzogiorno [Süditalien, A.d.Ü.] zu erlangen.

In den Thesen von Lyon postulierte Gramsci folgende Formulierung der verfassungsgebenden Versammlung: „In der anti-monarchistischen Agitation wird das Problem der Form des Staates von der Kommunistischen Partei außerdem in enger Verbindung mit der Frage nach dem Klasseninhalt gestellt, dem die Kommunist*innen dem Staat verleihen. In der jüngsten Vergangenheit (Juni 1925) gelang es der Partei, diese Probleme zu lösen, indem sie ihre politischen Maßnahmen mit den Losungen verband: ‚Republikanische Versammlung auf der Grundlage der Arbeiter- und Bauernräte; Arbeiterkontrolle über die Industrie; Land den Bauern’“.48

In der Frage der strategischen Verbindung zwischen verfassungsgebender Versammlung und der Diktatur des Proletariats ist ein grundlegender Unterschied zwischen Trotzki und Gramsci entstanden. In der Tat ist es möglich, eine implizite Debatte zwischen beiden Revolutionären zu rekonstruieren. Trotzki befasste sich mit der Frage der verfassungsgebenden Versammlung in Italien im Mai 1930 in einem Brief an Pietro Tresso, Feroci und Santini, die aus der KPI vertrieben worden waren, nachdem sie ihre Solidarität mit der Linken Opposition erklärt hatten.49 Damals formulierte Trotzki (mit den entsprechenden Einschränkungen, da er die Konjunktur in Italien nicht ausreichend verfolgte) eine Kritik strategischen Charakters an der Losung „Republikanische Versammlung auf der Grundlage der Arbeiter- und Bauernausschüsse“.

Trotzki sagt in Bezug auf diese Formulierung: „Ich möchte euch sagen, warum ich dies für eine falsche oder zumindest nicht eindeutige politische Losung halte. Die ‚republikanische Versammlung‘ ist offensichtlich eine Institution des bürgerlichen Staates. Was aber sind die ‚Arbeiter- und Bauernausschüsse‘? Es ist offensichtlich, dass sie Verwandte der Arbeiter- und Bäuernräte sind. Wenn ja, dann muss dies gesagt werden. Denn die Klassenorganisationen der Arbeiter und armen Bauern, ob Räte oder Ausschüsse genannt, stellen stets Kampforganisationen gegen den bürgerlichen Staat dar, dann werden sie Organe des Aufstands und schließlich, nach dem Sieg, werden sie zu Organen der Diktatur des Proletariats. Wenn dies so ist, wie ist es möglich, dass eine republikanische Versammlung – oberstes Organ des bürgerlichen Staates – sich auf Organisationen des proletarischen Staates stützt?“50

So greift Trotzki wieder dieselbe strategische Artikulation auf, die er für Frankreich nutzte. Die Aufstellung des radikaldemokratischen Programms ist kohärent mit den revolutionären Zielen, solange sie die Einheitsfront und die Organe sowjetischen Typs „im Kampf gegen den bürgerlichen Staat“ entwickelt. Diesbezüglich erinnert Trotzki sie: „Im Jahr 1917, vor dem Oktober, wo sich Sinowjew und Kamenew gegen den Aufstand stellten, sprachen sie sich dafür aus, darauf zu warten, bis die verfassungsgebende Versammlung stattfindet, um einen ‚kombinierten Staat‘ durch die Zusammenführung der verfassungsgebenden Versammlung mit den Räten der Arbeiter und Bauern zu schaffen. 1919 wurden wir Zeugen, wie Hilferding den Vorschlag machte, die Räte in die Weimarer Verfassung51 aufzunehmen. Hilferding nannte dies, wie Sinowjew und Kamenew, den ‚kombinierten Staat'“52.

Es handelt sich dabei um ein Kernproblem der Strategie. Das radikaldemokratische Programm ist, wie bereits erwähnt, ein Teil jener „geschickten Streiche“, ein offensives Mittel also, mit dem Revolutionär*innen in der Defensive kämpfen, um Kräfte zu sammeln, um in die Offensive zu gehen. Wenn es im entscheidenden Moment versagt, von der Defensive zur Offensive überzugehen, wird die Verteidigung zu ihrem Gegenteil: Brücken werden dann zu Barrieren. Mit Bezug auf Sinowjew und Kamenew im Oktober 1917 sagt Trotzki: „Als Kleinbürger neueren Typs wollte er, genau in dem Moment, als eine abrupte Wendung der Geschichte eintrat, eine dritte Art von Staat durch die Hochzeit der Diktatur des Proletariats mit der Diktatur der Bourgeoisie unter dem Vorzeichen der Verfassung ‚kombinieren’“53.

Sobald die Rätedemokratie, unendlich demokratischer als die radikalste bürgerliche Demokratie, Ausdruck der Macht der Arbeiter*innen und Bäuer*innen geworden ist, kann die radikale Demokratie Zuflucht der Konterrevolution werden. In der Tat war es so in Deutschland mit der Weimarer Verfassung, die in der Hitze der Niederlage des Aufstands von 1919 entstand. Auch in Russland 1917, wo die verfassungsgebende Versammlung, deren Einberufung von den Versöhnler*innen verweigert wurde, bis das Proletariat in die Offensive überging, wurde im Oktober 1917 vor dem Bruch der Bauernpartei (Sozialrevolutionäre) gewählt. Mit dem Sieg der Revolution entstand ein linker Flügel bei den Sozialrevolutionären, der gemeinsam mit den Bolschewiki die „Arbeiter- und Bauernregierung“ bildete. Daraus ergab sich, dass die Zusammensetzung der verfassungsgebenden Versammlung nicht die Entwicklung des Prozesses widerspiegelte, was sich in ihrer Weigerung ausdrückte, die Errungenschaften und die sowjetische Macht anzuerkennen. Sie hatte sich in den Schützengraben der Feinde der Revolution verwandelt.

In Bezug auf die politische Linie jener Zeit, die er gemeinsam mit Lenin vertrat, sagte Trotzki: „Wir stellten die Frage des Aufstandes, die die Macht an das Proletariat mittels den Räten übertragen würde. Als wir gefragt wurden, was wir in diesem Fall mit der verfassungsgebenden Versammlung tun würden, sagten wir: ‚Wir werden sehen; vielleicht kombinieren wir sie mit den Sowjets.‘ Für uns bedeutete dies eine verfassungsgebende Versammlung unter einem sowjetischen Regime, in dem die Sowjets in der Mehrheit waren. Und da dies nicht geschah, liquidierten die Sowjets die verfassungsgebende Versammlung. Mit anderen Worten, es ging darum aufzuklären, inwiefern es möglich war die verfassungsgebende Versammlung und die Sowjets in Organe der gleichen Klasse zu verwandeln, nie darum eine bürgerliche Konstituierende Versammlung mit den proletarischen Räten zu kombinieren“.54

Für Trotzki war dies immer ein Problem der strategischen Artikulation (Defensive-Offensive, Taktik-Strategie)55. Aufgrund der Lücken, die Gramscis Werk in dieser Hinsicht aufweist, konnten sich sozialdemokratische Interpretationen in seine Ausarbeitungen einschleichen. Jedoch entwickelte oder vertrat Gramsci keine Theorie des „kombinierten Staates“. Doch während Trotzki eine klare Vision der Artikulation der Arbeiter*innendemokratie (Sowjets) mit den Losungen der bürgerlichen Demokratie hatte56, zeigt die Formulierung der „republikanischen Versammlung auf der Grundlage der Arbeiter- und Bauernausschüsse“, sogar in ihrer radikalsten Auffassung, dass dieses Problem selbst im reifen Gramsci nicht gelöst worden war.

Fußnoten

1. Wir verstehen dabei den „Westen“ als Metapher für diese Art von Strukturen, sowohl in den imperialistischen Ländern, wo diese Strukturen mehr Tradition haben, als auch in den erst „verwestlichten“ Ländern der halbkolonialen Peripherie, wie beispielsweise Brasilien, Chile oder Argentinien im lateinamerikanischen Süden.

2. Innerhalb der trotzkistischen Strömungen haben die radikaldemokratischen Forderungen gegensätzliche Schicksale erfahren, die die Rolle entstellt haben, die sie als Teil des Übergangsprogramms in Richtung der Diktatur des Proletariats spielen. Einerseits gibt es diejenigen, die das radikaldemokratische Programm zu einem Selbstzweck gemacht haben, indem sie die „Diktatur des Proletariats“ durch die Eroberung einer „Demokratie bis zum Schluss“ (oder „radikale Demokratie“, A.d.Ü.) ersetzt haben. Im selben Sinn gibt es diejenigen, die entgegen der Theorie der permanenten Revolution eine Theorie der „demokratischen Revolution“ als Zwischenziel entwickelt haben, wobei sie die strukturell-demokratischen Forderungen von den formell-demokratischen Forderungen trennten. Auf der anderen Seite gibt es die entgegengesetzte Reaktion, die Wichtigkeit radikaldemokratischer Forderungen zu verneinen, weil sie an sich „demokratisierend“ [d.h. zur Anpassung an die bürgerliche Demokratie neigend, A.d.Ü.] seien. Das ist eine ökonomistische Karikatur von Trotzkis Denken, welche die fundamentale Rolle dieser Forderungen in der Aushöhlung der bürgerlichen Hegemonie als Teil des Kampfes für die Diktatur des Proletariats verneint. In beiden Fällen, sei es durch die Verwandlung radikaldemokratischer Forderungen in einen Selbstzweck, oder durch die Verneinung ihrer Rolle, ist die Konsequenz die Schwächung – oder in einigen Fällen die direkte Verneinung – des Kampfes gegen die bürgerlichen Regime und somit die Anpassung an ebendiese. Dies wird zu einem grundsätzlichen Problem, da – wie wir oben ausgeführt haben – die bürgerliche Demokratie und die Illusionen in sie sich in den vergangenen Jahrzehnten mehr denn je ausgedehnt haben, wo es relativ stabile Regime dieses Typs auch außerhalb der imperialistischen Zentren gibt.

3. Albamonte, Emilio und Maiello, Matías, “Trotsky y Gramsci: debates de estrategia sobre la revolución en ‘occidente’”, Estrategia Internacional Nr. 28, August 2012. Bisher nicht auf deutsch übersetzt.

4. Laclau, Ernesto und Mouffe, Chantal, Hegemonie und radikale Demokratie: Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien, Passagen Verlag. Man muss hervorheben, dass Laclau und Mouffe, wenn sie die Aneignung des Denkens von Clausewitz „kritisieren“, jede seriöse Diskussion darüber vermeiden, weil sie sich nur auf die „zentristischen“ Ausarbeitungen von Kautsky über den „Ermattungskrieg“ oder auf die stalinistische „Sozialfaschismusthese“ beziehen. Dieses sind aber gerade die Negation auf unterschiedlichem Wege der Ausarbeitungen der Kommunistischen Internationale in ihren ersten Kongressen, mit Lenin und Trotzki als wichtigste Anführer.

5. Anderson, Perry, Antonio Gramsci: Eine kritische Würdigung, Olle & Wolter 1979.

6. Ebd.

7. In den Worten Leo Trotzkis: „Der Begriff der revolutionären Strategie hat sich erst in den Nachkriegsjahren, und zwar anfänglich zweifellos unter dem Einfluss der Kriegsterminologie, herangebildet. Jedoch, sie ist ganz und gar nicht etwa zufällig entstanden. Vor dem Kriege haben wir nur von der Taktik der proletarischen Partei gesprochen. Dieser Begriff entsprach ganz den damals herrschenden gewerkschaftlichparlamentarischen Methoden, welche nicht über den Rahmen der laufenden Tagesforderungen und Aufgaben hinausgingen. […] Die Epoche der 2. Internationale aber hat zu solchen Methoden und Anschauungen geführt, bei denen nach dem berüchtigten Ausdruck Bernsteins „Die Bewegung – alles, das Ziel – nichts“ bedeutete. Mit anderen Worten, die strategische Aufgabe verschwand und löste sich in einer „Bewegung“ von einzelnen taktischen Tagesfragen auf.“ (Trotzki, Leo, Die Internationale Revolution und die Kommunistische Internationale, 1928.)

8. In den Worten von Clausewitz: „Ist die Verteidigung eine stärkere Form des Kriegführens, die aber einen negativen Zweck hat, so folgt von selbst, daß man sich ihrer nur solange bedienen muß, als man sie der Schwäche wegen bedarf, und sie verlassen muß, sobald man stark genug ist, sich den positiven Zweck vorzusetzen.“ (Clausewitz, Carl von, Vom Kriege, Bd. III.)

9. Laut der Zeitschrift Kommunismus, repräsentativ für diesen Sektor: „Das wichtigste Merkmal der aktuellen Periode der Revolution liegt darin, dass wir dazu gezwungen sind, selbst ökonomische Kämpfe mit den Mitteln der finalen Schlacht zu führen“, besonders „der bewaffnete Aufstand“. Vgl. Anderson, Perry, a.a.O.

10. Laut Clausewitz: „Ein Krieg, bei dem man seine Siege bloß zum Abwehren benutzen, gar nicht widerstoßen wollte, wäre ebenso widersinnig als eine Schlacht, in der die absoluteste Verteidigung (Passivität) in allen Maßregeln herrschen sollte.“ (Clausewitz, Carl von, Vom Kriege, Bd. III.)

11. „Leitsätze über die kommunistischen Parteien und den Parlamentarismus“, Zweiter Kongress der Kommunistischen Internationale, 1920.

12. Vgl. z.B. „Richtlinien für die kommunistische Aktion in den Gewerkschaften“. Vierter Kongress der Kommunistischen Internationale, 1922.

13. Vgl. „Thesen zur Taktik der Kommunistischen Internationale“, Vierter Kongress der Kommunistischen Internationale. Siehe auch Trotzki, Leo, Betrachtungen über die Einheitsfront, 1922.

14. Karl Kautsky, einer der ersten Marxisten, der die Konzepte der Militärtheorie in die politischen Debatten der II. Internationale einbrachte, verband diese Logik der reinen und evolutiven Akkumulation der Kräfte bis zur Ankunft der Revolution mit der „Ermattungsstrategie“ – die vom Militärhistoriker Hans Delbrück theoretisiert wurde –, um gegen Rosa Luxemburg zu polemisieren.

15. Clausewitz, Carl von, Vom Kriege, Bd. III.

16. Ebd.

17. In dem schon erwähnte Artikel “Trotsky y Gramsci: debates de estrategia sobre la revolución en ‘occidente’” hatten wir uns damit auseinandergesetzt, wie der IV. Kongress der Kommunistischen Internationale diese Logik auf das offensive Moment der Revolution ausdehnt, mittels der Taktik der „Arbeiterregierung“, die die Regierungsbeteiligung der Kommunist*innen zum Zweck der Vorbereitung des bewaffneten Aufstands betrachtete.

18. Zit. nach Trotzki, Leo, „Tagesfragen der spanischen Revolution“, 1931. Eigene Hervorhebung.

19. Wichtigster Anführer des italienischen Kommunismus bis zu jenem Zeitpunkt und einer der Anführer der ultralinken Tendenz in der III. Internationalen.

20. Die genaue Beziehung zwischen den demokratischen und den sozialistischen Zielen – systematisiert in der Theorie der Permanenten Revolution – war einer der Knotenpunkte der Ausarbeitungen von Trotzki. Bezüglich des demokratischen Programms polemisierte der Gründer der Roten Armee gegen diejenigen, die die „formell-demokratisch“ Forderungen (wie Verfassungsgebende Versammlung) von den „strukturell-demokratischen“ Aufgaben (wie der Enteignung der Großgrundbesitzer*innen und die Agrarrevolution, der Bruch mit dem Imperialismus und die nationale Unabhängigkeit etc.) trennen wollten, dort wo sie noch ungelöst waren (besonders in rückständigen oder halbkolonialen Ländern), weil die Bourgeoisie unfähig ist, sie durchzuführen. Gramsci entwickelte diese Beziehung ebenfalls in ähnlichen Begriffen für Italien (als „peripherer Westen“), in Texten wie den Thesen von Lyon oder Einige Gesichtspunkte zur Frage des Südens, beide von 1926. Die radikaldemokratischen Forderungen sind verbunden mit der süditalienischen Frage und der Bauernfrage, als zentrale strukturell-demokratischen Fragen, die das Proletariat in seine Hände nehmen muss, um die Hegemonie zu erlagen. Diese Überschneidung zwischen strukturell-demokratischen und sozialistischen Aufgaben, genau wie die Beziehung zwischen der Theorie der Permanenten Revolution von Trotzki, die weit über diese Frage hinausgeht, und den theoretischen Ausarbeitunngen von Gramsci haben wir in einem anderen Artikel erörtert: Romano, Manolo und Albamonte, Emilio, “Revolución permanente y guerra de posiciones”, Estrategia Internacional Nr. 19, Januar 2003.

21. Gramsci, Antonio, Die italienische Situation und die Aufgaben der KPI (Thesen von Lyon), 1926. Eigene Übersetzung.

22. Politische Krise, die durch die Ermordung des sozialistischen Abgeordneten Giacomo Matteotti durch die Banden der faschistischen Regierung ausgelöst wurde. Matteotti wurde im Juni 1924 entführt und seine Leiche zwei Monate später gefunden.

23. Gramsci, Antonio, Die italienische Situation und die Aufgaben der KPI (Thesen von Lyon), 1926. Eigene Übersetzung.

24. Und er fügt hinzu: „Angesichts dessen, dass durch Vertiefung der Krise des Kapitalismus die herrschenden kapitalistischen und landbesitzenden Klassen gezwungen sind, um ihre Macht zu erhalten, die Organisationsfreiheit und die politischen Freiheiten des Proletariats zu beschränken und zu unterdrücken, ist die Verteidigung dieser Freiheiten ein exzellentes Terrain zur Agitation und für Teilkämpfe, die zur Mobilisierung breiter Schichten der arbeitenden Bevölkerung führenn können. Jede Gesetzgebung, mittels derer die Faschisten in Italien selbst die grundlegendsten Freiheiten der Arbeiterklasse unterdrücken, müssen der kommunistischen Partei Gürnde für die Agitation und die Mobilisierung der Massen bieten.“ (Gramsci, Antonio, Die italienische Situation und die Aufgaben der KPI (Thesen von Lyon), 1926. Eigene Übersetzung).

25. wenige Monate später wurde Gramsci in die Kerker Mussolinis geworfen, wo er den Rest seines Lebens verbringen musste. Dennnoch blieb, laut den Schilderungen von Athos Lisa, die Frage der Verfassungsgebenden Versammlung eine der zentralen programmatischen Fragen Gramscis; wir werden später gesondert auf die Diskussion über diese Losung eingehen.

26. Gramsci, Antonio, “The peasants and the dictatorship of the proletariat” (September 1926). Eigene Übersetzung.

27. Für eine synthetische, aber systematische Analyse Gramscis über die Entwicklung des Parlamentarismus seit dem Jakobinismus bis zu den verschiedenen Einschränkungen, die sich entwickeln, um ihn zu begrenzen, vgl. Gramsci, Antonio, Gefängnishefte, Heft 1, §48.

28. Und er fügte hinzu: „Das war Trotzkis Zusammenstoß mit dem Sozialismus der Fabier und seiner Doktrin der ‚Unausweichlichkeit des Gradualismus‘; und lange Zeit nach dem Zusammenstoß konnte das Fabiertum sich von diesem Angriff intellektuell nicht erholen.“ Deutscher, Isaac, Trotzki. Der entwaffnete Prophet.

29 Trotzki, Leo, Wohin treibt England?, 1925.

30. Trotzki, Leo, Ein Aktionsprogramm für Frankreich, 1934.

31. Trotzki kontrastiert die Dritte Französische Republik, die vom Sturz Napoleons III. (1870) bis zur Niederlage Frankreichs gegen Deuschland im Zweiten Weltkrieg (1940) andauerte, als höchsten Ausdruck der Korruption und der bürgerlichen Heuchelei, von der Großen Französischen Revolution, als die Bourgeoisie noch revolutionär war, besonders auf ihrem Höhepunkt mit dem Konvent vo 1793.

32. Vgl. Marx, Karl, Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation, 1871.

33. Trotzki, Leo, Ein Aktionsprogramm für Frankreich, 1934.

34. Ebd.

35. Astarita, Rolando, Crítica al programa de transición. Eigene Übersetzung.

36. Anderson, Perry, a.a.O.

37. Trotzki, Leo, Ein Aktionsprogramm für Frankreich, 1933.

38. Laut dem Stalinismus hätte sich 1928 die letzte Periode des Kapitalismus eröffnet, die er als die Periode seines baldigen Verschwindens charakterisierte, die sogenannte „Dritte Periode“. Unter diesem Namen ist auch die Politik der von Stalin angeführten Dritten Internationale zwischen 1928 und 1934 bekannt, die sich durch ihr Ultralinkstum und die Ablehnung des Aufbaus von Einheitsfronten mit anderen Arbeiter*innenorganisationen auszeichnete. In Deutschland charakterisierte der Stalinismus die Sozialdemokratie als „sozialfaschistisch“.

39. Trotzki, Leo, Ein Aktionsprogramm für Frankreich, 1933.

40. Astarita, Rolando, a.a.o.

41. Trotzki, Leo, Das Übergangsprogramm, 1938.

42. Er bezieht sich auf das Referendum, dass L.L. Ludlow über die Teilnahme der USA am Zweiten Weltkrieg vorgeschlagen hatte.

43. Ebd.

44. Auf diejenigen, die die Unterstützung der demokratischen Regierungen gegen die Faschisten im Krieg vorschlugen, antwortete Trotzki: „Im Gegensatz zur Sozialdemokratie übertragen wir diesen Schutz nicht auf den Staat der Bourgeoisie […]. «Kampf um die Demokratie» während des Krieges wird vor allem heißen: Kampf um die Erhaltung der Arbeiterpresse und der Arbeiterorganisationen […]. Auf dem Boden dieser Aufgaben wird die revolutionäre Vorhut streben nach der Einheitsfront mit den übrigen Arbeiterorganisationen gegen die eigene «demokratische» Regierung, keinesfalls aber nach der Einheit mit ihrer Regierung gegen das Feindesland.“ (Trotzki, Leo, Die 4. Internationale und der Krieg, 1934).

45. Gramsci, Antonio, Die italienische Situation und die Aufgaben der KPI (Thesen von Lyon), 1926. Eigene Übersetzung.

46. Ebd.

47. Ebd.

48. Ebd.

49. Sie konstituierten dann die Neue Italienische Opposition. Das Adjektiv „neu“ war insbesondere eine Abgrenzung von der „alten“ Opposition der Gruppe Prometeo, die sich auf Amadeo Bordiga bezog.

50. Trotzki, Leo, Problemas de la revolución italiana, 1930. Eigene Übersetzung.

51. Verabschiedet im August 1919, hervorgegangen aus der verfassungsgebenden Nationalversammlung, die im Februar desselben Jahres zusammentrat, nachdem der aufständische Generalstreik im Januar niedergeschlagen wurde, womit die Niederlage der deutschen Revolution 1918-19 besiegelt wurde.

52. Ebd.

53. Ebd.

54. Ebd.

55. Daher kommt es, dass diejenigen wie Rolando Astarita, die die logische „Möglichkeit“ oder „Unmöglichkeit“ der Umsetzung einer bestimmten Übergangslosung außerhalb der Strategie angehen wollen, schließlich die Unmöglichkeit der Offensive „ableiten“, genauso wie das sozialistische Bewusstsein als „a priori“ Notwendigkeit in Bezug auf die Erfahrung.

56. Zugleich vertrat Trotzki, dass es im Fall des Ausbruchs einer nächsten revolutionären Krise in Italien „sicher [ist], dass die arbeitenden Massen, sowohl des Proletariats als auch der Bauernschaft, ihre ökonomischen Forderungen mit demokratischen Losungen (wie die Freiheit der Versammlung, der Presse, der gewerkschaftlichen Organisierung, der demokratischen Vertretung im Parlament und in den Munizipalitäten) verbinden werden.“ Und er fügte hinzu, dass die Kommunistische Partei „mit größter Kühnheit und Entschlossenheit kämpfen [muss], denn eine proletarische Diktatur kann den Volksmassen nicht aufgezwungen werden. Man kann sie nur durch den Kampf – bis zum Schluss – für alle Übergangslosungen, die Forderungen und Notwendigkeiten der Massen und an der Spitze der Massen umsetzen.“

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