Strategie und Revolution: Linke Debatten für das 21. Jahrhundert

06.11.2021, Lesezeit 50 Min.
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Foto: IzquierdaDiario.es

Wie wird der Kapitalismus überwunden? Eine Debatte über das jüngste Buch von Erik Olin Wright, How to Be an Anticapitalist in the Twenty-First Century.

Zum 90. Jahrestag der Russischen Revolution im Jahr 2007 gab unser Genosse Emilio Albamonte, Anführer der argentinischen PTS (Partei der Sozialistischen Arbeiter:innen), einen Vortrag für die gesamte Mitgliedschaft in Buenos Aires. Sein Ziel war es, die verschiedenen alternativen Strategien zur Überwindung des Kapitalismus zu diskutieren. Albamonte begann damit, dass für die Diskussion über die Gültigkeit der Revolution notwendig ist, neben den historischen Debatten – die sehr wichtig sind, weil wir zeigen müssen, dass die Bürokratisierung der Sowjetunion kein unvermeidlicher Prozess war und dass der Stalinismus nicht das automatische Ergebnis des Bolschewismus war – die Diskussion zu führen, welche Strategien heute für die Arbeiter:innenklasse und die ausgebeuteten Massen nützlich sind, um der Ausbeutung und Unterdrückung in der Welt ein Ende zu setzen.

Seitdem hat die FT (Trotzkistische Fraktion, internationale Strömung der PTS, der in Deutschland RIO als Herausgeberin von Klasse gegen Klasse angehört) ihre Überlegungen zu Fragen der Strategie stark vertieft, insbesondere mit der Veröffentlichung des Buches Estrategia Socialista y Arte Militar (Sozialistische Strategie und Militärkünst) von Emilio Albamonte und Matías Maiello. Ausgehend von diesen theoretischen Entwicklungen und als Kontrapunkt zu den Ideen von Erik Olin Wright in seinem neuesten Buch How to be An Anti-Capitalist in the 21st Century? 1 schlagen wir vor, eine Debatte darüber zu führen, welche Strategie wir brauchen, um den Kapitalismus zu überwinden.

Warum Strategie studieren und diskutieren?

Der Begriff der Strategie kommt aus dem militärischen Denken, ebenso wie der Begriff der Taktik. Nach konventionellem militärischem Denken ist die Strategie der Plan für die Durchführung einer militärischen Kampagne und die Taktik der Plan für die Durchführung einer Schlacht. Eine Kampagne setzt sich aus mehreren Schlachten zusammen, die Schlachten sind Taktiken im Hinblick auf die militärische Kampagne.

Leo Trotzki erklärte, dass Taktik „die Kunst [ist], isolierte Operationen zu leiten“, während die Strategie diese mit dem politischen Ziel verbindet. Clausewitz war der erste, der den Begriff der Strategie in diesem Sinne verwendet. Vor Clausewitz war Strategie in der Militärwissenschaft das, was außerhalb der Sichtweite des Feindes getan wurde, und das Konzept wurde in der Praxis nicht verwendet. Trotzki war zusammen mit Lenin und der Dritten Internationale einer der ersten, die das Konzept der Strategie nutzten, um über die Schlussfolgerungen der Russischen Revolution und die Aufgaben der Kommunist:innen im 20. Jahrhundert nachzudenken.

Für Trotzki war Strategie „die Kunst zu siegen, das heißt: die Eroberung der Macht”. Ihm ging es darum, alle Elemente zu kombinieren, um die Führung zu erobern, um zu gewinnen. Wir Revolutionär:innen beteiligen uns nicht nur um dabei zu sein an den Gewerkschaften, an der Studierendenbewegung, an der Organisation der prekären Jugend, an den Wahlen; auch nicht nur, um revolutionäre Flügel in den Gewerkschaften oder den Bewegungen zu bilden. Wir beteiligen uns dort, um Kräfte zu sammeln, die es uns erlauben, alle Kräfte im richtigen Moment zu vereinen, um sie gegen die herrschende Klasse zu wenden, ihren Willen zu brechen und den Willen der Ausgebeuteten durchzusetzen. Das ist Strategie, alles andere ist Taktik und abhängig von der Strategie.

Deshalb meint Trotzki, wenn er vor der Gefahr warnt, sich in der Taktik zu verlieren, sich in isolierten Kämpfen zu verlieren, ohne die Beziehung zwischen ihnen und der Strategie insgesamt für das revolutionäre Programm herzustellen, das heißt, für die Eroberung der Macht durch die Arbeiter:innenklasse. Wenn wir uns die Frage nach der Strategie stellen, dann fragen wir uns, wie wir die Ergebnisse jeder Schlacht mit dem Kampf um die Eroberung der Macht verbinden können, so dass sie nicht ein Selbstzweck sind, der uns unser Ziel aus den Augen verlieren lässt.

Warum also heute über Strategie diskutieren? Der Common Sense unserer Zeit ist, dass die revolutionäre Strategie – das heißt die Strategie, die aus der Russischen Revolution hervorgegangen ist – etwas Anachronistisches, Altmodisches ist.

Das ist in erster Linie so, weil wir aus einer langen Periode nach dem Fall der Berliner Mauer kommen, in der wir keine klassischen proletarischen Revolutionen gesehen haben, geschweige denn siegreiche Revolutionen. Obwohl es in letzten Periode wichtige Revolten und Aufstände in verschiedenen Teilen der Welt gab (ich werde später darauf zurückkommen), waren die letzten großen „klassischen“ Revolutionen – die besiegt wurden – diejenigen, die in den cordones industriales in Chile 1970-73 gipfelten; die bolivianische Revolution von 1971; die große portugiesische Revolution von 1974. Daneben gab es andere Revolutionen, die nicht „klassisch“ waren, wie die nicaraguanische, die salvadorianische oder die iranische Revolution, die Ende der siebziger Jahre ausbrachen. Hinzu kommt noch der umgelenkte Versuch einer politischen Revolution gegen die stalinistische Bürokratie 1981 in Polen.

Der zweite Grund liegt darin, dass – zusammen mit der arbeiter:innenfeindlichen Offensive der „neoliberalen Etappe“ – das strategische Erbe des revolutionären Marxismus verloren ging. Daniel Bensaïd, historischer Anführer der von Ernest Mandel gegründeten trotzkistischen Strömung, der vor einigen Jahren verstorben ist, wies darauf hin, dass Trotzkis Erbe ein „Erbe ohne Gebrauchsanleitung“ sei.2 Damit bezog sich Bensaïd nicht auf die notwendige Wiederbelebung dieses Erbes durch diejenigen von uns, die es sich unter neuen Bedingungen aneignen. Sondern er meint, der eigentliche Nutzen von Trotzkis Erbe sei in unserer Zeit fragwürdig und in vielerlei Hinsicht obsolet geworden.

Genau auf der Grundlage dieser Schlussfolgerung begleitete Bensaïd seine Strömung, die Revolutionär-Kommunistische Liga Frankreichs (LCR) und das Vereinigte Sekretariat, dabei, den Kampf für die Diktatur des Proletariats aufzugeben. Gleichzeitig nutzte er die Überlegungen zur Taktik der Arbeiter:innenregierung der Dritten Internationale, um den Amtsantritt von Miguel Rosetto von Democracia Socialista als Minister für landwirtschaftliche Entwicklung der bürgerlichen Regierung Lulas in Brasilien ab 2003 zu rechtfertigen. Und in jüngerer Zeit gründete die Gruppe Anticapitalistas im Spanischen Staat auf der gleichen Grundlage Podemos, die schließlich eine gemeinsame Regierung mit der PSOE (Spanische Sozialistische Arbeiterpartei) einging. Die Führung der NPA (Neue Antikapitalistische Partei, Frankreich) rechtfertigt heute ihr Bündnis mit Mélenchon in den französischen Regionalwahlen und den Ausschluss unserer Genoss:innen aus der CCR (Sektion der FT in Frankreich). Wir glauben im Gegenteil, dass Trotzkis Denken eine „Gebrauchsanleitung“ hat und dass diese in der Strategie enthalten ist. Es geht darum, den revolutionären Marxismus auf der Grundlage dieses strategischen Denkens wiederzubeleben.

Die grundlegende Bedingung dafür, dass eine „klassische“ Revolution stattfinden kann, wie es zum Beispiel die Russische Revolution oder die Spanische Revolution waren, ist die imperialistische Epoche, das heißt die Epoche der Krise, der Kriege und der Revolutionen, wie die Marxist:innen der Dritten Internationale sie nannten. Es gibt Marxist:innen, die skeptisch sind, dass wir noch in einer imperialistischen Epoche leben. Kurz gesagt besagt die Kategorie des Imperialismus, dass die Welt immer noch zwischen unterdrückenden Ländern und einer Mehrheit unterdrückter Länder aufgeteilt ist und dass die Konkurrenz der mächtigsten kapitalistischen Länder der Welt und ihres Finanzkapitals um die Ausplünderung des Rests der Welt die Grundlage der Rivalität zwischen den Staaten ist. Für uns ist die Aktualität dieser Epoche voll gültig.

Wenn das so ist, ist die Perspektive der Entstehung neuer revolutionärer Prozesse in die Dynamik des Klassenkampfes des 21. Jahrhunderts eingeschrieben. Deshalb wollen wir zum Studium der Strategie auf der Grundlage der großen revolutionären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zurückkehren, um über das 21. Jahrhundert nachzudenken.

Strategien des Kampfes gegen den Kapitalismus

Erik Olin Wright, ein brillanter analytischer Marxist, schrieb 2019 ein Buch mit dem Titel How to be An Anti-Capitalist in the 21st Century. Dies war sein letztes Werk, kurz darauf starb er. Es ist ein interessantes Buch, nicht so sehr wegen der Perspektive, die der Autor verteidigt – die nicht revolutionär, sondern reformistisch ist –, sondern weil es eine sehr pädagogische Aufstellung der „strategischen Logiken“ des Kampfes gegen den Kapitalismus macht.

In seinem Buch identifiziert Olin Wright fünf Strategien: den Kapitalismus zerschlagen, den Kapitalismus demontieren, den Kapitalismus zähmen, dem Kapitalismus widerstehen und dem Kapitalismus entfliehen.

Die Strategie der Zerschlagung des Kapitalismus entspricht der klassischen Strategie des revolutionären Marxismus. Sie beinhaltet die Auffassung, dass der Kapitalismus unreformierbar ist und durch eine gewaltsame soziale Revolution beendet werden muss, die die politische Macht erobert, den bürgerlichen Staat zerstört und eine andere Art Staat aufbaut, einen Übergangsstaat zum Kommunismus.

Die Strategie der Demontage des Kapitalismus ist das, was wir mit der Strategie der klassischen Sozialdemokratie identifizieren könnten, das heißt, ein friedlicher Übergang zum Sozialismus durch staatlich geführte Reformen (mit parlamentarischen Mitteln), die schrittweise Elemente einer sozialistischen Alternative zum Kapitalismus einführen.

Bei der Strategie der Zähmung des Kapitalismus geht es nicht um die Überwindung des Kapitalismus, sondern um die Schaffung von Institutionen innerhalb des kapitalistischen Staates, um dessen Auswüchse zu kontrollieren. So etwas wie ein „Medikament zur Behandlung der Symptome, nicht der Ursachen der Krankheit“. Olin Wright identifiziert sie mit dem Sozialliberalismus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Von unserem Standpunkt aus steht diese Logik in Verbindung mit der Strategie des Neo-Reformismus.

Der Widerstand gegen den Kapitalismus ist für Olin Wright eine weitere strategische Logik, die den antikapitalistischen Kampf von außerhalb des Staates zusammenführt. Während die Zähmung des Kapitalismus darauf hofft, die Schäden des Systems zu neutralisieren, und die Demontage darauf abzielt, die Staatsmacht gegen den Kapitalismus zu richten, zielt der Widerstand gegen den Kapitalismus darauf ab, den Staat zu beeinflussen oder staatliche Aktionen zu blockieren – aber nicht darauf, die Staatsmacht auszuüben. Es ist die Strategie, die John Holloway mit dem Ausdruck beschreibt, „die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen.“3 Sie ist typisch für den Aktivismus der sozialen Bewegungen (Umwelt-, Identitäts-, Wohnungs-, Konsumbewegung und weiter) oder das, was wir, Bensaïd zitierend, als „Illusion des Sozialen“ bezeichnet haben.

Schließlich ist die Strategie der Flucht vor dem Kapitalismus seiner Meinung nach eine der ältesten Strategien gegen die Verwüstungen des Systems. Es ist eine Strategie, die von den utopischen Gemeinschaften des 19. Jahrhunderts bis zu den Genossenschaftsbewegungen und selbstverwalteten Räumen reicht. Sie glaubt, dass die beste Alternative darin besteht, sich von den schädlichen Auswirkungen des Kapitalismus zu isolieren. Heute, so Olin Wright, ist diese Strategie eminent individualistisch und anti-politisch.

Wir müssen klarstellen, dass für Olin Wright die revolutionäre Strategie für das 21. Jahrhundert nicht mehr adäquat ist, weil seiner Meinung nach jeder einseitige Bruch mit dem kapitalistischen System Gewalt und Repression nach sich zieht. Tatsächlich endet er damit, die Erfahrungen von Podemos, Syriza, Bernie Sanders und Jeremy Corbyn zu rechtfertigen und ihnen eine antikapitalistische Perspektive zuzuschreiben, die sie eindeutig nicht haben, um das zu verteidigen, was er eine Strategie der Erosion des Kapitalismus nennt. Aber unabhängig davon ist es interessant, sich dieser Debatte aus Wrights Sicht zu nähern.

Die oben diskutierten fünf strategischen Logiken unterscheiden sich im Wesentlichen durch ihre Zielsetzungen. Einige zielen darauf ab, den Kapitalismus zu überwinden, andere nur, den von ihm angerichteten Schaden zu neutralisieren oder zu minimieren. Für Olin Wright sind sowohl die Zähmung als auch der Widerstand gegen den Kapitalismus keine tatsächlichen antikapitalistischen Strategien. Während Zerschlagung, Demontage oder Flucht vor dem Kapitalismus strategische Ansätze wären, die darauf abzielen, die Strukturen des Kapitalismus zu überwinden.

Es ist klar, dass die Strategie der Zähmung des Kapitalismus nichts Antikapitalistisches an sich hat. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich ein Beispiel anführen, das meiner Meinung nach sehr anschaulich ist. Als Syriza 2015 in Griechenland an die Regierung kam, präsentierte sie sich als Partei der Reformen des Kapitalismus, die sich den Anpassungsplänen der sogenannten Troika aus IWF (Internationaler Währungsfonds), Europäischer Kommission und Europäischer Zentralbank entgegen stellte. Als sie jedoch an die Macht kam, verwandelte sie sich in eine Umsetzerin der gleichen Anpassungen (Gegen-Reformen, Anm. d. Ü.), die sie angeblich abgelehnt hatte. Daraufhin wurde der Anführer von Podemos im Spanischen Staat, Pablo Iglesias, gefragt, ob Syriza „harte“ Maßnahmen gegen die Troika hätte ergreifen sollen, anstatt am Ende die Anpassung umzusetzen, die sie theoretisch bekämpfen wollte. Iglesias entgegnete: „Das Problem ist, dass immer noch gezeigt werden muss, dass jemand aus einem Staat heraus eine solche Herausforderung aufstellen kann (…) Wenn wir etwas Hartes tun, wenn wir regieren, hast du plötzlich einen guten Teil der Armee, des Polizeiapparats, alle Medien und alles gegen dich, absolut alles.“4

Diese Überlegung ist interessant, weil sie, wie Matías Maiello sagt, klar zwei Wege markiert, die die Strategie zu wählen hat: kämpfen oder nicht kämpfen? Man kann einen ersten Weg wählen, der darin besteht, sich an den Rahmen der Institutionen zu halten und innerhalb der vom Kapitalismus auferlegten Grenzen zu handeln, auch wenn er mit einem „linken“ Diskurs kombiniert wird, wie es Syriza und Podemos taten. Oder ein zweiter Weg: über die Grenzen der Institutionen hinauszugehen, die kapitalistischen Interessen anzugreifen und den bürgerlichen Staat zu konfrontieren, wofür man sich in der Tat auf die Konfrontation mit einer ganzen Reihe von materiellen Kräften vorbereiten muss, die reagieren werden. Die Alternative ist dann entweder die Konfrontation oder die Unterwerfung unter das Diktat des Kapitals. Es gibt keinen Raum für Zwischenwege. Und wenn wir uns entscheiden zu kämpfen, dann beginnen die Probleme der Strategie.

Deshalb wollen wir hier, dem Schema von Olin Wright folgend, vor allem die Strategie diskutieren, die auf die Zerschlagung des Kapitalismus abzielt. Im 20. Jahrhundert gab es große Revolutionen, die zwei große alternative Strategien hervorbrachten: Auf der einen Seite brachte die Russische Revolution die Strategie des aufständischen Generalstreiks hervor, die die klassische Strategie des revolutionären Marxismus ist, der Machteroberung durch die Arbeiter:innenklasse und der Diktatur des Proletariats; auf der anderen Seite brachte die Chinesische Revolution eine andere Strategie hervor, die des langwierigen Kriegs oder verlängerten Volkskriegs, die wiederum ihren Ausdruck in der Analyse der Kubanischen Revolution fand und die Substrategie der „Fokustheorie“ hervorbrachte.

Wir werden uns auch mit dem auseinandersetzen, was Olin Wright die Strategie der Demontage des Kapitalismus nennt, die streng genommen eine in eine Strategie umgewandelte Taktik ist. Sie besteht darin, die Teilnahme an gewerkschaftlichen Kämpfen und parlamentarischer Aktivität zum Schwerpunkt der politischen Aktion zu machen, um Positionen im kapitalistischen Staat zu erobern und so auf friedlichem Wege zum Sozialismus vorzudringen; Karl Kautsky nannte diese Summe von Taktiken in der Diskussion mit Rosa Luxemburg „Strategie der Ermattung“.

Und schließlich gibt es noch zwei weitere Strategien – oder eine, die wir in zwei teilen können –, mit denen wir polemisieren werden. Sie entsprechen zum Teil dem, was Olin Wright die Strategie der Flucht vor dem Kapitalismus nennt. Auf der einen Seite die autonomistische Strategie, die davon ausgeht, dass der Schlüssel die Aktion der sozialen Bewegung ist, getrennt von jeder Diskussion über Macht, weil Macht eine Trennung zwischen den Führenden und den Geführten schaffe, die unweigerlich zu Bürokratie führe. Die andere Strategie, die damit zusammenhängt, aber nicht dieselbe ist, ist der Anarchismus. Der Anarchismus vertritt die Auffassung, dass es nicht notwendig ist, sich an Parlamenten zu beteiligen, und dass der Schlüssel nicht darin liegt, einen vorübergehenden Arbeiter:innenstaat aufzubauen, wenn die Macht ergriffen wird, sondern den Staat sofort abzuschaffen.

Die Gültigkeit und Aktualität der bolschewistischen Strategie

Wie wir bereits sagten, gehen aus den großen revolutionären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zwei große Strategien hervor: die des aufständischen Generalstreiks; und die des langwierigen Volkskriegs, zu dem wir weiter unten noch näher diskutieren werden. Die strategische Perspektive, die wir in der CRT (Sektion der FT im Spanischen Staat) und in der FT vertreten, ist erstere, die wir als die bolschewistische Strategie zusammenfassen können.

Was sind die zentralen Punkte der bolschewistischen Strategie? Zunächst einmal die Rolle der Arbeiter:innenklasse. Für die Bolschewiki war das gesellschaftliche Subjekt, das die Revolution anführen kann, das Proletariat. Und was ist das Proletariat? Das sind all die Menschen, die einen Lohn erhalten, von dem sie leben müssen, der aber nicht ausreicht, um Kapital anzusammeln. Für uns wie für die Bolschewiki sind die Lohnarbeiter:innen das gesellschaftliche Subjekt der Revolution, denn sie sind an kein Eigentum gebunden und haben kein anderes Bestreben, als sich „von ihren Ketten zu befreien“, wie Marx sagen würde. Aber mit ihrem Kampf können sie einen Ausweg bieten; sie können, wie Trotzki sagte, die Gesamtheit der ausgebeuteten und unterdrückten Sektoren der ruinierten Mittelschichten und der verarmten Sektoren des Volkes anführen.

Nun brauchte man vom strategischen Standpunkt aus, also vom Standpunkt der Kunst des Siegens, ein lebenswichtiges Instrument, und das ist der zweite zentrale Punkt der bolschewistischen Strategie: die revolutionäre Partei. Um den autokratischen russischen Staat zu stürzen und im Kampf um die politische Macht zu triumphieren, war eine demokratisch zentralisierte revolutionäre Partei notwendig. Diese Partei soll nicht nur gegen die Bourgeoisie kämpfen, sondern auch gegen die verräterischen Führungen der Massenbewegung und gegen die Organisationen, die zwischen Reform und Revolution schwanken, die wir Marxist:innen „zentristisch“ nennen.

Die revolutionäre Partei ist eine Partei, die nicht an einem Tag geschmiedet wird, sondern in einem langen Prozess der theoretisch-politischen Bildung und der Erfahrung des Klassenkampfes – auch wenn im russischen Fall diese Erfahrung sehr schnell ging. Lenin sagte, dass der Bolschewismus zwischen 1903 und 1917 eine 15-jährige praktische Geschichte durchlief, die in der Welt an Erfahrungsreichtum im Klassenkampf nicht zu übertreffen war. Das heißt, dass eine marxistische Partei nicht nur im Studium, sondern in einer immensen Vielfalt von Kampfformen aufgebaut wird. Und gerade als Teil dieses Kampfes verwandelt sich die Arbeiter:innenklasse, oder besser gesagt ihre am meisten bewussten Sektoren, in ein politisches Subjekt.

Die CRT ist immer noch eine kleine Propagandagruppe, aber eine revolutionäre Partei aufzubauen ist die spannende Herausforderung, die als Revolutionär:innen vor uns liegt. Und obwohl sich die Situation bisher aufgrund des Gewichts des Neoreformismus und der Fähigkeit des politischen Regimes zur Selbsterhaltung nicht verbessert hat, sagt sogar der IWF (Internationale Währungsfonds), dass in den kommenden Jahren Arbeiter:innen- und Massenaufstände zu erwarten sind, als Folge des Leidens der gesellschaftlichen Mehrheiten im Zusammenhang mit der Pandemie und der kapitalistischen Offensive. Das wird der Nährboden für neue revolutionäre Prozesse wie die Russische Revolution oder die Spanische Revolution sein. In diese revolutionären Prozesse wollen wir schon mit ausgebildeten revolutionären Parteien hinein gehen.

Warum ist es in solchen Situationen wichtig, eine Partei zu haben, die im Klassenkampf geschmiedet wurde? Dies ist die dritte Schlüsselfrage der bolschewistischen Strategie: die Schaffung von Organen der Einheitsfront, um die revolutionären Massen im Kampf um die Macht zu vereinen. Das heißt, Sowjets (russisch für „Räte“) oder Arbeiter:innenräte, oder Koordinationen, oder auch Fabrikkomitees. Organe, die es erlauben, die revolutionären Massen verschiedener politischer Strömungen in einer großen Einheitsfront zu vereinen, um sich auf den Schwachpunkt des Feindes zu konzentrieren und ihm die Macht zu entreißen. Das ist ein zentrales Element unserer Strategie.

Wenn Sowjets entstehen, entsteht eine Doppelmacht. Und was bedeutet das? Wie Emmanuel Barot erklärt: „Die ‚Doppelherrschaft‘ bezeichnet einen besonderen Typ von Prozessen und politischen Instrumenten, mit denen die kämpfenden Massen ihre unabhängigen Entscheidungsorgane schaffen, die alternativ und antagonistisch zu den bestehenden Institutionen sind, in der Perspektive des Generalstreiks und des Aufstands.“5 Das heißt, sie ist eine alternative Macht zur realen Macht der Kapitalist:innen.

Damit die Sowjets eine wirkliche Macht sein können, müssen sie sich bewaffnen, sonst sind sie eine Halb-Macht. Deshalb organisieren sich in revolutionären Situationen die Sowjets nicht nur, sie bewaffnen sich auch, sie stellen sich den faschistischen Banden entgegen, es entstehen revolutionäre Milizen. Das ist die Grundlage, auf der eine „revolutionäre Armee“ gebildet werden kann.

Wenn unsere Epoche weiterhin eine Epoche der Krisen, Kriege und Revolutionen ist, wenn die Arbeiterklasse sich auflehnt und neue Krisen und Katastrophen kommen, werden die Möglichkeiten geschaffen, die „strategische Konjunktur“, dass sich die bolschewistische Strategie entfalten kann. Aber um sie zu nutzen, muss vor einer revolutionären Situation eine revolutionäre Partei existieren, sie muss dann bereits in den Kämpfen der Arbeiter:innenklasse geschmiedet worden sein. Wenn es keine ausgebildete Avantgarde von einigen Tausend gibt, die eine Partei von Zehntausenden aufbauen kann, die wiederum Millionen anführt, dann kann es zwar eine Revolution geben, die Revolution wird aber nicht siegreich sein.

Damit kommen wir zu einem vierten zentralen Aspekt der bolschewistischen Strategie: die Machteroberung durch den aufständischen Generalstreik. Aber was bedeutet es, die Macht zu erobern? Macht ist keine Substanz, sondern ein soziales Verhältnis. Die Machteroberung bedeutet also, die bürgerliche Macht und ihren Staat, also ihre repressive Gewalt, zu zerstören, um eine alternative Macht der Arbeiter:innen, eine neue Art von Staat aufzubauen: einen Übergangs-Arbeiter:innenstaat. Und warum übergangsweise? Die Eroberung der politischen Macht in einem isolierten Staat bedeutet nicht das sofortige Verschwinden der sozialen Klassen. Es ist notwendig, die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung des Landes zu steigern und gleichzeitig den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen. Diesen Prozess nennen wir die „Diktatur des Proletariats“.

Diktatur des Proletariats, das heißt, die Organisation der Gesellschaft nach den Interessen der Mehrheit anstatt den Interessen einer kleinen parasitären Minderheit aus Großkapitalist:innen und Bankiers, Unternehmer:innen und Monarch:innen. Es heißt, die Organisation nicht nur der Arbeiter:innenklasse alleine, sondern aller großen ausgebeuteten Massen, wie der Bäuer:innen und städtischen Armen. Dafür ist ein Bündnis der Arbeiter:innen und der Massen nötig, mit dem Ziel, die permanente Mobilisierung der Massen vor und nach der Machteroberung zu entwickeln. Wenn es sich um ein wirtschaftlich rückständiges Land handelt, muss es vom Einfluss des Imperialismus befreit werden, die muss Agrarfrage gelöst werden, die Fabriken des Imperialismus und des nationalen Großkapitals enteignet. In allen Ländern muss das Kapital enteignet werden, indem die gesamte Wirtschaft in den Dienst eines rationalen Plans unter der Kontrolle der Arbeiter:innenklasse gestellt wird, um elenden Verhältnissen ein Ende zu setzen und das Fortschreiten der Umweltkatastrophe zu verhindern. Die Revolution muss schließlich in allen Bereichen vorangetrieben werden: In Wirtschaft, Kultur, Fragen der Ungleichheit; die Unterdrückung aufgrund von Geschlecht, aus rassistischen Gründen oder aufgrund sexueller Fragen muss beendet werden. Mit anderen Worten, die Diktatur des Proletariats bedeutet, die gesamten sozialen Beziehungen zu revolutionieren.

Aber der Aufbau des Sozialismus ist auf der Ebene eines einzelnen Landes unmöglich; er kann nur auf internationaler Ebene erfolgen. Die Revolution muss also von der nationalen Ebene auf die internationale Ebene übergehen. Das ist der fünfte und letzte Schlüsselaspekt bolschewistischer Strategie, der Internationalismus: Demnach beginnt die Revolution auf nationaler Ebene, erstreckt sich auf die internationale Ebene und kulminiert auf der Weltebene. Das heißt, wir vertreten die entgegengesetzte Logik zum Stalinismus und seiner Theorie des Sozialismus in einem Land. Unsere Perspektive ist die, die Trotzki in seiner Theorie der permanenten Revolution entwickelte.

Diese fünf Punkte sind die zentralen Knotenpunkte der bolschewistischen Strategie. Sie skizzieren die revolutionäre Strategie, die wir mit der CRT und mit der FT verteidigen. Lasst uns nun die anderen, konkurrierenden Strategien betrachten.

Langwieriger Volkskrieg und Fokustheorie

Die andere Revolution, die nach der russischen Anlass zu einer zweiten großen Strategie gab, war die chinesische Revolution von 1949. Sie war ein Nebenprodukt der zweiten chinesischen Revolution von 1925 bis 1927 (die erste fand 1911 statt), die durch die Fehler der stalinistischen Führung besiegt worden war, welche eine Politik der Klassenzusammenarbeit zwischen der Kommunistischen Partei Chinas und der Partei des bürgerlichen Nationalismus, der Kuomintang (KMT, Nationale Volkspartei Chinas), verfolgte.

Im Jahr 1934 begann das als „Langer Marsch“ bekannte militärische Epos, das den Rückzug der KPCh aus den roten Stützpunkten in Hunan und Kiangsi darstellte. Dort setzte Mao ein, was als Strategie des langwierigen oder verlängerten Volkskrieges bekannt ist. Grundlagen dieser Politik sind nicht nur zunehmendes Elend und Krieg im Allgemeinen, sondern der Einmarsch einer fremden Macht in das Land, sprich die japanische Invasion Chinas, die 1931 mit der Besetzung der Mandschurei eingeleitet wurde und eine eine gewisse Einheit aller Klassen im Land gegen den fremden Eindringling schaffte.

Um Japan entgegenzutreten, förderte Mao eine Orientierung der politischen Einheit mit der nationalistischen Bourgeoisie, indem er die Bildung einer antijapanischen Einheitsfront vorschlug und die Agitation für die Agrarreform aufgab, da diese die Machtbasis der Generäle der Kuomintang angriff, unter denen sich große chinesische Landbesitzer:innen befanden. Der „Hauptwiderspruch“, so Mao, sei der mit dem japanischen Imperialismus; der „Widerspruch“ mit der nationalen Bourgeoisie und sogar mit den alten feudalen Klassen rückten in den Hintergrund.

Aus den Erfahrungen der chinesischen Revolution zog Mao dann die Konsequenzen einer neuen Strategie, der des langwieriegen Volkskriegs. Mao argumentierte, dass vier Klassen gegen die Japaner kämpfen sollten: die nationale Bourgeoisie, das Proletariat, die Bäuer:innenschaft und das städtische Kleinbürger:innentum. Der sogenannte „Block der vier Klassen“, der etabliert wurde, was Mao die „Neue Demokratie“ nannte, sollte die grundlegenden Aufgaben der chinesischen Revolution durchführen, nämlich die Agrarrevolution und die nationale Einheit. Das Proletariat nimmt an diesem Kampf teil, aber es tut dies nur als ein weiteres Glied, da das grundlegende Subjekt für den Maoismus die Bäuer:innenschaft ist.

Dieser Kampf ist überwiegend militärischer Natur, es gibt keine Sowjets oder Organisationen der Selbstbestimmung der Massen, sondern eine Guerillaarmee. Der Staat, der entsteht, ist ein Staat, der sich auf eine Armee mit einer im Wesentlichen bäuerlichen sozialen Basis stützt, er entsteht also bereits als bürokratisierter Arbeiter:innenstaat.

Die Strategie dahinter steht im Gegensatz zur Strategie der russischen Revolution, weil die bolschewistische Strategie dazu führen soll, eine ganze Klasse, das Proletariat, auf ein höheres politisches Niveau zu heben und zum Subjekt ihrer Befreiung zu machen. Die Strategie, die sich dagegen aus der chinesischen Revolution ergibt, lautet, dass die Revolution der Bäuer:innen, die gegen die imperialistische Bourgeoisie und die nationale Großbourgeoisie kämpft, den Block der vier Klassen anführen muss.

Für die maoistischen Parteien insgesamt bedeutete diese Strategie eine Variante der stalinistischen „Etappen-Revolution“, das heißt, dass die Revolution eine erste Phase mit der „nationalen“ oder „patriotischen“ Bourgeoisie gemeinsam hat. Da es diese “patriotische” oder “nationale” Bourgeoisie aber nicht gibt, endet die Politik immer in Irrwegen. Im Spanischen Staat kam diese Art von Strategie grundsätzlich als Kapitulation vor den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Pro-Unabhängigkeits-Führungen (in Katalonien, Anm. d. Ü.) zum Ausdruck.

Es gibt eine dritte Strategie im 20. Jahrhundert oder eine Teilstrategie, die mit der chinesischen Erfahrung verbunden ist, nämlich die Strategie, die mit der kubanischen Revolution und der Bewegung des 26. Juni aufkam. Sie besteht in der „Fokustheorie“ oder „Guerilla-Fokus“.

Die kubanischen Revolutionär:innen, insbesondere Ernesto „Ché“ Guevara, zogen die Schlussfolgerung, dass es keiner Krise oder eines Krieges oder gar einer ausländischen Invasion bedarf, um revolutionäre Bedingungen zu schaffen. Man brauche eine unpopuläre Regierung und hungrige Bäuer:innen. Mit diesen beiden Bedingungen sei es möglich, einen Fokus zu schaffen, eine Gruppe von Revolutionär:innen, die auf dem Land (oder in der Stadt, in der Variante der Stadtguerilla, die in Deutschland von der RAF verfolgt wurde; Anm. d. Ü.) strukturiert ist, und durch Aktionen der bewaffneten Propaganda der Fokus selbst die Bedingungen schaffen soll, um die Revolution zu machen.

Der wesentliche Grund für das Scheitern dieser Strategie, die Ché Guevara in Bolivien mit seinem Leben bezahlte, ist einfach: Der Fokus schafft keine revolutionären Bedingungen. Entweder gibt es objektive Bedingungen oder es gibt keine Bedingungen für eine Revolution. Entweder gibt es Krisen und Kriege, die die Revolution entfesseln können, oder es gibt sie nicht. Revolutionär:innen können keine Revolutionen erfinden. Die Fokustheorie ist letztlich die Extremform einer subjektivistischen Konzeption, die darauf vertraut, dass Revolutionär:innen durch bewaffnete Propaganda die objektiven Bedingungen schaffen können, um Revolution zu machen.

Obwohl diese Strategie auf dem Rückzug ist, was mit dem enormen Prozess der Urbanisierung des Planeten in den letzten Jahrzehnten einherging, gibt es Organisationen, die sie weiterhin verfolgen, vor allem in einigen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas – wo die Bäuer:innen immer noch ein relativ bedeutendes Gewicht haben.

Die „Ermattungsstrategie“

Diesen zwei (oder drei) Strategien, die aus den großen Revolutionen des 20. Jahrhunderts hervorgingen – die bolschewistische, die maoistische und die Fokustheorie -, können wir dem gegenüberstellen, was Karl Kautsky, der einer der wichtigsten theoretischen Referenten der Zweiten Internationale (1889 nach dem Bruch mit dem Anarchismus gegründet; Anm. d. Ü.) war, die „Ermattungsstrategie“ nannte. Das ist eine Strategie, die im Gegenteil aus der Abwesenheit der Revolution entsteht.

Olin Wright bezeichnet diese Strategie die Demontage des Kapitalismus und betont, dass für diese Logik der Schlüssel zur politischen Aktion darin besteht, Positionen im kapitalistischen Staat zu erobern, die es ermöglichen, auf friedliche Weise von innen heraus zu einer sozialistischen Perspektive vorzustoßen. Obwohl dies, wenn man es genau nimmt, die Stelle ist, an der diese Strategie endgültig endet. Tatsächlich führte dieser Weg, wie Kautsky selbst und die deutsche Sozialdemokratie 1914 mit ihrer Unterstützung des deutschen Imperialismus im Ersten Weltkrieg zeigten, letztlich in den völligen Bankrott.

Die Debatte dreht sich um die „Ermattungsstrategie“ und die „Niederwerfungsstrategie“- Begriffe, die Karl Kautsky in die Debatte einführt, wobei er sie vom Militärhistoriker Hans Delbrück übernimmt. Kautsky greift diese Kategorien auf, um gegen Rosa Luxemburg zu argumentieren.

1910, in einer Situation, die von Arbeiter:innenkämpfen und massenhaften demokratischen Mobilisierungen geprägt war, erhob Luxemburg die Forderung nach der Notwendigkeit eines politischen Generalstreiks. Kautsky hielt dagegen, es sei unnötig, die sozialdemokratische Organisation (die damals etwa 700.000 Mitglieder, zwei Millionen Mitglieder in den Gewerkschaften und drei Millionen Wähler:innen hatte) in diesen Kämpfen zu riskieren, und der Schlüssel liege stattdessen darin, bei den nächsten Wahlen 1912 einen großen Stimmenanteil zu erhalten. Was für Kautsky auf dem Tisch lag, war eine „Strategie der Ermattung“, das heißt das Vermeiden jeglicher entscheidenden Schlacht, um – so zumindest die Theorie – zum richtigen Zeitpunkt in die Offensive zu gehen.

Rosa Luxemburg antwortete ihm, dass alle seine Ausarbeitungen über die „Strategie der Ermattung“ die Grundlage für eine Orientierung auf einen „Nichtsalsparlamentarismus“ bildeten. Obwohl sich später als wahr herausstellte, was Rosa sagte, war es zu diesem Zeitpunkt noch nicht offensichtlich, denn Kautsky schlug noch vor, dass man im richtigen Moment zu einer „Strategie der Niederwerfung“ übergehen müsse. Was Rosa Luxemburg anbelangt, war sie selbstverständlich nicht antiparlamentaristisch. Der Unterschied bestand darin, dass Rosa die Auffassung vertrat, dass die Sozialdemokratie eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung der fortschrittlichsten Tendenzen des Klassenkampfes in diesem Moment spielen und nicht einfach auf die Wahlen warten sollte.

Was Rosa Luxemburg anspricht, ist ein Irrtum, in den ein großer Teil der Linken – auch derjenigen, die sich als antikapitalistisch und revolutionär verstehen – bis heute verfällt. Das heißt, „Politik“ nur als Wahlteilnahme alle zwei Jahre zu verstehen und „Kampf“ ausschließlich als gewerkschaftlichen Kampf. Ohne die Intervention bei Wahlen zu leugnen, trennt Rosa die politische Intervention nicht von der Intervention im Klassenkampf. Was für Kautsky zwei vermeintlich komplementäre Strategien sind, sind für Rosa zwei alternative Strategien, die einander entgegengesetzt sind. Der Moment des Übergangs zur „Strategie der Niederwerfung“ kommt nie.

Der politische Kampf, der in der Debatte zwischen Kautsky und Luxemburg zum Ausdruck kam, war nicht einfach ein politisch-ideologischer Kampf, sondern es war ein Kampf gegen eine riesige neue materielle Kraft, die entstanden war: die politischen und gewerkschaftlichen Bürokratien in der Massenbewegung. Die Beziehung ist eindeutig: Kautsky war gegen Luxemburg, weil er sich nicht mit der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbürokratie anlegen wollte, die in der Partei ein Vetorecht hatte, während Luxemburgs Ansatz, für einen Generalstreik zu agitieren, direkt zu einem Zusammenstoß mit der Bürokratie führte.

In diesem Punkt sollte Lenin derjenige sein, der den Nagel auf den Kopf traft und einen sehr wichtigen Unterschied zu Luxemburg markierte, indem er erklärte, dass die grundlegende Aufgabe einer revolutionären Partei nicht nur darin besteht, die fortschrittlichsten Elemente zu entwickeln, die durch den Klassenkampf gegeben sind – da waren sie sich einig -, sondern dazu revolutionäre Strömungen innerhalb der Massenorganisationen notwendig sind, um den Bürokratien entgegenzutreten.

Die Strategien der Ermattung und der Niederwerfung sind nicht zwei sich ergänzende Strategien, die man austauscht, wenn die Situation revolutionär wird. Das heißt, es ist nicht so, dass man sich in nicht revolutionären Situationen ausschließlich der Kandidatur zu Wahlen und der Teilnahme an gewerkschaftlichen Lohnkampagnen einmal im Jahr widmen kann, um dann, wenn die Situation revolutionär wird, der kämpferischste Teil zu sein. Die „Strategie der Ermattung“ ermattet am Ende nur die Kräfte der Arbeiter:innenklasse selbst und erlaubt es den Kapitalist:innen, ihre Macht zu festigen.

Wir haben das Beispiel der Sozialdemokratie vor mehr als hundert Jahren analysiert, weil es kein Einzelbeispiel ist: Es ist die Geschichte aller Parteien, die am Ende reformistisch werden. Wir können das gleiche Ergebnis in Spanien in den 1930er Jahren, in Chile in den 1970er Jahren und in Griechenland vor einigen wenigen Jahren sehen. Und obwohl diese Diskussion für viele als eine überholte Auseinandersetzung erscheinen mag, ist diese Debatte in den letzten Jahren auch in den USA mit Nachdruck wieder aufgetaucht, in der Hitze der Entwicklung der Democratic Socialists of America (DSA), die schnell auf fünfzigtausend Mitglieder anwuchs.

Im Vorfeld der vergangenen US-Präsidentschaftswahlen und der Lancierung der Kandidatur von Bernie Sanders trieb die Mehrheit der DSA-Führung die Kampagne „Bernie 2020“ voran und agierte, wie sie sagte, „innerhalb und außerhalb“ einer der wichtigsten und ältesten imperialistischen bürgerlichen Parteien der Welt, der Demokratischen Partei der USA. Um diese Politik zu untermauern, entstand ein erneutes Interesse an der Figur Karl Kautskys und die Verteidigung einer Art „Rückkehr zu Kautsky“, die seine Figur und sein Erbe wiederbelebte, sowie die Idee der Wiederherstellung einer Sozialdemokratie von „vor 1914“, vorangetrieben von der politisch-theoretischen Zeitschrift Jacobin.6

Einer der führenden Befürworter:innen dieser Linie, Eric Blanc, argumentierte, dass Kautskys Theorie eine Grundlage für die „Innen-Außen“-Strategie der Demokratischen Partei verleihen würde. Das heißt, er vertrat die Wahlunterstützung für Bernie Sanders, Alexandria Ocasio-Cortez und andere Kandidat:innen der Demokraten, um auf Wahlebene zu wachsen und später  „Massenbewegungen zu fördern und Hunderttausende von Menschen in unabhängigen Arbeiter:innenorganisationen zu organisieren“.7

Das zentrale Problem dieser Politik ist, dass sie den imperialistischen Charakter des Staates sowie der Demokratischen Partei selbst ignoriert und damit deren immense Fähigkeit zu Kooptation und Zwang – was Gramsci unter dem Begriff des „integralen Staates“ entwickelte -, um die von links kommende und systemkritische Bewegungen zu neutralisieren. Ähnlich war die Logik vieler Anhänger:innen von Podemos im Spanischen Staat, die in der imperialistischen Regierung der PSOE landeten (nicht nur direkte Anhänger:innen von Podemos, sondern auch einige, die es wagen, sich Antikapitalist:innen zu nennen). Wie Matías Maiello in einer Polemik mit Eric Blanc schreibt: „Das konnte für Kautsky, Rosa Luxemburg oder Lenin zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Novum sein; aber für uns, die wir im 21. Jahrhundert leben, ist das längst nicht mehr der Fall“.8

Wenn es sich lohnt, auf die Erfahrungen der deutschen Sozialdemokratie und des „Kautskyismus“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückzugehen, dann nicht, um die gleichen Fehler zu wiederholen, sondern um revolutionäre Lehren zu ziehen; insbesondere, dass es keine revolutionäre sozialistische Politik gibt und geben kann, die nicht antiimperialistisch ist.

Autonomismus und Anarchismus

Schließlich gibt es noch eine fünfte Strategie oder Strategien, die dem entsprechen, was wir als Autonomismus und Anarchismus kennen. Die Autonomen, die ihren Namen von einer Bewegung haben, die in den 1960er und 1970er Jahren in Italien entstand, haben verschiedene Stränge und Ansätze. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der heutige Autonomismus – der im Gegensatz zu dem der 1970er Jahre, der einen starken proletarischen Charakter hatte, im Wesentlichen kleinbürgerlich ist – behauptet, dass wir uns durch den Impuls verschiedener sozialer Bewegungen, ohne irgendeine Art von Zentralität der Arbeiter:innenklasse, aber mit einer bürgerlichen Basis, „jenseits“ des kapitalistischen Staates und seiner Institutionen verorten und neue soziale Beziehungen an den Rändern des Systems aufbauen können.

Das Problem mit dieser Perspektive ist, dass der kapitalistische Staat auf soziale Bewegungen einwirkt, unabhängig von den Absichten derer, die Teil dieser Bewegungen sind. Und er tut dies sowohl durch Repression als auch durch Kooptation (Vereinnahmung, Anm. d. Ü.). Ein Beispiel dafür ist die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) mit ihrem wichtigsten Anführer, Subcomandante Marcos. Vor ein paar Tagen kam ein deutsches Schiff namens „La Montaña“ in Galicien an, mit dem „Geschwader 421“, das aus sieben Delegierten der EZLN besteht. Es ist Teil einer internationalen Tour der Zapatist:innen, um 500 Jahre nach der Eroberung Mexikos in Spanien „einzumarschieren“.

Nun, der Fall des Zapatismus ist sehr lehrreich, um die Grenzen der autonomen Strategie zu erfassen. Die EZLN wurde vom mexikanischen Staat nicht zerschlagen, aber sie wurde im lakandonischen Dschungel isoliert. Obwohl sie einige Forderungen durchsetzte, schaffte es die Bewegung nicht, die Bevölkerung aus Hunger, Elend und kultureller Rückständigkeit (wie mangelnde Spanisch-Kenntnisse oder keine höhere Schulbildung, Anm. d. Ü.) zu befreien. In dieser Situation der Isolation stellt die Politik des Zapatismus auch eine Hürde dar, um den Rest der hundert Millionen Mexikaner:innen – von denen mehr als vierzig Millionen Arbeiter:innen sind – zu vereinen, die als soziale Kraft in der Lage wären, die kapitalistische Ausbeutung und damit die Unterdrückung und Ausplünderung der indigenen Völker zu beenden. Somit endet die autonome Strategie in einer Sackgasse.

Olin Wrights Definition, dass es sich dabei um eine Strategie der Flucht vor dem Kapitalismus handelt, ist in dieser Hinsicht ziemlich zutreffend. Die anarchistische Strategie, obwohl sie Elemente eines „Ausbruchs“ aufweist – insbesondere die aktuellen Varianten des Anarchismus, die in ihrem sozialen Inhalt postmoderner und kleinbürgerlicher sind als der Anarchismus des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts – ist anders als die autonome. Sowohl Anarchismus als auch Bolschewismus haben ein gemeinsames Ziel: den Kommunismus. Es gibt sogar Gemeinsamkeiten der anarchistischen mit der bolschewistischen Strategie in Bezug auf die Entwicklung des Klassenkampfes gegen den kapitalistischen Staat.

Aber der große strategische Unterschied ist, dass für Anarchist:innen die Macht, sobald sie erobert ist, nicht als Teil des Aufbaus einer staatlichen Übergangsmacht ausgeübt werden sollte, die dazu dient, den Widerstand der Kapitalist:innen zu besiegen, den Sozialismus auf nationaler und internationaler Ebene aufzubauen, damit auf diese Weise der Staat abstirbt, wie es der revolutionäre Marxismus vorschlägt. Nein, sie plädieren dafür, den Staat aufzulösen und sofort einen „Assoziation freier Produzent:innen“ oder einen Zusammenschluss von Genossenschaften zu bilden. Denn die Übernahme der Macht und die demokratische Planung der Wirtschaft durch einen Übergangsstaat wäre eine Machtübergabe an eine Bürokratie und gehe gegen die Prinzipien des libertären Kommunismus.

Diese Logik fand ihren vielleicht tragischsten Ausdruck in der Spanischen Revolution, als sich die anarchistische CNT/FAI 1936 in Barcelona weigerten, die „Macht zu übernehmen“, sie also die „Diktatur des Proletariats“ nicht anwenden wollte, sich aber schließlich an der Volksfrontregierung (Regierung zusammen mit „progressiven“ Bürgerlichen, Anm. d. Ü.) beteiligte. So trug sie dazu bei, die „Diktatur des Kapitals“ mit einem demokratischen Antlitz neu zu gestalten. Der große Widerspruch ist, dass die besten Elemente der Revolution und des spanischen Bürger:innenkriegs, das anarchistische Proletariat, unter ideologischen Vorurteilen kämpfte und seine Führung eine falsche Strategie verfolgte, die es in die Katastrophe führte.

Sowohl die autonomen Theorien mit ihrer Förderung von Experimenten zur „Flucht“ aus dem Kapitalismus als auch die anarchistische Strategie und ihre Perspektive, den anarchistischen Kommunismus unmittelbar nach der Zerstörung der bürgerlichen Macht aufzubauen, lassen außer Acht, dass es eine globale kapitalistische Wirtschaft und Staatspolitik gibt. Sie wird von unterschiedlichen imperialistischen Mächten gelenkt und birgt die reale Gefahr einer wirtschaftlichen Isolierung sowie militärischer Angriffe durch den Imperialismus in Koalition mit den Überresten der besiegten bürgerlichen Kräfte.

Keine Art von Experiment, sei es klein oder groß, sei es ein besetzter Raum, eine Genossenschaft oder eine selbstverwaltete Agrarkommune, kann als Oase der Selbstverwaltung in einer kapitalistischen Wüste bestehen. Und wenn sie es tut, dann nur, weil der kapitalistische Staat es auf irgendeiner Ebene zulässt. Denn wenn das nicht der Fall ist, braucht man nur ein paar Dutzend Polizist:innen zu schicken und das Experiment ist vorbei. Wenn es nun um die Planung der Wirtschaft eines ganzen Landes geht, ist es unmöglich, dass sie auch nur einen einzigen Tag überdauert, wenn nicht ein neuer Staat auf der Grundlage der Rätedemokratie und einer eigenen Macht geschaffen wird, das  heißt zunächst Milizen und dann eine eigene Armee, die es ihm ermöglichen, die Armee der Bourgeoisie zu konfrontieren und zu besiegen.

Und vor allem kann die Eroberung der Macht in einem Land, besonders wenn es rückständig ist, nur ein Schützengraben im Dienst der Entwicklung der internationalen sozialistischen Revolution sein. Dies ist einer der grundlegenden Unterschiede, die wir mit der anarchistischen Perspektive haben.

Revolte und Revolution im 21. Jahrhundert

Eingangs haben wir gesagt, dass wir seit 30 oder 40 Jahren keine klassischen Revolutionen mehr gesehen haben. Nach dem Ausbruch der kapitalistischen Krise von 2008 erlebten wir jedoch zwei große Zyklen des weltweiten Klassenkampfes. Der erste hatte den Ausbruch des sogenannten „Arabischen Frühlings“ in mehreren Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens als Epizentrum, die sich gewaltsam gegen diktatorische Regimes stellten und abgelenkt wurden oder harte Repression erfuhren. Ihm folgte eine Reihe von friedlichen Revolten in Europa, wie die der „Empörten“ der 15M-Bewegung im Spanischen Staat; oder die Bewegung des Taksim-Platzes in der Türkei; die in Lateinamerika, wie die Massenproteste Juni 2013 in Brasilien; sowie die Intensivierung des Klassenkampfes in Griechenland.

Der zweite Zyklus hatte seine Hauptmomente beim Ausbruch der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich Ende 2018, ein Prozess, der viel weiter fortgeschrittener und gewalttätiger war als der von 15M in Spanien (so auch die staatliche Repression); die katalanische Unabhängigkeitsbewegung, der, obwohl friedlich, einer brutale Antwort des spanischen monarchischen Staates folgte; oder die Proteste, die in Hongkong stattfanden. Seit 2018/19 wurde der „Arabische Frühling“ mit den Aufständen in Algerien und im Sudan reaktiviert, es gab massive Proteste gegen die Verelendung im Irak, gegen die Regierung im Libanon und weitere Beispiele. Eines der größten Epizentren lag diesmal in Lateinamerika, mit den revolutionären Tagen, die Chile erlebte; zuvor mit dem Aufstand in Ecuador in kleinerem Maßstab; und auch mit den Mobilisierungen in Puerto Rico, Honduras und Haiti. Dieser zweite Zyklus wurde durch die Pandemie teilweise unterbrochen, setzt sich aber dennoch fort, wie wir es mit dem Aufstand in Kolumbien sahen; aber auch in anderen Regionen des Planeten, wie im heldenhaften Widerstand der Arbeiter:innen, allen voran der Frauen, gegen den Militärputsch in Myanmar; im erneuten Widerstand der palästinensischen Jugend gegen die Unterdrückung durch den zionistischen Staat Israel; und in der jüngsten Rebellion der Jugend in Tunesien. Auf der anderen Seite sehen wir in Europa, dass die Situation, mit Ausnahme von Frankreich, sehr passiv ist. Die Pandemie hat bisher die Tendenzen zum Klassenkampf besänftigt und die kapitalistischen Staaten wollen, dass das so bleibt, deshalb stecken sie tonnenweise Geld in die Unternehmen, damit sie nicht bankrott gehen und weiter Geschäfte machen. Aber gleichzeitig bereiten sie harte Angriffe vor, sodass die Situation jeden Moment explodieren könnte.

Dieser zweite Zyklus, den wir gerade durchlaufen, ist nicht das Nebenprodukt großer Katastrophen (wie Wirtschaftscrashs oder Kriege), wie es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Fall war, sondern eine Reaktion auf die Krise des neoliberalen Paradigmas, die sich seit 2008 entwickelt hat. Und sein grundlegendes Merkmal ist die Revolte.9 Das heißt, die Explosion von spontanen Aktionen, die die Energien der Massen freisetzen und ein erhebliches Maß an Gewalt haben können. Im Gegensatz zu Revolutionen zielen Revolten nicht darauf ab, die bestehende Ordnung zu ersetzen, sondern Druck auf die Macht auszuüben, um Forderungen durchzusetzen. In gewisser Weise wäre es, Erik Olin Wrights Taxonomie folgend, die gewalttätigste und explosivste Form einer Strategie des Widerstands gegen den Kapitalismus.

Die Strategie des Widerstands gegen den Kapitalismus führt, wie wir bereits gesagt haben, nicht zur Revolution. In diesem neuen Zyklus des Klassenkampfes haben wir sowohl die Potenziale der Revolte als auch ihre Grenzen gesehen. Insbesondere ihr „staatsbürgerlicher“ Charakter und die Abwesenheit der Arbeiter:innenhegemonie in den von der Arbeiter:innenklasse kontrollierten „strategischen Positionen“. Zwischen der Strategie des Widerstands und der Strategie der Zerschlagung des Kapitalismus, oder klassisch ausgedrückt: zwischen Revolte und Revolution, gibt es jedoch keine unüberwindbare Mauer. Revolten enthalten im Keim die Möglichkeit, das Moment des Widerstands oder des extremen Drucks zu überwinden und den Weg zur Revolution zu öffnen. Das hängt von ihrer Entwicklung ab und vor allem davon, ob die Arbeiter:innenklasse und die Massenbewegung in ihrem Bewusstsein und ihrer Organisation weiter gehen können. Auf diesem Terrain greifen die subjektiven Faktoren und vor allem die politischen Führungen ein.

Aus diesem Grund, auch wenn sie nicht unsere Strategie zum Ausdruck bringen, unterstützen die Revolutionär:innen der FT die Aufstände und nehmen an ihnen teil. Wir sind Teil dieser Prozesse, aber um in ihnen für eine bolschewistische Strategie zu kämpfen: damit Institutionen einer Einheitsfront der Massen (das heißt der Arbeiter:innen und anderer Sektoren der Armen und Unterdrückten, Anm. d. Ü.) entstehen (wie die Koordinationskomitees oder andere Organismen der Selbstorganisation), die die Perspektive der Doppelherrschaft und des aufständischen Generalstreiks voranbringen können. Und in diesem Kampf stellen wir uns gegen die Strategien der Populist:innen, Autonomen und Zentrist:innen, deren Strategie diese Prozesse in die Sackgasse führt, sodass sie bestenfalls mit kosmetischen Reformen entschärft und schlimmstenfalls blutig niedergeschlagen werden.

Die strategische Schlüsselfrage ist, wie die Explosionen der Wut und des Klassenkampfes, die in den Revolten zum Ausdruck kommen, sich nicht erschöpfen, sondern ihr Potential entfalten und den Weg zur Revolution öffnen. Ein Übergang, der bei weitem nicht automatisch ist, sondern der nur erreicht werden kann, wenn die Arbeiter:innenklasse mit ihren Methoden des Kampfes und der Eroberung der Hegemonie eingreift, um die verschiedenen Sektoren im Kampf zu vereinen und eine alternative Macht der Ausgebeuteten und Unterdrückten aufzubauen. Hierfür ist die Rolle der revolutionären Partei von grundlegender Bedeutung.

Eine Partei für den Sieg

Katastrophale Momente der Krisen und Kriege sind, wie wir gesehen haben, das Merkmal des Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium, die sich früher oder später deutlich zeigen. Wir leben heute in einer zunehmend konfusen Welt. Das grundlegende strategische Problem ist, ob es in den kritischen Momenten möglich sein wird, eine Kraft zu artikulieren, die in der Lage ist, eine revolutionäre Lösung für die Situation zu geben. Und das wird zu einem großen Teil schon weit vor dem Ausbruch einer Katastrophe geschehen. Es geht nicht nur darum, „Widerstand“ zu leisten oder Angriffen zu begegnen, sondern die materiellen Kräfte zu artikulieren, um zu gewinnen.

Aber dafür ist es notwendig, um es im Duktus von Pablo Iglesias zu sagen, alle Machtfaktoren zu konfrontieren, die das Eigentum der Kapitalist:innen verteidigen. Im Gegensatz zu Pablo Iglesias sind wir nicht skeptisch gegenüber den Kräften, die für diesen Kampf zur Verfügung stehen: die Arbeiter:innenklasse. Heute ist die Arbeiter:innenklasse weltweit so groß wie nie zuvor. Weit entfernt vom Mythos des Endes der Arbeit haben sich in den letzten Jahrzehnten Millionen von Menschen auf der ganzen Welt, angefangen mit Ländern wie China und Indien, im Dienstleistungssektor, in der Industrie, im Transportwesen und in weiteren Bereichen proletarisiert, die heute entlohnt werden und früher nicht. Unsere Klasse hat ein immenses soziales Gewicht, um zu siegen. Aber sie kann nicht allein aufgrund ihres sozialen Gewichts siegen. Deshalb ist die strategische Arbeit mehr denn je unerlässlich.

Die Bedeutung der Strategiediskussion ist zentral, um die täglichen Kämpfe in den Dienst des Aufbaus einer revolutionären Kraft zu stellen, die in der Lage ist, in kritischen Momenten die Macht zu erobern, die Kapitalist:innen zu besiegen und einen weiteren Horizont für die Menschheit zu eröffnen. Das bedeutet natürlich, dass wir über die bloße Teilnahme an Wahlen, an der Gewerkschaftsroutine oder an partiellen Kämpfen hinausgehen müssen.

Wenn wir also über die großen Strategien des 20. Jahrhunderts und die Gültigkeit der bolschewistischen Strategie diskutieren, dann nicht, um eine akademische Übung zu machen. Sondern damit die Genoss:innen, die Teil unseres „Netzwerks prekärer Arbeiter:innen“ sind und anfangen, sich mit uns in der Arbeiter:innenbewegung zu organisieren, nicht nur an ihre Betriebe und ihre Gewerkschaftssektionen denken; damit die Student:innen nicht nur daran denken, wie sie an den Universitäten oder in den Fakultätsversammlungen intervenieren können; damit die Genoss:innen, die in soziale Bewegungen intervenieren, nicht nur an die Nachbarschaftsaktivitäten oder die Demonstrationen denken. Wir besprechen die Strategie, damit jede:r ihre:seine Arbeit als taktisches Instrument für unsere Ziele sieht, um die Kunst des Siegens zu beherrschen. Dafür ist die Strategie nützlich. Um nicht nur zu kämpfen, nicht nur zu widerstehen, nicht nur zu organisieren, sondern vor allem den Sieg anzupeilen.

Dieser Artikel ist die bearbeitete Version eines Vortrags, den der Autor am 25. Juni bei der Antikapitalistischen und Revolutionären Sommerschule der CRT in Madrid hielt. Er erschien urspünglich auf Spanisch bei Contrapunto.

Fußnoten

1. Erik Olin Wright, Linker Antikapitalismus im 21. Jahrhundert. Was es bedeutet, demokratischer Sozialist zu sein. VSA Verlag, Hamburg 2019.

2. Daniel Bensaïd, Was ist Trotzkismus?. S. 104.

3. John Holloway, Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen. Westfälisches Dampfboot, Münster.

4. Pablo Iglesias, zitiert nach: Matías Maiello, Ermattung oder Kampf: zwei entgegengesetzte Strategien, Klasse Gegen Klasse, 20.6.2018.

5. Emmanuel Barot, #1917. Repensar el doble poder para reconquistar el poder, Ideas de Izquierda, 10.11.2017.

6. In unseren Wochenzeitschriften Contrapunto und Ideas de Izquierda Semanario veröffentlichten wir ein Dossier mit einigen der neuesten Artikel zu dieser Polemik.

7. Eric Blanc, zitiert nach: Matías Maiello, El retorno de Kautsky después de vivir un siglo… de imperialismo, Ideas de Izquierda, 19.5.2019.

8. Matías Maiello, El retorno de Kautsky después de vivir un siglo… de imperialismo, a.a.O.

9. Für einen ausführlichen Blick auf die Merkmale dieser Prozesse und die Debatte um Revolte und Revolution siehe Matías Maiello, Revolte und Revolution im 21. Jahrhundert, Klasse Gegen Klasse, 14.11.2019 und Die Illusion der Revolution durch Revolte, Klasse Gegen Klasse, 4.12.2019

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