Sommerinterview: In erster Linie Patriotismus

02.08.2023, Lesezeit 9 Min.
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Foto: Ricarda Lang / Raimond Spekking (Wikipedia Commons)

Am Sonntag interviewte ARD-Journalist Matthias Deiß die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang. Dabei ging es um die deutsche Wirtschaft, wie Lösungsvorschläge der Ampelkoalition sie retten sollen und um die rassistische Kriminalisierung des Görlitzer Parks. Dabei romantisierte sie ihre „Fortschrittskoalition“ und machte klar, wie patriotisch sie eigentlich wirklich ist.

Vom Absturz „unserer“ Wirtschaft war die Rede. Während in China, Russland und den USA die Wirtschaft wachse, sei laut IWF hierzulande ein Rückgang um 0,3 Prozent zu erwarten. „Ich wehre mich dagegen, unsere Wirtschaft und unser Land schlecht zu reden“, entgegnete „Fräulein“ Lang, wie Deiß sie despektierlich nannte. Ihrer Meinung nach sei der Krieg Schuld an der ökonomischen Lage der Nation. Eine verkürzte Analyse. Denn die Krise gab es schon davor. Mindestens seit 2020, eigentlich sogar seit 2008, da die Weltwirtschaft in ihrer Gesamtheit es nie geschafft hat, aus ihr heraus in eine Phase des Booms einzutreten. Stattdessen fügte die Baden-Württembergerin hinzu, „wir“ hätten vor der Herausforderung gestanden, innerhalb von einem Jahr von russischem Gas unabhängig werden zu müssen. Dabei hatte niemand die Ampel zu Sanktionen gezwungen. Vielmehr entschied sie selbst, dieses klassische Register des Wirtschaftskrieges zu ziehen. Entgegen aller Behauptungen, Putin die Mittel für seinen Krieg entziehen zu wollen, trafen die Sanktionen schon zu Anbeginn des Krieges durch die sukzessive Inflation und die angekündigten Sparmaßnahmen in erster Linie Beschäftigte in Russland selbst und auch in der ganzen Welt – und nicht (nur) die Oligarchen. Fast anderthalb Jahre später ist umso klarer: Der Krieg ist gekommen, um zu bleiben.

Doch spielten weder die russische noch die ukrainische oder noch irgendeine Bevölkerung außer der Deutschen im Sommerinterview eine Rolle. Stattdessen wurde durchweg patriotisch gesprochen. „Ich glaube daran, was dieses Land kann. Ich glaube, es hat im letzten Jahr seine Stärke bewiesen“, ist nicht das einzige Bekenntnis Langs zur Nation. Auch sprach sie vom Wirtschaftsstandort Deutschland, dessen Funktionieren unter anderem durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG) sichergestellt werden solle. Dieses gibt es schon seit 2019. Schon damals wurden Migrant:innen in die Kategorien „gut“ und „schlecht“ eingeteilt. Das heißt, dass die Hürden für die Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte abgebaut werden (ihre Arbeits- und Lebensbedingungen aber nicht substantiell verbessert), während Europa sich gegen Geflüchtete aus Kriegsgebieten immer weiter abschottet – unter anderem mit dem Asylkompromiss. An diesem werde die grüne Regierungsbeteiligung aller innergrünen Differenzen zum Trotz nicht scheitern, versprach Ricarda Lang an der Grünen Parteispitze dem Bundeskanzler Olaf Scholz. Mit dem Punktesystem erreicht die Absurdität nun ihren Höhepunkt.

Neben der Anwerbung von Fachkräften schlug Lang zur Sicherung des Fundaments „unseres“ Wohlstands, „unserer“ Wirtschaft, eine „zielgerichtete Investitionsagenda für Deutschland“ vor. Diese bestehe aus: 1. einem Industriestrompreis-Deckel, um die Abwanderung von Industrien zu verhindern, 2. dem Ausbau der allgemeinen Infrastruktur, wie zum Beispiel Krankenhäusern und 3. einem Bundestariftreuegesetz, das mehr Gerechtigkeit für Beschäftigte schaffen soll. Mal abgesehen davon, dass Lauterbachs Reform der Profitorientierung im Gesundheitssektor keinesfalls ein Ende setzt, sondern die Ökonomisierung durch als Zentralisierungen getarnte Sparmaßnahmen weiter vorantreibt und deshalb von einem Klinikausbau wohl kaum die Rede sein kann. Wenn Ricarda Lang von staatlichen Investitionen spricht, meint sie eher Subventionen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Sie verwechselt das mit Investitionen von Bossen und geht davon aus, dass staatliche Subventionen zu mehr Investitionen durch das Kapital führen. Doch es spricht nicht viel für dieses Vorhaben, denn trotz millionenschwerer Bezuschussung wird die Angst vor einer zweiten Lehman-Pleite wie vor 15 Jahren bei vielen Unternehmen weiter bestehen. Diese Angst hält sie weiterhin von Investitionen ab.

Unstimmigkeiten in der Ampel? Lang will davon nichts hören

Die Hoffnung stirbt bekanntermaßen zuletzt. „Wir schaffen das“, ist das Signal, das Ricarda Lang dem ARD-Journalist Deiß gab, nachdem dieser sie damit konfrontierte, dass statt 1.000 im letzten halben Jahr nur 300 neue Windräder gebaut worden sind. Dass unser Strom 2035 zu 100 Prozent erneuerbaren Energien entspringt, ist nicht nur deshalb unrealistisch, weil selbst im Ländle, wo die Grünen den Ministerpräsidenten stellen, im selben Zeitraum gerade einmal elf Windräder zu den bisherigen gestellt wurden. Sondern auch, weil die Grünen selbst sogar Windräder abreißen ließen, um im Tagebau Garzweiler bei Lützerath weiter Kohle abbauen zu können.

Aber Abgrenzung sei nicht das politische Gebot der Stunde, so Lang an anderer Stelle in Bezug auf die FDP. Offensichtlicherweise ist das Stundengebot der Ampel, angesichts der aktuellen Umfragewerte auf Teufel komm raus nicht noch zerstrittener wirken zu wollen. Stattdessen werde man sich „einfach mal zusammenreißen“, aus der Mitte heraus Politik machen und – noch einmal – das Land an erste Stelle stellen. Ist Langs Plädoyer also eines dafür, dass sich sowohl Grüne als auch FDP der Agenda-2010-SPD als mittigste der drei Regierungsparteien unterordnen? Für Protektionismus à la Trump? Die 29-Jährige gibt einen klaren Ausblick auf das, was uns bevorsteht: Kritik an den Koalitionspartner:innen wird es seitens der Grünen-Partei von nun an weniger bis gar nicht hageln.

Wie das gehen soll, bleibt unklar. Denn die Uneinigkeiten in der Ampel werden wohl kaum abnehmen. Auf der einen Seite plädieren die Grünen für zielgerichtete Steuersenkungen für kleinere und mittlere Einkommensstufen und eine Vermögensumverteilung. Die FDP unter Lindner, auf der anderen Seite, will die Unternehmenssteuerlast auf 25 Prozent senken und damit die Wirtschaft „ankurbeln“ – von einer Erbschaftssteuer und Umverteilung ist da weniger die Rede. Ein Kuschelkurs der Ampel, wie Lang also indirekt äußert, wird auf Dauer daher nicht möglich sein. Während also das Image einer „funktionierenden“ Koalition aufrechterhalten wird, sind die Armen und Arbeiter:innen weiterhin gezwungen, auf Änderungen der Vermögens- oder Erbschaftssteuer zu warten – wenn sie nicht streiken und kämpfen.

Denn auch die Grünen äußern sich undeutlich bezüglich einer Erbschaftssteuer. Katharina Beck (Mitglied des Bundestages) sieht „gute Gründe, die Debatte über Vermögensverteilung aus der Tabu- in die Gestaltungsecke zu bringen.“ Doch wie genau soll diese „Gestaltungsecke“ aussehen? Ist dies ein Bekenntnis zur Erbschaftssteuer, und wenn ja, für welche Erbgröße und Höhe des Steuersatzes plädiert sie damit?

Die Mehrheit der Menschen in Deutschland erbe nichts, „das meiste Privatvermögen wird heute durch Erbschaften generiert und nicht durch Arbeit“, stellt die Grüne richtigerweise fest. Trotzdem fordert sie eine völlig unzureichende Vermögenssteuer: Erst ab zwei Millionen Euro Vermögen pro Person solle diese erhoben werden. Damit bleibt die angeblich fortschrittliche Partei selbst hinter der Forderung der österreichischen Millionenerbin Marlene Engelhorn zurück, jedes Erbe ab einer Million Euro zu besteuern.

Lang fokussiert sich in dem Interview stattdessen mehr auf die Kindergrundsicherung und nennt diese sogar „das soziale Projekt dieser Ampel“. Die Kürzungen im Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend bei diesem Projekt, also die Zahlung von einer Milliarde statt wie geplant zwölf, werden von ihr dabei aber nicht erwähnt. Auch dass über Nacht 100 Milliarden für das Militär zur Verfügung standen, lässt sie aus.

Nein, ihr habe es gereicht, die Arche in Marzahn-Hellersdorf zu besuchen und einzusehen, dass Deutschland Chancengleichheit und folgend die Kindersicherung brauche. Der Leiter der Arche fragte sie unter Anderem: „Warum sollen die Kinder sich für einen Job anstrengen, der sie aus der Armut rausholt?“ Dass dies in Deutschland nicht mit einer Kindergrundsicherung überwunden wird, scheint Lang nicht zu sehen.

Görlitzer Park – Instrumentalisierung von patriarchaler Gewalt für die rassistische Aufrüstung der Polizei

In der abschließenden Schnellfragerunde des Interviews antwortet Lang auf die Frage,  ob sie nachts alleine durch den Görlitzer Park gehen würde mit: „Im Moment nicht, nein“. Dies bezieht sich klar auf die Vergewaltigung einer Frau letzte Woche im Görlitzer Park. Laut Tagesspiegel „soll es sich [bei den Tätern] um Drogendealer handeln“. Eine Quelle darüber, wer diese Aussage trifft, ist nicht hinterlegt. Umso mehr erscheint es wie eine reaktionäre Feststellung, die gezielt in das rassistische Narrativ einer von migrantischen Männern ausgehenden Gefahr für Frauen spielt.

Der Görlitzer Park ist dabei vermehrt Gesprächsthema der deutschen Politiker:innen. In diesem Kontext plädiert die CDU – wie schon so oft  – für mehr Polizeipräsenz. Timus Husein (CDU, Mitglied des Abgeordnetenhauses) fordert eine Umzäunung und zeitweise Schließung des Parks, Security an den Eingängen, eine mobile Polizeiwache sowie „konsequente Bestrafung“. Dabei wirkt die Vergewaltigung eher wie ein Argument für eine Ausweitung der Polizei als ein Anlass für eine Debatte der grundliegenderen Gegebenheiten. Was wir brauchen, ist nicht noch mehr Polizei, die selbst ein Gewaltproblem hat, an deren Folgen etliche Menschen sterben. Was wir brauchen, sind selbstorganisierte, feministische und antikapitalistische Arbeiter:innen-Milizen, die ohne rassistische und sexistische Ideologien für die Sicherheit von Betroffenen sorgen können.

Nur selten wird die Frage gestellt, warum Menschen sich erst entscheiden beziehungsweise indirekt gezwungen werden, Drogen zu verkaufen, und warum sie sich an bestimmten Plätzen, wie beispielsweise dem Görlitzer Park, sammeln. Eine kurzfristige Lösung wäre dabei die echte Entkriminalisierung von Drogen. Längerfristig ist eine strukturelle Veränderung unserer Gesellschaft nötig, damit so etwas gar nicht erst entstehen kann.

Außerdem müssen wir für offene Grenzen kämpfen und brauchen ein Programm für die Gleichberechtigung migrantischer Arbeitskräfte sowie eine wahrhaftige Vermögenssteuer, die entschädigungslose Enteignung all jener, die inmitten der Krise, zum Teil durch die an Grundgütern wie beispielsweise Wohnraum, Rekordgewinne machen – damit die Reichen von ihrem hohen Thron absteigen müssen.

Es braucht mehr als nur das: Wir fordern jetzt eine Erbschaftssteuer und eine einhergehende Umverteilung!

 

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