Ein liberales Staatsbürgerschafts­recht und eine rassistische Silvester-Debatte

09.01.2023, Lesezeit 9 Min.
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Foto: Inés Heider

Zu Jahresbeginn werden migrantische Jugendliche als „Integrationsverweigerer“ beschimpft. Gleichzeitig plant die Bundesregierung eine Liberalisierung des Staatsbürgerschaftsrecht. Wie geht das zusammen?

Nach dem Jahreswechsel ist eine erneute rassistische Debatte entbrannt: So will die Berliner CDU die Vornamen von Tatverdächtigen wissen, um ihr Deutschtum zu prüfen. In der bürgerlichen Politik und Presse war viel von „bestimmten Personengruppen“ die Rede. Rufe nach Sperrzonen in Vierteln mit hohem Migrationsanteil werden laut. Da interessiert es eine Woche später auch kaum noch, dass die ursprünglich verbreiteten Zahlen überhöht waren: Im Zusammenhang mit Angriffen auf Polizei oder Rettungskräfte in Berlin wurden 38 Personen festgenommen – nicht 145 oder noch mehr, wie zuvor verkündet.

Nancy Faeser (SPD) war eine der ersten: „Integrationsverweigerer“ sollen laut der Bundesinnenministerin hart bestraft werden. Aus angestauter Wut und Frustration Jugendlicher wird eine so altbekannte wie einfache Botschaft: Die Ausländer sind schuld. Aber nicht irgendwelche Ausländer, sondern nur diejenigen, die nicht integriert werden wollen. Auf sie muss man draufhauen, „mit harter Hand und klarer Sprache – aber ohne rassistische Ressentiments zu schüren“, so Faeser, wobei der Nachsatz angezweifelt werden darf.

Gleichzeitig plant das von Faeser geleitete Innenministerium eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Darin soll die bisher geltende Optionspflicht abgeschafft werden, also dass in Deutschland geborene Jugendliche zwischen einer Staatsbürgerschaft wählen müssen, wenn sie erwachsen werden. Weiterhin soll die Aufenthaltsdauer bis zur Möglichkeit der Einbürgerung von acht auf fünf, bei „besonderen Integrationsleistungen“ auf drei Jahre verkürzt werden. „Besondere Integrationsleistungen“ sind Leistungen in Schule, Beruf oder Ehrenamt. Ein formeller Sprachtest für Menschen ab 67 Jahren soll künftig wegfallen. Und Kinder ausländischer Eltern werden Deutsche, wenn ein Elternteil schon seit fünf Jahren rechtmäßig in Deutschland lebt.

Bemerkenswert an der Ankündigung des Innenministeriums ist der Anreiz der „besonderen Integrationsleistungen“, der das Grundprinzip der “modernen” Migrationspolitik in Deutschland zeigt: Wer sich anpasst, brav ist und nützlich für die Wirtschaft, soll Erleichterungen bekommen. Lob für das neue Gesetzesvorhaben kam bereits vom Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Der erklärte im Handelsblatt, Deutschlands Fachkräfteproblem werde sich durch Demographie und Wettbewerb „massiv verschärfen“ und das neue Gesetz mache Deutschland attraktiver für ausländische Fachkräfte.

FDP-Fraktionschef Christian Dürr kommentierte dazu bereits im November gegenüber dem Deutschlandfunk, Migration müsse in den Arbeitsmarkt und „nicht in die sozialen Sicherungssysteme“ gelenkt werden. Joachim Herrmann (CSU) lehnt das neue Gesetzesvorhaben zwar ab, erkennt aber allgemein die Notwendigkeit qualifizierter Zuwanderung an – ein Wandel auch bei der Union, die bis in die 2000er noch meinte, Deutschland sei kein Einwanderungsland. In der jetzigen Bundestagsdebatte betonte die FDP zur Gesetzesinitiative, es gelte das Motto „mehr reguläre Migration, weniger irreguläre Migration“, womit er sich auf die im Ampel-Koalitionsvertrag verankerte „Rückführungsoffensive“ bezog. Es ist außerdem davon auszugehen, dass das endgültige Gesetz noch von der Ampel nach rechts verschoben wird und nicht alle Versprechungen erfüllt werden.

Mehr Zuckerbrot, mehr Peitsche

Das deutsche Migrationsregime ist janusköpfig: Aus ihm sprechen Integration und Repression zugleich. Sie differenzieren sich bereits in den letzten Jahren aus, um eine möglichst kapitalfreundliche Steuerung und Kontrolle von Migration zu ermöglichen.

Das am 1. Januar in Kraft getretene Chancen-Aufenthaltsrecht ist beides in einem Gesetz: Zuckerbrot und Peitsche. So verkündete die Bundesregierung, Kettenduldungen zu beenden: 136.000 „bereits in Deutschland gut integrierte Menschen“, die geduldet, gestattet oder mit Aufenthaltsstatus in Deutschland leben, können nach fünf Jahren ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten. Aber nur, wenn sie sich „ordentlich benehmen“, also sich an die schwammige „freiheitlich demokratische Grundordnung“ halten und keine Gesetze brechen. Denn gleichzeitig soll das Chancen-Aufenthaltsrecht im Sinne der „Rückführungsoffensive“ die schnellere Abschiebung von Straftäter:innen und „Gefährdern“ ermöglichen. Wobei Gesetzesbruch bedeuten kann, gegen rassistische Migrationsgesetze verstoßen zu haben, und der Begriff „Gefährder“, dem keine Straftat vorausgeht, als juristisch heikel gilt.

Für „gut integrierte“ Migrant:innen wurde bereits 2019 die Fachkräfteeinwanderung erleichtert. Die im Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG) befristeten Regelungen wurden nun entfristet und Eheleute von Drittstaatenangehörigen brauchen nun keinen Sprachnachweis mehr zum Nachzug. Das FEG schaffte das Inländerprimat (also die „Vorrangprüfung“, dass Arbeitsplätze zuerst an Deutsche vergeben werden müssen) für bestimmte Berufe ab. Es erleichterte auch die Einreise zur Ausbildungs- und Arbeitssuche, ermöglichte der Bundesagentur für Arbeit Kooperationen mit anderen Ländern und erlaubte Unternehmen, Fachkräfteverfahren gegen Geld zu beschleunigen. Und Integrationskurse sollen schneller ermöglicht werden, als „Beitrag zur Teilhabe und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt“.

„Teilhabe und Zusammenhalt“ gelten aber nicht für alle: Asylsuchende und geduldete Menschen erhalten nicht einmal das lächerlich niedrige Bürgergeld, sondern verbleiben im Asylbewerberleistungsgesetz. Das Asylbewerberleistungsgesetz unterschreitet das Existenzminimum, wie Amnesty International zuletzt erneut anklagt und dessen Abschaffung fordert: Geflüchtete müssten wie alle anderen auch Zugang zu den Sozialsystemen haben, so die Menschenrechtsorganisation. Und um Neujahr gab die EU bekannt, ihre „Rückführungen“ weiter zu forcieren, lobte dabei ausdrücklich die Ernennung von Joachim Stamp (FDP) zum „Sonderbeauftragten für Migration“ durch Innenministerin Faeser.

Der Fachkräftemangel als ökonomischer Kern „moderner“ Migrationspolitik

Das führt zum ökonomischen Kern der gleichzeitigen Zuwanderungs- und Repressionspolitik Deutschlands: Eines der wichtigsten strukturellen Hemmnisse der deutschen Wirtschaft ist der Fachkräfte- und insgesamt Personalmangel geworden. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klima sieht einen flächendeckenden Fachkräftemangel besonders im Handwerk, der Metall- und Elektroindustrie, dem MINT-Bereich sowie im Gesundheitssektor. Es gibt nun drei Möglichkeiten mit diesem Personalmangel umzugehen: Erstens, man schafft bessere Arbeitsbedingungen und Löhne. Zweitens, man presst Rentner:innen und Arbeitslose in Arbeit. Drittens, man holt sich Arbeitsmigration. Die Lösung der liberalen Bourgeoisie besteht aus einer Mischung aus zwei und drei. Oder wie es das Wirtschaftsministerium formuliert: „Besonders die Potenziale bei Frauen, Älteren, Menschen mit Migrationshintergrund und Jugendlichen ohne Ausbildung sowie Menschen mit Behinderung können stärker genutzt werden“. Und: „Um das Erwerbspersonenpotenzial dauerhaft auf seinem heutigen Niveau zu halten, müssten von nun an jedes Jahr 400.000 Personen mehr nach Deutschland ein- als auswandern“.

Die Pflege beispielsweise braucht bereits jetzt 100.000 Arbeiter:innen mehr als sie hat, Tendenz steigend. Migrant:innen sollen zu den bekannten, desolaten Bedingungen in Deutschland arbeiten, da immer weniger Menschen aus Deutschland eine Ausbildung im maroden Gesundheitswesen machen wollen. Wegen Personalmangel wurden auch für das „Wirtschaftswunder“ ab den 1950er Jahren die „Gastarbeiter“ ins Land geholt, damals in die Industrie. Nach der Ölkrise und der Streikbewegung 1973 waren sie dann nicht mehr erwünscht, wurden überflüssig und gefährlich, woraufhin Willy Brandt (SPD) den Anwerbestopp erklärte. Dieser historische Anwerbestopp wird nun aus wirtschaftlichen Gründen Stück für Stück wieder aufgehoben, begleitet von Repression. Dafür werden gesetzliche Regelungen angepasst, um mehr Menschen mit Ausbildungen ins Land zu locken.

Eine neue Generation gegen Neoliberalismus und Rassismus

Das Kapital braucht Arbeit. Aber eine selbstbewusste migrantische Jugend möchte die liberale Bourgeoisie dabei eben nicht haben. Sie möchte eine dankbare migrantische Jugend, die ihren Platz kennt, und dieser Platz ist unten. „Integrationsverweigerer“ sind ihr ein Dorn im Auge.

Damit kommen wir zurück zur rassistischen Silvesterdebatte: Mit einer idealistischen Weltanschauung könnte man meinen, liberale Ideen wie Weltoffenheit setzen sich nach und nach durch, wenn auch von Rückschlägen begleitet, so werde Deutschland doch ein immer offeneres, eben „moderneres“ Land. Aber die juristische, politische und soziale Realität in Deutschland lenkt den Blick auf ein anderes Bild: Während Deutschland zwar offensiver um Einwanderung wirbt, ist der Kapitalismus mit seiner Presse, seinen Parteien und seinen Theorien um so mehr bemüht, Migrant:innen zu disziplinieren. Nicht nur Jugendliche in „Brennpunkten“ sollen die Rufe nach Repression hören, sondern alle migrantischen Jugendlichen, die auf die Idee kommen aufzubegehren – sei es gegen staatliche Auflagen, gegen die Inflation oder gegen Ausbeutung am Arbeitsplatz.

Auf diese Weise schaffen die kapitalistischen Triebkräfte, die neue Migrant:innen zum Arbeiten nach Deutschland holen und diese disziplinieren, eben jene Armee, die den Kapitalismus zu Fall bringen wird. Diese Armee ist eine Arbeiter:innenklasse, die den Neoliberalismus ebenso kennt wie den Rassismus, und in der sich alt eingesessene Gewerkschafter:innen strategisch verbünden werden mit jungen, oft migrantischen Auszubildenden, Studierenden und Schüler:innen. Zum Beispiel, um gegen eine Erhöhung des Renteneintrittsalters zu kämpfen wie in Frankreich, für Entlastungstarifverträge und gegen Ungleichbehandlung vor dem Gesetz und rassistische Polizeimaßnahmen. Für diese Perspektive treten wir in der Jugend und in den Gewerkschaften ein, deren Bürokratien bemüht sind, politische und ökonomische Forderungen zu trennen. Wir dagegen sind für eine Politisierung der Tarifrunden und für Kämpfe gegen Inflation, für Selbstorganisierung und für eine anführende Rolle der Arbeiter:innenbewegung in den Kämpfen gegen Unterdrückung und Fragmentierung, um eine lebenswerte Zukunft aller in der Abschaffung des Kapitalismus zu erstreiten.

 

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