Bürgergeld bleibt Hartz IV: Ampel macht weiter mit Sanktionen, Armut und Niedriglohnsektor

26.11.2022, Lesezeit 5 Min.
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Das Bürgergeld als große Sozialreform der Ampel-Regierung ist gescheitert. Insbesondere die weiterhin geltenden Sanktionen vom ersten Tag an halten das Druckmittel Hartz IV aufrecht.

Nach wochenlangen Diskussionen und dem vorläufigen Scheitern im Bundesrat wurde am Freitagmorgen das Bürgergeld als Ersatz von Hartz IV ab Januar 2023 beschlossen: Mit 557 Ja-Stimmen gegen 98 Nein-Stimmen und zwei Enthaltungen nahmen die Abgeordneten den Kompromiss des Vermittlungsausschusses an. Einen Kompromiss, der darin besteht, die großen Reformen, die mit dem Bürgergeld kommen sollten, abzulehnen. Union und FDP sehen das anders. So äußerte Johannes Vogel (FDP), man habe damit ein gutes Gesetz noch besser gemacht, während Thorsten Frei (CDU) lobte, dass am Grundprinzip des Forderns und Förderns festgehalten werde.

Kürzen, streichen, sanktionieren

Was Frei euphemistisch „Fordern und Fördern“ nennt, ist ansonsten besser bekannt unter dem Stichwort „Sanktionen“. Diese sollten ursprünglich durch das Bürgergeld deutlich abgemildert werden. So galt bei Hartz IV zunächst, dass bei der erstmaligen Verletzung der Verhaltenspflichten eine Leistungskürzung um 30 Prozent, bei der zweiten innerhalb eines Jahres um 60 Prozent und bei jeder weiteren ein vollständiger Entfall des Leistungsanspruchs möglich war. Ende 2019 erklärte das Bundesverfassungsgericht dann allerdings, dass eine Kürzung von mehr als 30 Prozent des Regelsatzes nicht verfassungsgemäß sei, worauf ein Sanktionsmoratorium folgte, das die Sanktionen bis zum 31. Dezember.2022 größtenteils aussetzte, wobei bei wiederholten Meldeversäumnissen oder Terminverletzungen immer noch eine 10-prozentige Leistungskürzung beibehalten wurde.

Für das Bürgergeld plante die Ampel, zumindest in den ersten sechs Monaten auf solche Sanktionen zu verzichten. Das jetzt tatsächlich beschlossene Gesetz sieht hingegen eine dreistufige Leistungskürzung ab Tag eins vor: Bei der ersten Pflichtverletzung um 10 Prozent, bei der zweiten innerhalb eines Jahres um 20 Prozent und bei der dritten 30 Prozent.  Man landet also wieder bei derjenigen Grenze, die das Bundesverfassungsgericht als maximal zulässig einstufte.

Vor allem die Union forderte, an diesen Sanktionsmöglichkeiten festzuhalten. So äußerte etwa Markus Söder (CSU), dass die Bevölkerung das Wegfallen von Sanktionen als völlige Ungerechtigkeit erlebe und er sich als Anwalt der Fleißigen erlebe. Für ihn gilt: „Wer arbeitet, muss mehr haben als jemand, der nicht arbeitet.“  Wie bereits im Kontext der Einführung von Hartz IV wird das Narrativ des „faulen und unwilligen Arbeitslosen“ manifestiert, den man nur durch harte Strafen irgendwie zur Arbeit disziplinieren könne. Erinnert sei hier beispielsweise an Arno Dübel, der vor einigen Jahren als „Deutschlands bekanntester, frechster und glücklichster Langzeitarbeitsloser“ durch sämtliche Talkshows gezerrt und zur Ikone der Springerpresse wurde.

Es ist außerdem zynisch, wenn Söder die im Bürgergeld vorgesehenen monatlichen 502 Euro als Bevorzugung von Erwerbslosen gegenüber Arbeitenden ansieht. Möglich macht diese Einschätzung unter anderem der mit Hartz IV entstandene Niedriglohnsektor.

Mittels der Sanktionen konnte Hartz IV als herausragendes Druckmittel etabliert werden, um Menschen dazu zu zwingen, jeden noch so schlecht bezahlten Job anzunehmen. Neologismen wie „Ein-Euro-Job“ verweisen auf die Etablierung dieser Vorgehensweise in den alltäglichen Sprachgebrauch. Dies kam vor allem den Unternehmen zu Gute, die die Lohnkosten massiv senken konnten, ohne dass sich Arbeiter:innen weigerten, diese Jobs anzunehmen – das Damoklesschwert Hartz IV hing über ihnen.

Gescheiterter Reformismus der Ampel-Regierung

Unbeirrt vom eigenen Scheitern sprach Katja Mast (SPD) nach dem Beschluss des Bürgergelds von der größten Sozialreform seit Jahrzehnten, sodass Hartz IV damit Geschichte sei. Es grenzt an kognitive Dissonanz, wie sehr hier Dinge in ihr Gegenteil verkehrt und schöngeredet werden. Was eigentlich zur größten Sozialreform hätte werden sollen, sollte gleichzeitig – neben dem Selbstbestimmungsgesetz und der Cannabis-Legalisierung – zu dem Projekt der Veränderung von SPD, FDP und Grünen werden. Schließlich wurde Hartz IV unter der rot-grünen Koalition von Gerhard Schröder eingeführt. Das Bürgergeld, das von Anfang an nicht mehr als eine Reform darstellte, wird nun zum Sinnbild eines gescheiterten Reformismus. Zwar versucht die Ampel-Regierung, dies der Blockade von Seiten der CDU/CSU und AfD in die Schuhe zu schieben; jedoch zeigte sich selbst Friedrich Merz (CDU) erstaunt, wie schnell die Koalition zu Kompromissen bereit war. Auch wenn der Druck momentan von Seiten der Konservativen und Rechten kommt, kann die Konsequenz also einmal mehr gerade nicht „Mehr Reformismus wagen“ lauten!

Die Ampel ist mit ihrem wichtigsten sozialpolitischen Projekt gescheitert, obwohl sie derzeit die Regierung stellt. Das Bürgergeld und auch der Mindestlohn beenden den Niedriglohnsektor nicht und sie sind keine Perspektive für Arbeiter:innen und Erwerbslose. Wie auch bei den bisherigen Entlastungen handelt es sich um eine vermeintliche Unterstützung in der Krise, die aber letztlich überhaupt keine Veränderungen oder gar Verbesserungen mit sich bringt.

2021 lagen die Armutsgrenzen bei monatlich 1148 Euro für einen Einpersonenhaushalt, 2410 Euro für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren bzw. 2869 Euro mit zwei Kindern über 14 Jahren. Mit der derzeitigen Inflation von über 10 Prozent dürften die Grenzen für 2022 höher liegen. Es darf keinen Lohn unterhalb dieser Grenze geben! Notwendig ist eine Bewegung auf der Straße und in den Betrieben, um dem Niedriglohnsektor und der Fortführung von Hartz IV getarnt als Bürgergeld ein Ende zu setzen!

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