Die Wut in den Straßen Berlins

05.01.2023, Lesezeit 9 Min.
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Bild: Matt Gush / shutterstock.com

Zum Jahreswechsel kam es besonders in Berlin zu Angriffen auf Polizei und Rettungskräfte. Politik und bürgerliche Medien fordern nun wahlweise eine Ausweitung der Böllerverbotszonen, Verkaufsverbote für Pyrotechnik und harte Strafen. Die Linke muss sich gegen die Repressionsdrohungen und die rassistische Hetze stellen.

In der Silvesternacht verschaffte sich die Wut an vielen Stellen Berlins Gehör: Über Stunden griffen Jugendliche Polizei und Feuerwehr mit Böllern und Pyrotechnik an. Daneben gab es brennende Barrikaden und Fahrzeuge. Die Reaktionen von Politik, Polizei und um ihre Sicherheit besorgten Bürger:innen fiel wie erwartet aus: Von bürgerkriegsähnlichen Zustände ist die Rede, Twitter-Deutschland ist entsetzt über diese „jungen Männerhorden“, die „Gesetzlosen“. Eine Gewalt neuen Ausmaßes wird heraufbeschworen, aus Jugendlichen werden Kriminelle, denen jeglicher Respekt fehle.

Benjamin Jendro, Sprecher der sogenannten Gewerkschaft der Polizei (GdP) verlangt die Einführung eines Böller- und Raketenverbots für Privatleute, während nach Meinung des Bundesvorsitzenden der GdP Jochen Kopelke jeder gezielte Angriff auf die Polizei zu einer Gerichtsverhandlung mit hartem Urteil führen müsse. Dem stimmt auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zu. Ihre Parteikollegin Spranger fordert 4.000 zusätzliche Bodycams für Einsatzkräfte zur rechtssicheren Strafverfolgung und Abschreckung. Und ginge es nach Karl Lauterbach, so wären die Angriffe ein Grund zur Kündigung der Wohnung, wobei er den entsprechenden Tweet nachträglich wieder löschte. Die Einschränkung wesentlicher Grundrechte scheint ihm ein besonderes Anliegen zu sein: Schließlich war er es, der sich 2020 für die Kontrolle der Kontaktbeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie auch in privaten Räumen, also der Wohnung, aussprach.

Nicht nur die GdP fordert nun ein Verkaufsverbot für Böller. Auch der Berliner Kultursenator Klaus Lederer (LINKE) schloss sich der Forderung an. Union und FDP, denen das Abbrennen von Feuerwerk als Inbegriff der Freiheit gilt, lehnen hingegen ein bundesweites Verbot ab. Die Regierende Bürgermeister von Berlin, Franziska Giffey, spricht sich derweil für eine Ausweitung von Böllerverbotszonen aus, die es bereits in zahlreichen Städten gibt. Dies hätte vor allem eine weitere Verschärfung der ohnehin schon bestehenden Repressionen zur Folge. Einen guten Vergleich liefert die Waffenverbotszone auf der Eisenbahnstraße in Leipzig, die laut Aussage der Stadt Leipzig kaum positive Auswirkungen auf das Kriminalitätsgeschehen hatte und deshalb aufgehoben werden soll. Was medial als Lachnummer betitelt wurde, bewirkte vor allem noch mehr Schikanen, noch mehr Racial Profiling, noch mehr anlasslose Kontrollen. Als Waffen wurden nicht etwa nur Pistolen und Ähnliches, die ohne Waffenschein sowieso verboten sind, verstanden, sondern alles, was potentiell zur Waffe werden könnte, etwa auch Obstmesser, Schraubenzieher oder Hämmer. Es ist also nicht verwunderlich, dass sich vor allem Konservative zwar gegen ein Verkaufsverbot, aber für harte Strafen und Verbotszonen aussprechen. Insbesondere für die Polizei würde dies noch mehr Handlungsspielraum bedeuten.

Seit Jahren ist eine Ausweitung polizeilicher Befugnisse zu beobachten: Sei es durch neue Polizeiaufgabengesetze, Überwachung oder politisch legitimierte Polizeigewalt. Erst 2017, kurz vor dem G20-Gipfel in Hamburg, gab es eine Gesetzesverschärfung, in deren Zusammenhang dem Strafgesetzbuch der Paragraph 114 angefügt wurde, manchmal sarkastisch als „Bullenschubsparagraph“ bezeichnet. Im Wesentlichen ging es um die „Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften“, wodurch nun jeglicher Widerstand gegen die Polizei sowie das Schubsen von Polizist:innen zu Freiheitsstrafen führen kann.

„Phänotypus: westasiatisch“

Wie immer lässt auch die rechte Hetze nicht lange auf sich warten, die mangelnde Integration und die Migrationspolitik verantwortlich macht. Drei Tage nach den Ereignissen der Silvesternacht äußerte sich der Berliner Landeschef der GdP, Bodo Pfalzgraf, zu den Nationalitäten der Verdächtigen, die die Polizei neben Name, Wohnort, Alter und Geschlecht standardmäßig erfasst. Zunächst habe man sich mit Angaben zurückgehalten, können nun die Tatsachen aber nicht leugnen, insofern man sich ja nur die Videos ansehen müsse und dann schon wüsste, mit welchen Tätern man es zu tun habe: hauptsächlich junge Männer mit Migrationshintergrund.

Diese Schuldzuweisungen geschahen allerdings schon zuvor, nämlich unmittelbar an Neujahr – also vor jeglichen offiziellen Angaben zu etwaigen Nationalitäten. Zu diesem Zeitpunkt ließ das Innenministerium noch verlauten, dass es noch keine Übersicht zu den Verdächtigen gebe. Politiker:innen und Medienvertreter:innen sahen sich die Videos an und breiteten ihre von rassistischen Stereotypen durchzogenen Täteridentifikationen aus. Der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) etwa zog das Fazit, dass ungeregelte Migration, gescheiterte Integration und fehlender Respekt vor dem Staat ursächlich seien. Zustimmung dazu bekam er umgehend vom Bundesvorsitzenden der sogenannten Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Rainer Wendt. Dieser stellte fest, dass bei vielen Einsatzkräften der Eindruck vorherrsche, an den Ausschreitungen seien überwiegend Gruppen junger Männer mit Migrationshintergrund beteiligt gewesen. Weshalb die Nationalität überhaupt dokumentiert wird, bleibt ebenso unhinterfragt, wie die Zuschreibung eines Migrationshintergrundes aufgrund des Aussehens, die dann noch mit einem erhöhten Kriminalitätspotential verknüpft wird. Der Bundestagsabgeordneter Christoph de Vries (CDU) schrieb auf Twitter:

Wenn wir Krawalle in unseren Großstädten, Verachtung gegenüber dem Staat und Übergriffe gegen Polizisten und Feuerwehrleute wirklich bekämpfen wollen, müssen wir auch über die Rolle von Personen, Phänotypus: westasiatisch, dunklerer Hauttyp sprechen. Um es korrekt zu sagen

Um es korrekt zu sagen, Herr de Vries: Sie sind ein Rassist. Schon jetzt wird deutlich, dass die CDU die Vorkommnisse der Silvesternacht für den Wahlkampf zur Mitte Februar in Berlin anstehenden Wahlwiederholung zum Abgeordnetenhaus instrumentalisieren will.

Die rassistischen Schlagzeilen, Debatten und Narrative wurden bereits über die Silvesternacht 2015 geführt, in teilweise nahezu demselben Wortlaut. Auch damals stand die Frage der Integration und Einwanderung im Vordergrund und auch international wurden die Debatten über die Herkunft der Täter in Köln für die eigene rassistische Agenda benutzt, wie beispielsweise von Donald Trump. Im März 2016 wurde aufgrund der Ereignisse der Silvesternacht das Asylpaket II beschlossen, das Abschiebungen und Asylablehnung vereinfachen und beschleunigen sollte. Obwohl es jahrelang zuvor verlangt und mehrere Entwürfe vorgelegt wurden, wurde erst die Silvesternacht als Auslöser genutzt, um eine Reform im Sexualstrafrecht einzuführen und sexuelle Belästigung mit dem Paragraf 184i zur Straftat zu machen. Was eigentlich ein feministischer Erfolg sein sollte, wurde aus rassistischen Gründen beschlossen und für migrationsfeindliche Propaganda in Medien und Politik missbraucht. Sogar der Pressekodex, der bis dato auf die Nennung von Herkunft verzichtete, wurde abgeändert und dadurch die ausdrückliche Nennung der Herkunft ermöglicht, “wenn ein begründetes öffentliches Interesse vorliege”.

Die rassistische Politik in Berlin beschränkt sich jedoch weder auf solche hetzerischen Aussagen, noch auf die Parteien der politischen Rechten. So beteiligt sich auch die rot-rot-grüne Landesregierung in Berlin tatkräftig an Abschiebungen: Zwischen Januar und August vergangenen Jahres waren davon bereits 570 Menschen betroffen. Dabei wird auch der im Koalitionsvertrag eigentlich vereinbarte Verzicht auf nächtliche Abschiebungen immer wieder missachtet. Bis Anfang Dezember war außerdem nicht klar, was mit den 600 Moldawier:innen geschieht, die die Innensenatorin Iris Spranger abschieben wollte, da man den Platz für Geflüchtete aus der Ukraine benötige. Nach Streit und Debatten einigten sich die Koalitionspartner nun auf einen Abschiebestopp zwischen Dezember und März. Noch im November und Anfang Dezember fanden jedoch Sammelabschiebungen nach Moldawien statt. Währenddessen soll der BER, wenn es nach der SPD-geführten Landesregierung in Brandenburg geht, nicht mehr nur Flughafen, sondern künftig auch Abschiebezentrum sein.

Böller auf der einen, Repression auf der anderen Seite

Neben dem rassistischen Ton, der sich durch die Debatte zieht, werden die Gründe für den Unmut vieler Jugendlicher gern ignoriert. Ähnliches geschah bereits im Kontext der sogenannten Krawallnacht in Stuttgart 2020. Im Zusammenhang mit den damaligen Vorkommnissen wurden inzwischen erste Haftstrafen von drei Jahren und neun Monaten bzw. drei Jahren und zwei Monaten verhängt. Durch diese Entpolitisierung fällt es dem bürgerlichen Staat und den Medien leicht, die Ausschreitungen auf die Tat einiger gewaltbereiter Chaot:innen zu reduzieren.

Vergessen wird dabei all jenes, was der Gewalt vorausging: Zwei Jahre lang jagten Polizist:innen Jugendliche durch Parks, weil sie sich in Gruppen getroffen hatten. Für die Medien waren sie, neben den Querdenker:innen, die Schuldigen, die Pandemie-Treiber. Geschlossene Schulen, Unis, Sportvereine, Clubs und das Verbot von Treffen selbst an der frischen Luft mag für die einen eine wohltuende Erholung vom stressigen Alltag gewesen sein; für junge Menschen, oftmals mit beengten Wohnsituationen, glich es eher einer Tortur.

Als wäre das nicht genug, wird über ein Pflichtjahr diskutiert, das als wesentlicher Dienst an der Gemeinschaft und persönlichkeitsprägende Maßnahme deklariert wird, wohl eher aber dem Fachkräfte- und Personalmangel entgegensteuern soll. Es ist alles, nur nicht verwunderlich, dass sich die Wut irgendwann entlädt.

Gegen Repression, rassistische Hetze und Perspektivlosigkeit

In der Berliner Silvesternacht zeigte sich so deutlich wie lange nicht mehr, dass es eine Vielzahl an Menschen gibt, die sich Einschränkung und Diskriminierung nicht länger gefallen lassen wollen. Die Angriffe richteten sich gegen diejenigen, die als Vertreter:innen des Staates angesehen wurden. Darunter fielen nicht nur Polizist:innen, sondern mit Feuerwehrleuten und Rettungssanitäter:innen auch Personen, die tatsächlich keine staatlichen Repräsentant:innen sind. Der Hass gegen den Staat und seine Institutionen kommt jedoch nicht von ungefähr. Die Reaktion der bürgerlichen Parteien mit rassistischen Aussagen und Forderungen nach einem starken Staat zeigt deutlich, dass sie kein Interesse daran haben, etwas an den sozialen Gründe für die Wut und die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen zu verändern. Aus dieser Perspektivlosigkeit einen politischen Ausweg zu zeigen, ist die Aufgabe der Linken. Das wird nur gelingen, wenn sie den Forderungen nach Repression und einem starken Staat keinen Schritt nachgibt.

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