Libanon: Die sozialen und ökonomischen Ursachen der Massenproteste (Teil I)

07.11.2019, Lesezeit 15 Min.
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Narges Nassimi beschreibt im ersten Teil einer Artikelreihe über die sozialen Proteste im Libanon die sozialen und ökonomischen Ursachen der Massenproteste in einer der ungleichsten Gesellschaften der Welt.

Foto: Hussein Malla, Associated Press

In diesem Jahr erschütterte eine Welle sozialer Aufstände die Welt, vorangekündigt durch Aufstände in Haiti, Frankreich, Iran und Sudan im vergangenen Jahr. Überall ist die Unzufriedenheit der Massen über neoliberale Sparmaßnahmen, Korruption und sozio-ökonomische Ungleichheit zu spüren. Von Hong Kong bis Ecuador, von Ägypten und Katalonien bis Chile. In der jüngsten Protestkette befinden sich der Irak und der Libanon. Im Irak brachen die Proteste am 1. Oktober aus, etwa zwei Wochen später begannen landesweite Proteste im Libanon. Der Massenaufstand im Libanon ist also ein Glied in der Kette weltweiter Klassenkämpfe.

Die libanesischen Proteste, die am 17. Oktober begannen, markieren eine neue Etappe in der Entwicklung des Klassenkampfes des Landes. Was zur Empörung der Massen führte, war nicht nur die Ankündigung einer monatlichen Steuer in Höhe von sechs Dollar auf WhatsApp-Anrufe (in einem Land mit den höchsten Telefongebühren der Welt), sondern auch die tiefliegende Wut, die durch drei Jahrzehnte systematische neoliberale Angriffe auf Lebensstandards ausgelöst wurde. Es war diese jahrzehntelang angesammelte Unzufriedenheit und Wut, die in den Protesten ausbrach.

Die Proteste dehnten sich bald auf das ganze Land aus, von der nördlichen Provinz Jabal bis in Süden, und brachten mehr als zwei Millionen Menschen (d.h. etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung) auf die Straßen.

Der Libanon hat schon zuvor soziale Proteste erlebt. Anfang 2011 während des sogenannten „Arabischen Frühlings“, dann 2012 und 2014 in Bezug auf schlechte Arbeitsbedingungen, und schließlich die Müllproteste im Sommer 2015. Bei den Protesten im Jahr 2015 gingen die libanesischen Massen wochenlang auf die Straße. Sie protestierten gegen die Korruption der Regierung, gegen Misswirtschaft und forderten den Rücktritt von Politiker*innen sowie die Verbesserung der Infrastruktur. Der Anlass der Proteste in jenem Jahr war das Müllproblem. Durch die Schließung zentraler Deponien in Beirut im Juli 2015 sammelten sich in der Sommerhitze überall stinkende Abfallberge auf Beiruts Straßen an. Diese Bewegung gegen die Müllkrise wurde unter dem Namen „Ihr stinkt“ bekannt. Der Name der Bewegung bezog sich auf die verfaulten korrupten Politiker*innen des Landes.

Aber nicht nur Umfang und Ausmaß der Proteste sind aktuell weitaus größer als in den vergangenen Jahren, sondern der Klassencharakter der Protestierenden hat einen umfassenderen Charakter. Während vor vier Jahren die Zusammensetzung der Protestierenden einen kleinbürgerlichen und zivilgesellschaftlichen Charakter hatte, sind dieses Mal vor allem die Unterdrückten und Ausgebeuteten auf die Straßen, hauptsächlich Frauen, Jugendliche, verarmte Bevölkerung, Arbeitslose und Arbeiter*innen. Das Interessante ist dabei vor allem die Teilnahme der verarmten Bevölkerung des Landes, die durch den jahrelangen Klientelismus und Populismus der regierenden, bürgerlichen Parteien in Abhängigkeitsbeziehungen zum politischen Apparat und eben jenen Parteien gefangen waren. Anscheinend haben sie nun damit gebrochen.

Die Einführung einer Steuer von sechs Dollar im Monat für die Nutzung von WhatsApp war nur der Funke, der die schon lang existierende Unzufriedenheit der Bevölkerung im Libanon entzündete. 2015 hatte sich das Müllproblem zu einer umfassenden Staatskrise ausgeweitet; heute bringt die WhatsApp-Steuer die tiefe politische Krise des Landes an die Oberfläche.

Die schwachen Grundlagen der Schulden beladenen Wirtschaft und die Anhäufung von Schulden seit den 1980er Jahren bis heute, hatten die libanesische Regierung unter der Führung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank veranlasst, eine erneute Sparpolitik mit erhöhten Steuern für die Schuldentilgung einzuführen, was zu mehr Elend und Armut für die libanesischen Arbeiter*innen und Armen führte.

Die Regierung ist vom Kopf bis Fuß in Korruption versunken. Der Libanon befindet sich am Rande eines Finanzcrashs. Mit einer Staatsschuldenquote von 161 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gehört das Land zu den weltweit größten Schuldnern. Die Regierung hat in den vergangenen Jahren immer mehr Kredite aufgenommen, um das Defizit auszugleichen, weshalb sie wenig andere Ressourcen für produktive Investitionen in die Wirtschaft zur Verfügung hatte, was zu mangelnden Investitionen in Infrastruktur, Krankenhäuser, Gesundheitswesen, öffentliche Bildung, Transport und andere soziale Dienstleistungen führte. Um die wirtschaftliche Krise zu verstehen, muss man beachten, dass neben einem Mangel an Dollar infolge der sinkenden Währungsreserven der Zentralbank auch ein Rückgang der Überweisungen der libanesischen Familien außerhalb des Libanons zu beobachten ist. Ebenso ist ein Rückgang der Auslandsinvestitionen und ein starker Anstieg der Importe im Vergleich zum Export zu vermerken.

Eine unproduktive Rentenwirtschaft und neoliberale Angriffe

Die libanesische Wirtschaft basiert auf zwei Säulen: dem Handels- und des Bankenwesens. Sie ist in diesem Sinne eine unproduktive Wirtschaft, die das Erbe der imperialistischen Arbeitsteilung während der kolonialistischen Unterwerfung des Landes durch Frankreich ist.

Die Verabschiedung des libanesischen Bankeninformationssicherheitsgesetzes im Jahr 1956 glich einer Einladung für die Kapitalflucht der irakischen, syrischen und ägyptischen Bourgeoise nach den Aufständen und Putschen in diesen Ländern. Seit den 1960er Jahren flossen die Öleinnahmen der Golfstaaten an die libanesischen Banken. Während des libanesischen Bürger*innenkriegs war die Hauptstütze der wirtschaftlichen Aktivitäten praktisch eine Mafia basierend auf Drogenexporten und Waffenverkäufe in den Händen der Milizen jeder Region.

Der Libanon ist heute der drittgrößte Haschischexporteur der Welt und dies zeigt, dass die Interessen der gesamten herrschenden Klasse des Libanon (abgesehen von ihrer fraktionellen Rivalität) in der Aufrechterhaltung der Drogenwirtschaft liegen. Die Hinwendung der libanesischen Wirtschaft zum freien Markt seit den 1990er Jahren war das Ergebnis einer intensiven Zusammenarbeit aller bürgerlichen Fraktionen. Von Anfang der 90er Jahre bis Anfang der 2000er Jahre wurden im Libanon drei Maßnahmen zur Liberalisierung der Wirtschaft umgesetzt.

Mit Beginn der Ministerpräsidentschaft Hariris erforderte die massive Zerstörung nach 15 Jahren Bürger*innenkrieg einen umfassenden Wiederaufbau des Landes. Hariri schätzte dieses Wiederaufbau-Projekt auf 14 bis 18 Milliarden US-Dollar und finanzierte das durch den Druck von Staatsanleihen und die Aufnahme von Krediten bei Privatbanken. Diese sogenannten Entwicklungsprojekte konzentrierten sich mehr auf den entwickelten Teil des Libanon (Beirut und Jebel), wobei nur 20% dieser Mittel in andere Teile des Libanon flossen (d.h., das frühere Ungleichheitsmuster wurde erneut befestigt). Darüber hinaus wurden diese Kredite und Finanzierungen eher für den Bau luxuriöser Gewerberäume ausgegeben, als dass sie den sozialen Bedürfnissen der Bevölkerung entsprochen hätten. So wuchs in der Nachkriegszeit die Immobilienbourgeoisie zügellos. Bis heute stehen viele dieser Gewerberäume aufgrund hoher Kosten leer.

Der nächste Schritt (d.h. ab den 2000er Jahren) war die Rückzahlung der Kredite für diese Projekte, indem eine breite Steuerpolitik durchgesetzt und Subventionen aus den Taschen der libanesischen Öffentlichkeit gestrichen und an Privatbanken weitergegeben wurden.

Beispielsweise wurde im Jahr 1998 die jährliche Lohnerhöhung für Staatsbedienstete für zehn Jahre gestoppt (trotz einer Inflation von über 100%). Die Privatisierungspolitik war weit verbreitet. Auf alle öffentlichen Güter und Dienstleistungen wurde die Mehrwertsteuer auf 10% angehoben; zeitgleich wurde der von den Arbeiter*innen zu zahlende Anteil an den Sozialversicherungsleistungen erhöht. Im gleichen Atemzug waren Entlassungen gängig, wie die fast 2.000 Mitarbeiter*innen der Middle East Airlines. All dies, während Steuern auf ausländisches Kapital stark gesenkt wurde. Von 2001 bis 2007 fanden drei Gläubiger-Konferenzen in Paris statt, an denen die libanesische Regierung und internationale Finanzinstitutionen (einschließlich der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Zentralbank usw.) teilnahmen. Aus diesen Konferenzen folgte die Durchsetzung einer noch strengeren Sparpolitik.

Eine der ungleichsten Gesellschaften der Welt

Das Finanzmonopol der regierenden, konfessionell getrennten Parteien und ihr Konsens zur Unterdrückung und Ausplünderung der Massen haben den Libanon zu einer der ungleichsten Gesellschaften weltweit gemacht. Vor vier Jahren wurde geschätzt, dass einer halben Million Menschen im Verhältnis ein Milliardär gegenübersteht. Das ganze Land ist also unter der Herrschaft von nur 7 Milliardären, von denen die bekanntesten Hariri und Miqati sind. Eben diejenigen, die seit Jahrzehnten an der Macht sind und die Ressourcen des Landes ausplündern und missbrauchen, um ihre persönlichen und politischen Programme und Interesse voranzutreiben. Die andere Seite dieser Anhäufung des Reichtums durch eine kleine Minderheit ist, dass die übergroße Mehrheit der Gesellschaft in Elend und Armut versinkt. Die offizielle Arbeitslosenquote im Land liegt bei über 25%, was etwa 37% unter jungen Menschen entspricht. Nach Angaben der Weltbank leben mehr als ein Viertel der Libanes*innen unter der Armutsgrenze und mehr als 14 Millionen Libanes*innen (mehr als die doppelte Bevölkerung des Landes) leben aktuell im Ausland. Darüber hinaus sind ausländische Zeit- und Billiglohnkräfte (palästinensische und syrische Geflüchtete) von jeglicher sozialer Unterstützung ausgeschlossen. Korruption im Libanon ist ein bekanntes Phänomen, das alle Säulen des politischen und wirtschaftlichen Lebens kontaminiert hat.

Im Jahr 2018 reiste Saad Hariri nach Paris, um internationale Investor*innen aus den USA und Europa zu besuchen. Den Vereinbarungen zufolge haben der IWF und die Weltbank der libanesischen Regierung Kredite in Höhe von 11 Milliarden US-Doller zugesagt, jedoch nur im Falle eines „Strukturanpassungsprogramms“ und der Verringerung des Haushaltsdefizits. All dies ist natürlich nichts anderes als ein Codename für eine Sache: eine drastische Reduzierung der sozialen Dienstleistungen für die Arbeiter*innenklasse, die Jugend und die Frauen.

Das Sparprogramm begann Anfang Juni dieses Jahres: Abzüge für Renten, Einfrieren der Löhne und Kürzungen der Leistungen der öffentlichen Sektors und so weiter.

Am 2. September dieses Jahres hat Saad Hariri den wirtschaftlichen Ausnahmezustand bekanntgegeben und eine „Finanzreform“ versprochen. So wurde das Projekt der Steuererhöhung, der Einstellung der 2-Milliarden-Dollar-Subvention für Elektrizität, der weiteren Privatisierung (einschließlich Telekommunikation) und so weiter durchgeführt. Alle regierenden Parteien zu dieser Zeit einigten sich auf einen neuen Sparplan.

All dies verursachte die Empörung der libanesischen Massen. Wenn wir vom Libanon sprechen, sprechen wir von einem Land, in dem an vielen Orten selbst die Grundversorgung mit Wasser und Strom kaum zu Verfügung steht. Nur ein paar Stunden am Tag hat die Bevölkerung des Landes Strom. Die Preisexplosion aller importierten Güter führte vor kurzem dazu, dass die Tankstellen  für einen Tag streikten, weil das Benzin nicht mehr bezahlbar ist. Die Bäckereien stehen kurz davor zu schließen, weil sie das Mehl nicht mehr bezahlen können. Sogar die Müllabfuhr auf den Straßen, eine der dringendsten Dienstleistungen, die im Jahr 2015 für eine Weile eingestellt wurde, funktioniert zurzeit nur teilweise.

Der französische Imperialismus und die Schaffung eines konfessionell gespaltenen Libanon

Wie in vielen anderen Ländern ist die Geschichte des Libanons durch die imperialistische Einmischung und Weltaufteilung geprägt. Die Spuren des Imperialismus liegen in der Schaffung und Ausweitung ethnischer Spaltungen vom Sudan bis in den Irak und Libanon.

Während der osmanischen Herrschaft unterstützten der französische und der britische Imperialismus jeweils eine der libanesischen Konfessionen und nutzten sie als Druckmittel gegen politische Rivalen und für die Durchführung ihrer eigenen wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen.

Die Entstehung der ersten libanesischen Bourgeoisie war mit der libanesischen Jibal-Seidenindustrie verbunden. Die Seidenproduktion machte mehr als ein Drittel des regionalen Bruttoinlandsprodukts aus, 99% der produzierten Seide wurde bis zum Jahr 1914 nach Frankreich exportiert.

Nach dem imperialistischen Sykes-Picot-Abkommen zur Regelung der Nachkriegsordnung  übernahm der französische Imperialismus die Kontrolle über die Region Levante, die vorher vom Osmanischen Reich regiert wurde. Frankreich gründete einen neuen Nationalstaat namens Libanon, der durch eine willkürliche Vereinigung drei verschiedener Regionen im Süden und Norden dieser Region sowie in Bekaa geschaffen wurde. Vier große Konfessionen und verschiedene ethnische Gruppen mit ungleicher wirtschaftlicher Entwicklung sollten jetzt unter dem Befehl des Imperialismus im Rahmen eines willkürlichen Nationalstaat zusammenleben.

Die wirtschaftliche Funktion, die Frankreich für diesen neu gegründeten Nationalstaat bestimmte, war nichts anderes als die Verbindungstür für den Transport von Gütern aus dem Mittelmeer in syrische Gebiete, die dem unter Joch des französischen Imperialismus standen. Das heißt, die libanesische Ökonomie wurde vom Handel abhängig gemacht, anstatt eine produktive Wirtschaft zu fördern. So wurde innerhalb kürzester Zeit die wichtigste Seidenindustrie liquidiert und einige der ehemals boomenden Dörfer und Städte innerhalb weniger Jahre unbewohnt.

Angesichts der Machtkonzentration der Maronit*innen im Jabal-Libanon (damaliges Industriegebiet) und der Sunnit*innen in Beirut (Handelszentrum) spielten die beiden Konfessionen eine zentrale Rolle bei der Bildung der libanesischen Zentralregierung, unterstützt vom französischen Imperialismus. Tatsächlich hat Frankreich die konfessionelle Spaltung im Libanon mit wirtschaftlichen und politischen Ungleichheiten kombiniert und daraus ein „System“ geschaffen.

Die libanesische Verfassung (1926) sollte sich zum Beispiel auf ethnisch-religiöse Unterscheidungen stützen, in exekutiven und politischen Ämtern bis hin zur Präsidentschaft als höchste politische Autorität des Landes, die nach dem Kriterium ethnischer Zugehörigkeit und Religion bestimmt werden.

Dieses komplizierte politische System bleibt im Libanon seit mehr als 90 Jahren weitgehend unangetastet, wobei lediglich die Befugnisse der einzelnen Posten geändert wurden. Den Parlamentssitzen nach konfessionellen Quoten zufolge ist heute eine komplizierte Machtaufteilung zwischen Schiiten, Sunniten, Drusen und unterschiedlichen christlichen Konfessionen (maronitische Christen, Griechisch-Orthodoxe, Armenier), die eine tiefe Polarisierung des innenpolitischen Lebens verursacht.

Das libanesische Parlament steckt schon lange in einer tiefen Krise und ist zwischen zwei Blöcken gespalten. Auf der einen Seite wird der sunnitisch-christliche Block von Saudi-Arabien und westlichen Ländern, an der Spitze die USA und Frankreich, unterstützt, und auf der anderen Seite die schiitische Hisbollah – ein Staat im Staate – und eine pro-schiitische Christenfraktion, unterstützt von der Regionalmacht Iran und Syrien.

Die Wurzeln der jüngsten Bewegung auf den Straßen gehen auf drei Jahrzehnte Sparpolitik aufgezwungen durch die Unterwerfung unter den Imperialismus und seine Institutionen wie den IWF und die Krise des Parlaments zurück. Die jüngsten Entwicklungen der Massenaufstände haben gezeigt, dass die wahren Wurzeln der Krise weiterhin vorhanden sind, sodass weitere soziale Aufstände der Ausgebeuteten und Unterdrückten unvermeidlich sind. Die einzige Frage ist die Frage der Zeit.

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