Tödliche Schüsse auf Demo im Libanon

15.10.2021, Lesezeit 4 Min.
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Bild von Protesten in Beirut im August 2021. Foto von Zeina Kassem / Shutterstock.com

Bei einer Demonstration der Hisbollah und ihrer Verbündeten fielen Schüsse, die mindestens sechs Tote und mehrere Dutzend Verletzte forderten. Die Hisbollah befürchtet, dass sie bei der gerichtlichen Untersuchung der Explosion im Hafen im vergangenen Jahr verantwortlich gemacht werden könnte.

Am Donnerstag organisierten die schiitisch-muslimische politisch-militärische Gruppe Hisbollah und ihre ebenfalls schiitische Verbündete Amal eine Demonstration vor dem Justizpalast in Beirut. Sie forderten die Ablösung des Richters Tarek Bitar, der die Ermittlungen im Zusammenhang mit der doppelten Explosion im Hafen von Beirut im August 2020 leitet. Bei dieser Explosion kamen etwa 220 Menschen ums Leben, mehr als 7.500 wurden verletzt und ein großer Teil der Stadt wurde zerstört. Die schiitischen Organisationen werfen dem Richter vor, eine „politische“ Untersuchung eingeleitet zu haben, nachdem er einen Haftbefehl gegen den Amal-Führer Ali Hassan Khalil erlassen hatte.

Die Situation spitzte sich schnell zu, als Schüsse auf die Demonstranten abgefeuert wurden. Die Hisbollah behauptete, es seien Scharfschützen gewesen. Mehr als drei Stunden lang kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen im Stadtzentrum. Berichten zufolge wurden mindestens sechs Menschen getötet und mehrere Dutzend verletzt. In den sozialen Medien sind Fotos aufgetaucht, auf denen Schüsse aus automatischen Waffen und sogar Raketenwerfern zu sehen sind. In den Stadtvierteln von Beirut machte sich Panik breit, und viele Menschen versuchten zu fliehen und sich und ihre Kinder, die in gerade in den Schulen waren, zu schützen.

Die Untersuchung verbindet viele politische Fragen. Jede:r in der libanesischen Regierung war sich über viele Jahre hinweg bewusst, dass im Herzen dieser dicht besiedelten Stadt gefährliche Fracht gelagert wurde. Aber in dem heiklen politischen Kontext des Libanon ist eine solche Untersuchung hochgradig politisiert und hat daher enorme Konsequenzen für die Verantwortlichen – umso mehr, als die Unzufriedenheit in der Bevölkerung über die mangelnde Reaktion auf die Katastrophe im Hafen wächst.

Das Ausbleiben einer Reaktion und die gewaltsamen Zusammenstöße vom Donnerstag sind das Ergebnis eines komplexen politischen Systems. Die verschiedenen konkurrierenden Fraktionen, die seit dem Ende des Bürger:innenkriegs an der Macht sind, sind durch wirtschaftliche, politische und sogar militärische Interessen gezwungen. Wenn sie nicht in der Lage sind, eine „friedliche“ Einigung zu erzielen, werden Gewalt auf den Straßen und sogar bewaffnete Auseinandersetzungen praktisch unvermeidlich. Einige Analyst:innen warnen sogar vor der Gefahr eines Bürger:innenkriegs, obwohl es im Moment noch zu früh ist, um das zu sagen.

Die imperialistischen Mächte, darunter Frankreich und die Vereinigten Staaten, haben zur Ruhe aufgerufen und für „Unabhängigkeit“ und Gerechtigkeit plädiert. Dies war die Botschaft der US-Unterstaatssekretärin für politische Angelegenheiten, Victoria Nuland, die zum Zeitpunkt der Zusammenstöße in der libanesischen Hauptstadt war. Von Wahrheit und Gerechtigkeit für die Opfer der schrecklichen Katastrophe vom August letzten Jahres ist jedoch nicht die Rede. Ihr Ziel ist es, einen der wichtigsten Verbündeten des Iran auf regionaler Ebene zu schwächen.

Aber die westlichen Verbündeten sind offensichtlich genauso korrupt und blutrünstig wie die Hisbollah. Mit anderen Worten, es ist eine Heuchelei von Mächten wie Frankreich, dessen Regierung sich nach der Explosion im August 2020 als Garant und Beschützer der libanesischen Bevölkerung aufspielte.

Diese Situation ist umso tragischer, als sie sich inmitten einer historischen Wirtschaftskrise des Landes abspielt. „Die Wirtschaft ist so gut wie zusammengebrochen, und mit ihr die Gesellschaft. Nach Angaben der Weltbank könnte die Wirtschaftskrise, die der Libanon gerade durchmacht, zu den drei schlimmsten Wirtschaftskrisen gehören, die die Bank in den letzten 150 Jahren erlebt hat“, erklärt Nazih Osseiran im Wall Street Journal zum Thema Libanon. Die libanesische Lira hat seit 2019 effektiv 90 Prozent ihres Wertes verloren, fast 8 Prozent der libanesischen Bevölkerung sind unter die Armutsgrenze gefallen, es herrscht Treibstoffmangel. Der Strom ist rationiert und wird mehrere Stunden am Tag abgeschaltet, und die Inflation ist in die Höhe geschossen.

Die gesamte Situation zeigt, dass die Armen und die Arbeiter:innenklasse des Libanon keine Verbündeten unter der nationalen Bourgeoisie, reaktionären Regionalmächten wie dem Iran oder den Imperialist:innen finden werden. Das korrupte Regime des Libanon ist nicht in der Lage, auch nur ansatzweise Antworten auf die Ereignisse bei der Explosion in Beirut zu geben. Die Antworten auf die Hafenkatastrophe wie auch auf die strukturellen Probleme der libanesischen Armen und der Arbeiter:innenklasse werden aus den Trümmern dieses korrupten Regimes hervorgehen.

Erstmals veröffentlicht auf Französisch am 14. Oktober auf Révolution Permanente.

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