Die größte Revolte des 21. Jahrhunderts: Zehn Jahre nach dem Arabischen Frühling

21.12.2020, Lesezeit 10 Min.
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Vor zehn Jahren zündete sich Mohamed Bouazizi, ein junger Obsthändler, in Tunesien selbst an, nachdem er von der Polizei belästigt worden war. Kurz danach brachen in Tunesien Proteste aus, die sich durch ganz Nordafrika und Westasien ausbreiteten. Was können Sozialist:innen aus dem Arabischen Frühling und seinen Auswirkungen lernen?

Bild: leftvoice.org

Vor zehn Jahren wurde ein junger Obsthändler in einer kleinen Stadt in Tunesien von der Polizei festgenommen und erniedrigt, da er keine Zulassung für seinen Karren hatte. Die Polizist:innen konfiszierten seine Waagen, die er benutzte, um seine verwitwete Mutter und sechs Geschwister mit 10 Denaren täglich (zu dieser Zeit ungefähr 7 Dollar) zu ernähren. Aus einem Gefühl der Macht- und Ausweglosigkeit zündete sich der junge Mann, Mohamed Bouazizi, daraufhin vor dem Rathaus an.

Die Nachricht von seiner Tat verbreitete sich schnell. Tausende von jungen Arbeitslosen erkannten ihre Lebenssituation in der von Bouazizi wieder. Ihr Leid und ihre Wut fanden in den größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes ihren Ausdruck. Am 14. Januar, fast einen Monat später, fiel die 23 Jahre andauernde Diktatur Zine el-Abidine Ben Alis.

Die Selbstverbrennung des jungen Arbeiters aus Tunesien markierte das Ende mehrerer Regierungen in der Region und startete den größten Klassenkampf des 21. Jahrhunderts. In wenigen Monaten wurden alle Regime des Nahen Ostens und Nordafrikas, von Marokko bis Iran, durch nie zuvor gesehene Protestbewegungen in ihren Grundfesten erschüttert.

Die „autoritären Republiken“ Tunesiens, Ägyptens, Algeriens, Libyens und Syriens, die Monarchien Saudi-Arabiens, Bahrains und Jordaniens – immer noch beherrscht von Stammespakten mit traditionellen Verbindungen zu imperialistischen Mächten –, die Türkei und die Islamische Republik Iran: Sie alle waren von den Aufständen überwältigt.

Die 22 Staaten der Region standen ernsthaften politischen Unruhen gegenüber. Sie versuchten verschiedene Taktiken, um die Mobilisierungen abzulenken oder zu unterdrücken: undemokratische Manöver, Militärputsche und gewaltsame Unterdrückung. Die Folge waren komplexe Aufstandsdynamiken, vorrevolutionäre Prozesse, Konterrevolutionen und Bürgerkriege, unter denen mehrere Regime zusammenbrachen.

Revolution, Revolten und Konterevolution im Arabischen Frühling

Der Arabische Frühling geschah nicht im luftleeren Raum. Die Bedingungen für die Massenaufstände von 2010 bis 2012 waren bereits am Keimen.

Die Länder Nordafrikas entwickelten sich von Agrargesellschaften zu Importeuren der Weltwirtschaftskrise 2008. Der Grund waren Desertifikation, Landflucht und steigende Ölpreise. Dies sorgte für ein verzweifeltes Händeringen um Nahrung und Wasser in der gesamten Region, sowie für immer schlimmere Armut und Unterdrückung des Staates. Lebensmittelunruhen waren die Vorläufer der nun kommenden Revolten.

Bouazizis Selbstverbrennung löste Proteste in Tunesien aus, die sich schnell auf Ägypten ausbreiteten. Die Volksaufstände stürzten Anfang 2011 die lebenslangen Diktaturen von Mubarak und Ben Ali. An den Aufständen beteiligten sich städtische Arme, junge Menschen, Studierende und Arbeiter:innen. Sie strotzten nur so vor politischen Slogans und Methoden, die man bei den Lebensmittelunruhen gelernt hatte, hatten allerdings kein klares Programm oder konkrete politische Richtung.

Dann begann eine Periode des „Übergangs“, in der traditionelle politische Bewegungen, wie Ennahda (Renaissance) in Tunesien und die Moslembruderschaft in Ägypten, an die Macht kamen. Beide Parteien verbanden den gemäßigten politischen Islam mit einer traditionalistischen Bourgeoisie und kombinierten die Prinzipien der islamischen Gesellschaftsorganisation mit denen des Kapitalismus und der Moderne.

Die Wahlen in Ägypten, bei denen die Moslembruderschaft an die Macht kam, wurden von der Armee und imperialistischen Mächten abgehalten. Nach zwei Jahren versuchte Präsident Mohamed Morsi, die Macht zu zentralisieren und das Land zu islamisieren, aber Millionen von Menschen besetzten im Widerstand den Tahrir-Platz.

Die unruhige politische Situation und das Fehlen einer politischen Alternative – einer Partei, die die Forderungen der arbeitenden Klasse nach Unabhängigkeit vom Imperialismus und der lokalen Bourgeoisie vertrat – bot der Armee 2013 die Möglichkeit, einen Staatsstreich durchzuführen. General Al Sisi beendete die „demokratischen Illusionen“ der Demonstrant:innen mit einem Massaker von 800 Menschen an einem Tag – ein Rekord im 21. Jahrhundert – und errichtete eine Diktatur, die gleich oder gar noch schlimmer als die vorherige war.

In Tunesien wurde als Reaktion auf die Demonstrationen eine Verfassungsgebende Versammlung einberufen. Ennahda schlug vor, „das Land zu islamisieren“ und schaffte es, die Wut hunderttausender arbeitsloser junger Menschen einzudämmen, indem sie bis zu ihrer Wahlniederlage 2014 eine „nationale Einheit“ mit den säkularen Parteien aufbaute. Die strukturellen Probleme des Landes aber, Armut und Arbeitslosigkeit, verschlimmerten sich weiter. Und nach Jahren der „demokratischen“ Entwicklung in Tunesien sind die wirtschaftlichen Strukturen und der Repressionsapparat, auf die sich die Diktatur Ben Alis stütze, immer noch nicht aufgelöst.

In Syrien, Libyen und im Jemen fanden die Mobilisierungsprozesse in langanhaltenden Bürgerkriegen ihr Ende. Imperialistische Mächte intervenierten, indem sie Gruppen mit ähnlichen Zielen oder mit Verbindungen zur NATO bewaffneten, wie in Libyen. Regionale Mächte wie Iran und Saudi-Arabien – die erst kürzlich einen Aufstand in Bahrain niedergeschlagen hatten – nutzten das Machtvakuum, um ihre jeweiligen hegemonialen Pläne zu verwirklichen. Seitdem stehen sie sich in einem „kalten Krieg“ gegenüber und führen Stellvertreter:innenkriege. Lokale Akteur:innen, darunter Reste der alten Armeen, traditionelle Stämme, islamischistische Milizen, Gruppierungen mit Verbindungen zur illegalen Wirtschaft, und autonome Gemeinschaften, ermöglichen die Kontrolle und den Erhalt von Territorien, trotz stets wechselnder Bündnisse.

Der Krieg führte zu Hunger, Krankheiten und anderen humanitären Notständen. Millionen von Menschen versuchten, nach Europa zu fliehen, was zu einer Geflüchtetenkrise führte.

Wie bereits erwähnt, wurden alle Mobilisierungen von 2011 zerschlagen oder umgeleitet. Die „demokratischen“ Reformen übernahmen den Diskurs der Demonstrant:innen, lösten aber nicht die strukturellen Probleme, die die Bewegung antrieben. Dies ermöglichte es den lokalen Mächten, sich neu zu organisieren und neue Verbindungen mit den imperialistischen Ländern aufzubauen.

Die Bürgerkriege verkomplizierten die politische Situation. Das Aufkommen dschihadistischer Milizen – eine Folge regionaler Interessen und des Zusammenbruchs von Machtstrukturen – legitimierte reaktionäre Antworten auf die Forderungen der Bevölkerung durch die Diktaturen und die US-Regierung unter Obama, die sich im Zuge des „Kriegs gegen den Terror“ einschaltete. Während das soziale und politische Gefüge in der Region bröckelte, gewannen Kräfte wie der IS an Einfluss, der schließlich sogar größere Städte in Syrien und im Irak kontrollierte.

Das veränderte politische Klima ermutigte Russland und den Iran, Assad zu verteidigen und im Irak, in Libyen und im Jemen zu intervenieren, um Präsenz in dem Gebiet aufzubauen. Mit dem strategischen Rückzug der Vereinigten Staaten eröffnete dieser neue Kampf um die Kontrolle der Machtverhältnisse im Nahen Osten ein komplexes Szenario der regionalen Hegemonie. In der Ära Trump versuchten die Vereinigten Staaten, die Bündnisse mehrerer arabischer Länder mit Israel zu zementieren und die lokale Anerkennung Israels zu erreichen. Das Ziel der Vereinigten Staaten ist es, die Vorstöße Irans in der Region einzudämmen und gleichzeitig Ressourcen auf die Konfrontation mit China im Pazifik umzulenken.

Das Fehlen einer von der lokalen Bourgeoisie – die den Imperialismus niemals frontal konfrontieren würden – unabhängigen Organisation der Massen ermöglichte es den herrschenden Klassen, ihre Autorität zu einem hohen Preis wiederherzustellen. Ihre Macht im Nahen Osten wurde jedoch nach den Stürmen von 2011 geschwächt.

Im Jahr 2018 stürzte eine neue Welle von Massenbewegungen allen Widrigkeiten zum Trotz zwei lebenslange Diktaturen – diejenige Omar al-Bashirs im Sudan und diejenige Abdulaziz Bouteflikas in Algerien – und brachte mehrere Regierungen des Nahen Ostens, Irak, Iran und Libanon, in kritische Situationen.

Lektionen aus dem Arabischen Frühling

Sowohl in den ersten Jahren der Krise 2008 – vor allem in den revolutionären Prozessen des Arabischen Frühlings – als auch in der aktuellen Krise haben Teile der unterdrückten Klassen interveniert. Die „relativen Verlierer:innen“ der Globalisierung, die aus chancenlosen jungen Menschen und der ruinierten Mittelschicht bestehen, und die „absoluten Verlierer:innen“ der Globalisierung, zu denen die in extremer Armut und Marginalisierung lebenden Schichten gehören, waren essenziell an diesen historischen Ereignissen beteiligt. Die Zerstörungskraft des Krieges führte jedoch zu humanitären Krisen für jene am stärksten marginalisierte Bevölkerungsgruppen. Es gab Ernährungsunsicherheit, Todesfälle durch Cholera und Hunger beispielsweise im Jemen, und die größte Anzahl von Geflüchteten und Vertriebenen in der Welt.

Die Beteiligung der industriellen Arbeiter:innenklasse an der Protestbewegung war groß. Aber indem sie eine „staatsbürgerliche“ Identität annahm, ohne die Hegemonie der herrschenden Klasse anzufechten, schaffte sie es nicht, ihre strategische Position auszunutzen. Außerdem fehlte den Aufständen eine politische Führung, die einen Bruch mit den imperialistischen Mächten und den islamistischen und progressiven Parteien einbringen konnte. Die Bewegung erlag diesen bürgerlich-demokratischen Parteien, während sie gleichzeitig die Rolle dieser Länder als kleinere Partner der westlichen Mächte oder, wie im Fall von Syrien, als Klienten von Ländern wie Russland und dem Iran beibehielt.

Der Arabische Frühling von 2010 bis 2012 war in der Hinsicht keine Revolution, dass es der Bourgeoisie gelang, trotz der Umstrukturierung der soziopolitischen Strukturen an der Macht zu bleiben. Dennoch bleibt er ein historischer Meilenstein mit enormer symbolischer Bedeutung, der im Bewusstsein der Jugend, der Arbeiter:innen und Frauen des Nahen Ostens und Nordafrikas weiterlebt. Seine Wirkung erstreckt sich über die ganze Welt; die Empörten-Bewegung in Spanien und Occupy Wall Street in den Vereinigten Staaten sind markante Beispiele für seine Reichweite.

Fast ein Jahrzehnt später sind die strukturellen Elemente, die diese anfänglichen Revolten ausgelöst hatten, immer noch vorhanden oder haben sich sogar noch verschlechtert. Die neuen Proteste, die seit 2018 in verschiedenen Ländern Afrikas und des Nahen Ostens ausgebrochen sind, sind der Beweis dafür, dass ein historischer Umbruch stattgefunden hat.

Eine neue Welle von Unruhen trägt viele der Merkmale des Arabische Frühling. Wie schon vor zehn Jahren werden die spontanen Massenaufstände von marginalisierten und kämpferischen Jugendlichen angeführt. Ihre Forderungen verweisen erneut auf die Bedingungen der Ungleichheit, der prekären Arbeit und des Rassismus sowie auf das spektakuläre Ausmaß der Ausbeutung, die durch die Pandemie noch verschärft wurde. Diese anhaltenden Demonstrationen werden in den kommenden Monaten ein großes Problem für die Regierungen des Nahen Ostens darstellen.

Der Arabische Frühling hat gezeigt, dass die imperialistischen Mächte und die lokalen Kräfte der Bourgeoisie Lösungen anbieten werden, die nur dem Namen nach demokratisch sind. Aus diesem Grund sollte eine revolutionäre Strategie bei der Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse beginnen. Auf diese Weise können sich die Arbeiter:innen während der nächsten Periode des Klassenkampfes in der Region als Klasse erheben, um die Fesseln zu sprengen, die sie unterdrücken.

Dieser Artikel erschien zuerst am 17. Dezember 2020 bei Left Voice.

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