Kann es linke Sadist*innen geben?

17.09.2016, Lesezeit 6 Min.
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Linke Bewegungen treten für Toleranz ein: Menschen sollen alle möglichen sexuellen Identitäten und Präferenzen frei ausleben dürfen, solange sie die Grenzen anderer Menschen respektieren. Doch ein Ausdruck von Sexualität, der in der Popkultur immer mehr Aufmerksamkeit bekommt, bleibt in vielen linken Diskussionen unterbeleuchtet: Sadomasochismus.

Stellen wir uns eine Szene vor: Eine Person liegt nackt und gefesselt da, wird geschlagen und beschimpft, schreit vor Schmerz. Jeder Mensch, insbesondere mit einem linken und antisexistischen Bewusstsein, wird bei so einem Clip an sexualisierter Gewalt denken. Das stinkt nach Sexismus. Oder?

Doch die Szene wirkt nur dann sexistisch, wenn die dominante Person ein Mann und die submissive Person eine Frau ist. Was ist, wenn wir die Geschlechter tauschen? Oder wenn überhaupt kein Mann im Spiel ist? Sieht das immer noch sexistisch aus?

Nicht alles, was wie Gewalt aussieht, ist tatsächlich Gewalt. Eine Vergewaltigung kann wie Blümchensex in der Missionarsstellung aussehen, wenn davor ein „Nein“ geäußert und ignoriert wurde. Umgekehrt kann die brutalste Folterszene einfach guter Sex sein, wenn alle Beteiligten genau diese Handlung wünschen.

Was ist Sadomasochismus?

Sadomasochimus (SM) bedeutet die Verbindung von Sexualität mit Schmerz und/oder Dominanz und Unterwerfung. Der etwas längere Name dafür lautet BDSM: Das steht für „Bondage / Discipline“, „Domination / Submission“, „Sadism / Masochism“. Umgangssprachlich wird unterschieden: zwischen Sadist*innen, die gern andere Menschen Schmerzen zufügen, und Masochist*Innen, die gern Schmerzen zugefügt bekommen. Doch Forschung zeigt, dass es sich dabei um das gleiche Phänomen handelt: SMler*innen haben Präferenzen, aber praktisch niemand steht ausschließlich auf die eine oder andere Rolle.

Aber warum steht irgendjemand überhaupt auf Schmerz? Die kurze Antwort lautet: Menschliche Sexualität ist fast unergründlich komplex. Manche Menschen stehen auf Delphine. Andere auf Kotze. Wiederum andere auf Sahnetorte. Die wenigsten wissen warum. Der US-amerikanische Kolumnist Dan Savage fasst es so zusammen: Manche SMler*innen sind überzeugt, dass sie so sind, weil sie von ihren Eltern geschlagen worden. Andere denken, dass sie auf SM stehen, weil sie nicht von ihren Eltern geschlagen wurden. Wer weiß?

Eine längere Antwort ist im Buch „Die Wahl der Qual“ von Ira Strübel und Kathrin Passig nachzulesen: Es gibt unterschiedliche Theorien, warum manche Menschen sadomasochistisch veranlagt sind – und keine Theorie ist allgemein akzeptiert. Das ist aber auch nicht wirklich wichtig. Es ist zum Beispiel ebenfalls nicht vollständig geklärt, warum manche Menschen heterosexuell und andere homosexuell sind – trotzdem treten wir für bedingungslose Toleranz ein.

Es gibt unterschiedliche Statistiken, aber mindestens 10-15 Prozent der Bevölkerung in den USA haben Erfahrungen mit SM gemacht. Eine wissenschaftliche Untersuchung unter Studierenden aus Deutschland im Jahr 2015 ergab, dass 36% Fesselspiele ausprobiert hatten. Es ist auch kein Wunder, nachdem das Buch „50 Shades Of Grey“ 125 Millionen mal gekauft wurde. Auch viele Horrorfilme bieten kaum versteckte pornographische Szenen an.

Sind alle SMler*innen nicht trotzdem irgendwie krank? Nein. Denn ihre Faszination gilt nicht realer Gewalt, sondern gespielter Gewalt. Eine niederländische Studie zeigte, dass praktizierende SMler*innen sogar weniger psychische Probleme vorweisen als der Durchschnitt der Bevölkerung (wobei es auch Kritik an dieser Studie gibt).

Konsens

Sadomasochismus funktioniert nur auf der Grundlage von viel Kommunikation. Wie bei jeder sexuellen Handlung braucht es zwischen den beteiligten Personen einen klaren Konsens. Dieser muss ausdrücklich, enthusiastisch und anhaltend sein. Ohne Konsens gibt es keinen Sex – auch keinen sadomasochistischen – sondern nur Vergewaltigung.

Gewalt und Dominanz finden also nur in einem klar definierten Rahmen statt: Vorher sprechen die Menschen genau durch, was passieren soll; hinterher werten sie es aus und kümmern sich emotional umeinander („After Care“). Und während des „Spiels“ selbst gibt es einen Code, mit der jede Person sofort alles abbrechen kann. Das nennt sich ein „Safe Word“. Häufig wird – wie in der Seefahrt – „May Day“ als Safe Word benutzt, aber das kann man sich selbst aussuchen.

Wer Sadomasochismus ausprobieren will, muss sich über möglichen Scham hinwegsetzen und offen darüber diskutieren. Manche junge Menschen (vor allem, aber nicht nur Männer) wollen mit einem*r Partner*in einfach „loslegen“ – oder finden Konsens und Safe Words irgendwie „unauthentisch“. Das ist eben kein SM. Das ist Gewalt. Und es ist auch sexy, Konsens herzustellen, denn es bedeutet, sich mit Partner*innen über anstehende sexuelle Handlungen auszutauschen!

Linke und SM

Linke Menschen, die jede Sexualität akzeptieren, können hier trotzdem ins Grübeln kommen. Auch wenn niemand etwas für seine*ihre Sexualität tun kann, ist Sadomasochismus nicht Ausdruck eines irgendwie reaktionären Bewusstseins? Als Feminist*in – warum steht man auf sowas? Ist das nicht die Sexualisierung der ganzen Brutalität der Klassengesellschaft?

Das kann sein. Und? Es bringt selten etwas, gegen die eigene Sexualität vorzugehen – das können zahlreiche christliche Homosexuelle bestätigen, die sich mit Gebeten „heilen“ wollten. Vielleicht werden Menschen, die in der zukünftigen klassenlosen Gesellschaft – dem Kommunismus – aufwachsen und deswegen keine Erfahrung mit Hierarchien unter Menschen haben, nichts mit gespielter Dominanz und Unterwerfung anfangen können.

Oder vielleicht wird es genau umgekehrt sein. Die Science Fiction-Autorin Ursula LeGuin schreibt in ihrem Roman „Die Enteigneten“ über eine anarchistische Gesellschaft auf dem Mond. Die Kinder, die in der Mondanarchie aufwachsen, lernen über etwas namens „Gefängnis“, das auf ihrer Welt gar nicht existiert – das ist für sie so faszinierend, dass sie gleich ein anderes Kind einsperren wollen. Also über die Sexualität von freien Menschen können wir nur Spekulationen anstellen. Und wir brauchen eine Politik für die sexuellen Bedürfnisse von Menschen in der heutigen Gesellschaft.

Das bedeutet, dass wir im Hier und Jetzt offener über Sadomasochismus reden sollten. Denn viele Menschen nehmen ihr SM-Bild aus Hollywood-Filmen oder Pornos – und das Bild, das dort vermittelt wird, hat oft nichts mit liebe- und respektvollen sadomasochistischen Handlungen zu tun.

Ich werde „50 Shades of Grey“ niemals lesen oder schauen. Aber aus Kritiken weiß ich, dass E.L. James‘ Darstellung von Sadomasochismus mehr als nur ein bisschen problematisch ist. Eine solche Veranlagung wird nicht, wie bei Christian Grey, mit Missbrauchserfahrung in der Kindheit erklärt – genauso wenig wird es durch eine romantische Beziehung „geheilt“. Und der Umgang von Grey mit Anastasia erinnert an vielen Stellen an schlichtem Missbrauch ohne Konsens. Sollen junge Menschen dadurch etwas über SM lernen?

Eine antisexistische, feministische und linke Herangehensweise kann keine Ablehnung von Sadomasochismus beinhalten. Das Ziel ist, dass Menschen offener über ihre Wünsche kommunizieren können, damit sie Sachen machen, die sie wollen (und Sachen vermeiden, die sie nicht wollen). Und das gilt auch für Sachen, die auf dem ersten Blick brutal aussehen können.

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