Impfkampagne stottert: Hilft jetzt eine Impf-Pflicht?

28.07.2021, Lesezeit 8 Min.
1
Bild: nitpicker / shutterstock.com

Die Impfkampagne in Deutschland verlangsamt sich deutlich. Nun werden auch in der Linken Stimmen für eine Impfpflicht laut – ob unmittelbar oder „durch die Hintertür“. Doch das wird nicht klappen.

Während der Impffortschritt in der Bundesrepublik ins Stottern geraten ist, hat die in Frankreich angekündigte Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen hohe Wellen geschlagen. Deutsche Politiker:innen nutzen die Gelegenheit – und vermitteln wahlkampfgerecht ihren eigenen Standpunkt zur Impfpflicht. Von der Diskussion ignoriert bleibt die Tatsache, dass nach wie vor vielen der bloße Zugang zum Impfstoff erschwert ist oder sogar gänzlich fehlt – in Deutschland und weltweit. Dass laut Spiegel in Deutschland rund 15 Millionen ungenutzte Impfdosen verfügbar seien, bedeutet schließlich längst nicht, dass sie auch den Weg zu denjenigen finden, die sich gerne impfen lassen würden.

Und mit welcher Legitimation kann eine solche Pflicht gefordert werden – in einem Staat, der schon eine freiwillige Impfkampagne nur dürftig organisieren konnte? Was wir in dieser Pandemie brauchen, ist nicht die Impfpflicht – sondern die Kontrolle über das Gesundheitssystem.

Woher kommt die „Impflücke“?

Die verheerenden Folgen einer Covid-Infektion sind hinreichend bekannt. Nahezu jede:r kennt eine ehemals infizierte Person. Neue besorgniserregende Auswirkungen des Virus werden im Wochenrhythmus entdeckt und sind immer eine Schlagzeile wert. Obschon die Risiken der Infektion, z.B in Form eines monatelang anhaltenden Long-Covid-Syndroms, eindeutig größer als die einer Impfung sind, nimmt die Impfbereitschaft ab. Vergangene Woche erhielten so wenige Menschen ihre Erstimpfung wie zuletzt im Februar. Insgesamt sind dem Impfdashboard des Bundesgesundheitsministeriums zufolge seit heute über 50 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft – von einem wirksamen Bevölkerungsschutz sind wir also noch ein gutes Stück entfernt. Doch längst nicht alle, die mit dem Stich zögern, sind schwurbelnde Impfgegner:innen.

Arbeiter:innen haben gute Gründe, dem profitorientierten Gesundheitssystem zu misstrauen: Patient:innen und Beschäftigte im medizinischen Sektor erfahren täglich am eigenen Leib, dass es nicht ihren eigenen Interessen dient. Fast jede:r kennt Ärzt:innen, die eher wie Tablettenhändler:innen auftreten – eine Folge des wirtschaftlichen Drucks auf die Praxen. Die Hersteller spielen Nebenwirkungen alter und neuer Medikamente herunter, um den Absatz nicht zu gefährden. Bestes Beispiel: die Pille.

Die zehn Minuten Gesprächszeit, die laut dem Abrechnungskatalog der Krankenkassen übernommen werden, reichen nicht aus, um ein vertrauensvolles Verhältnis zu Impfärzt:innen aufzubauen. Genau dieses ist aber grundlegend für jede Aufklärungsarbeit.

Was hier schmerzlich fehlt, sind Organisationen, die das Vertrauen der Arbeiter:innen verdienen. Die Gewerkschaften verzichten leider bisher auf diese Rolle, obwohl die Impfung durchaus auch ein betriebspolitisches Thema ist: Schichtarbeiter:innen haben es schwerer, an einen Arzttermin zu kommen. Ähnlich geht es Kolleg:innen aus Randbezirken oder ländlichen Gebieten.

In Betrieben ohne Betriebsarzt bleibt das Impfen mehr oder weniger Privatsache, zumal eine Krankschreibung, die die Immunreaktion oft mit sich bringt, nicht überall gerne gesehen ist. Pfleger:innen berichten, dass ihr Schichtplan sie von der Impfung abhält: Wenn sie sich die darauffolgenden Tage krank melden, wären die Schichten für die Kolleg:innen nicht zu schaffen.

Das Recht auf Impfung

Seit Beginn der an Skandalen reichen Impfkampagne ließ sich beobachten, wie ineffizient Markt und Staat die vorhandenen Ressourcen nutzen. Vielerorts mussten aufgetaute Impfdosen entsorgt werden, während andere Impfzentren lange auf Lieferungen warten mussten. Nun werden die Impfzentren nach und nach geschlossen: Sie binden zu viele medizinische Fachkräfte.

Eines der wahrscheinlichen Szenarien für die nahe Zukunft beinhaltet jedoch jährliche Auffrischungen der Covid-Impfungen gegen neue Mutationen –  wie es auch bei der Grippe üblich ist. Werden die schon heute überfüllten Arztpraxen den zusätzlichen Aufwand stemmen können, wenn beinahe jede:r volljährige Anwohner:in zwei Termine pro Jahr zusätzlich wahrnehmen muss? Und: Welche Errungenschaften werden uns dafür weggespart werden?

Absurd ist die Logik einer Impfpflicht auch im Hinblick auf die Tatsache, dass noch lange nicht alle das Recht auf eine Impfung wahrnehmen können. Für Geflüchtete, Obdachlose und andere Menschen ohne Krankenversicherung besteht in Berlin erst seit dem 30. Juni überhaupt ein Impfangebot. Ganze 250 Dosen pro Woche sind laut Informationen der Senatsverwaltung hier vorgesehen – allein die offizielle Zahl wohnungsloser Menschen in Berlin wird mit knapp 2.000 angegeben.

Global betrachtet ist die Lage noch deutlich katastrophaler. Während hierzulande eine Impfpflicht diskutiert wird, klettern die Impfraten in afrikanischen Ländern nur langsam über die Zwei-Prozent-Marke. Verantwortlich dafür sind auch all jene, die die Freigabe der Patente und der Produktionskapazitäten verhindern.

In Anbetracht all dieser Umstände wäre eine gesetzliche, mit Bußgeldern kontrollierte Impfpflicht mehr als nur dreist. Obendrein wäre sie auch nicht wirksam. Die Verantwortung würde auf den Einzelnen abgewälzt, der sich von allen Seiten angegriffen sieht: vom Virus und von den Verhältnissen. Aber wer sich nicht im  Großen wehren kann, tut es im Kleinen. So könnte die Impfpflicht sogar einen gegenteiligen Effekt auslösen: Schon jetzt floriert der Schwarzhandel mit gefälschten Impfnachweisen. Unter den aktuellen Zuständen würde Querdenken & Co. am meisten von der Impfpflicht profitieren.

Aber auch eine „Impfpflicht durch die Hintertür“, wie sie derzeit diskutiert wird, wäre kaum hilfreich. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) forderte gestern, die staatliche Finanzierung von Testangeboten für Ungeimpfte müsse enden. Der absehbare Effekt: weniger durchgeführte Tests. Der Pandemiebekämpfung wäre damit ein Bärendienst erwiesen. Zudem hätte diese Maßnahme einen klar sichtbaren Klasseninhalt. Zehn Euro für einen Schnelltest oder 50 bis 60 Euro für einen PCR-Test mögen für Besserverdiener:innen kein Problem sein – für den Großteil der arbeitenden Bevökerung sind sie es.

Der Sieg gegen Polio: Wie eine Impfpflicht wirken kann

Auch die Sowjetunion kannte das Problem der „Impfmüdigkeit“ – im Kampf gegen Polio der 1950er Jahre. Sogar die sowjetische Bürokratie zeigte damals mehr Geschick im Umgang mit ihr als die Bundesregierung heute.

Zwar musste auch in der DDR eine Impfpflicht eingeführt werden, um einer geringen Bereitschaft entgegenzuwirken. Diese wurde aber mit einer wirksamen Kampagne kombiniert – einer effizienten Nutzung von Ressourcen, die gebündelt der Gesellschaft zur Verfügung standen. Schulen, Krankenhäuser und Kindergärten wurden einbezogen, Massenimpfungen wurden unbürokratisch in den Tagesablauf integriert. So gingen die Polio-Raten in der DDR so schnell zurück, dass der Erreger 1958 als ausgerottet galt – und man der BRD übrige Impfdosen als „Entwicklungshilfe“ anbieten konnte. Dort wütete Polio bis in die 1960er Jahre hinein. Noch heute sind die Impfraten im Osten Deutschlands höher als im Westen.

Hier zeigen sich die Vorteile eines Gesundheitssystems, das nicht den Gewinnen einiger Weniger dient.

Ein Gesundheitssystem in unseren Händen

In der Corona-Krise sehen wir besonders deutlich, wie verheerend das Fehlen einer starken Organisierung der Arbeiter:innenschaft ist

Gegen die Einführung eines Impfzwangs für bestimmte Berufsgruppen durch die Macron-Regierung gingen in Frankreich mehr als 160.000 Menschen auf die Straßen. Wenn man die Berichterstattung der deutschsprachigen Leitmedien verfolgt hat, müsste man sie alle für Coronaleugner:innen und Impfgegner:innen halten. Tatsächlich haben jedoch auch Gewerkschaften und linke Organisationen mobilisiert. Viele der Teilnehmer:innen sprachen sich ausdrücklich für eine umfassende Impfkampagne aus. Doch sahen sie, dass der geplante sogenannte Gesundheitspass nur ein weiteres Zwangsmittel im autoritären Umgang mit der Krise durch die Regierung Macron darstellt.

Solange es kein vertrauenswürdiges Organ gibt, das unsere Interessen konsequent vertritt, werden wir die Folgen des gesamtkapitalistischen Versagens widerspruchslos ausbaden müssen. Die Corona-Krise in ihrer Gesamtheit ist eine solche Folge – ebenso wie ihre Details. Die Impfpflicht wäre eine Bestrafung der Arbeiter:innen für die missglückte Impfkampagne von oben. Die Ursache für dieses Scheitern liegt aber im System selbst: im gewinnorientierten, privaten Gesundheitssektor. Ihn müssen wir überwinden, um für die Pandemie und alles, was die Zukunft mit dem demografischen Wandel und dem Klimawandel mit sich bringt, gerüstet zu sein. Die Schaffung starker Organe ist also dringend – und darf nicht länger bloß Theorie bleiben.

Mehr zum Thema