Impfen für den Platz an der Sonne

31.07.2021, Lesezeit 15 Min.
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Impfstoffe sind zu Formen der Soft Power geworden. Über Deutschlands Rolle im Konflikt mit den USA und China auf dem Weltmarkt.

Die Entwicklung der Weltwirtschaft wird nach wie vor von der Ausbreitung und Bekämpfung des Coronavirus bestimmt. Um den Globus gespannte Lieferketten geraten aktuell ins Stocken. Konzerne berichten von chaotischen Zuständen und Staus vor den Häfen, wie zum Beispiel in Hongkong. Aus der Logistikbranche wird berichtet, dass nur jedes dritte Schiff pünktlich in Deutschland anläuft. Dies führt nicht nur zu Engpässen bei der Materialbeschaffung und der Warenzufuhr, sondern auch zu inflationären Tendenzen. Laut Prognosen der Bundesbank wird „die Inflationsrate gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) (…) im laufenden Jahr kräftig auf 2,6 Prozent anziehen. Ausschlaggebend sind die wieder höheren Mehrwertsteuersätze, die neu eingeführten CO2-Emissionszertifikate sowie die stark gestiegenen Preise für Rohöl und auch Nahrungsmittel.“  Im medizinischen Bereich wurden im vergangenen Jahr erst Masken und Schutzkleidung rar, dann gab es Engpässe bei einfachen Untersuchungshandschuhen, nun drohen für die laufende Impfkampagne Spritzen und Kanülen auszugehen: Die Versorgung mit elementaren Medizinprodukten und Arzneimitteln entwickelt sich zum Dauerthema in der Pandemie.

Hinzu kommt, dass  die Krise dem ehemaligen Exportweltmeister Deutschland arg zugesetzt hat. Die Export-Abhängigkeit von Kernbranchen der deutschen Industrie führte zwar dazu, dass sie viele Jahre von der guten Konjunktur auf den wichtigen Auslandsmärkten profitieren konnten. Im krisengebeutelten  globalen Kontext mit Finanz- und Wirtschaftskrise, Eurokrise, Brexit, der protektionistischen US-Handelspolitik unter US-Präsident Donald Trump, und zuletzt der Covid-19-Pandemie hat sich genau diese Abhängigkeit als Achillesferse erwiesen.

Pandemie, Weltmarkt und deutsche Exportabhängigkeit

So bedeutete das Jahr 2020 für die deutsche Wirtschaft „eine schwere Rezession, vergleichbar mit der Wirtschafts- und Finanzkrise in den Jahren 2008 und 2009. Um 5,0 Prozent ist das Bruttoinlandsprodukt im Corona-Jahr zurück gegangen“. Jedoch haben die umfangreichen Corona-Hilfspakete der Bundesregierung dafür gesorgt, dass das produktive Geflecht aufrechterhalten werden konnte. Als die chinesische Wirtschaft sich schrittweise erholte, hatte auch sie auf die deutsche Wirtschaft einen heilsamen Effekt. Dass viele Unternehmen letztlich sogar im Krisenjahr ein Umsatzplus erzielten, war fast einzig und allein China zu verdanken: „Dort haben wir unseren Umsatz um 28 Prozent erhöht“, behauptet zum Beispiel der Vertriebs-Chef des Unternehmens Beckhoff Automation.

Es bleibt jedoch eine Achterbahnfahrt mit ungewissem Ausgang: Der Markt ist hart umkämpft. Selbst Schlüsselsektoren der deutschen Wirtschaft wie der Maschinenbau spüren den Druck im Nacken. Die deutsche Maschinenbauindustrie spürt ihn, während sie Marktanteile an China verliert; 15,5 Prozent des globalen Marktanteils gegenüber 15,8 Prozent im Vorjahr.

Der Konflikt um Absatzmärkte, den die heutigen Hauptakteure China und USA führen, wird von dieser zunehmenden Konkurrenz und der Corona-Pandemie verschärft. Denn längst ist die Volksrepublik nicht nur Exporteur von Produkten der unteren Kettenglieder der Wertschöpfung – wie etwa Quietschenten –, sondern das Land mit den meisten Top-Unternehmen der Global 500 Liste des Magazins Fortune. China zählt Giganten der Techindustrie wie Huawei. Noch ist die durchschnittliche Produktivität der Arbeitskraft in China erheblich niedriger ist als in Deutschland oder den USA – doch die Volksrepublik holt auf.

Mit dem Projekt der „Belt and Road Initiative“ (sogenannte neue Seidenstraße) und den massiven Investitionen in Infrastruktur auf dem afrikanischen Kontinent, dessen wichtigster Handelspartner China ist, weitet das ostasiatische Land seine Einflusssphäre langfristig aus. Dessen ist sich nicht nur Deutschland bewusst: Der G7-Gipfel im englischen Cornwall im Juni 2021 verdeutlicht die Grenzen der aktuellen politischen Achsen der wichtigsten imperialistischen Mächte. Eine neue Taskforce wurde zur Entwicklung einer Alternative zur Seidenstraße gegründet.

Die damit verbundene rasante Verschlechterung der bilateralen Beziehungen stellen eine große Gefahr für die EU und insbesondere für Deutschland dar, denn seine Macht basiert vor allem auf seiner Wettbewerbsfähigkeit, deren Achillesferse die Abhängigkeit vom Export darstellt. Zwar ist Deutschlands Abhängigkeit von den USA immer noch groß; da die Abhängigkeit von China jedoch während der Pandemie zugenommen hat, sind die USA als wichtigster Handelspartner abgelöst. Die Neue Zürcher Zeitung schrieb dazu:

Seit 2015 ist China der wichtigste Handelspartner Deutschlands. Das Handelsvolumen betrug im vergangenen Jahr 212 Milliarden Euro. Vor allem die deutsche Industrie kam wegen des chinesischen Marktes vergleichsweise ungeschoren durch die Pandemie. Jedes der 30 DAX-Unternehmen erwirtschaftet durchschnittlich 15 Prozent seines Umsatzes in China; bei den Autokonzernen sind es 20 Prozent. Jeder vierte aus Deutschland exportierte Neuwagen wurde 2020 nach China verschifft. Insgesamt waren es 5,4 Millionen Fahrzeuge – Tendenz: steigend. Insbesondere der Erfolg von Marken wie VW und Audi ist ohne den Markt in Fernost nicht vorstellbar.

Zudem versucht China offensiv, die „Wertepartnerschaft“ Europas mit den USA zu unterminieren. Die USA ihrerseits streben eine „härtere Gangart“ gegenüber China an und suchen dafür Verbündete zum Katastrophenschutz; nach US-Präsident Biden soll Europa, angeführt von der „Mittelmacht“ Deutschland, das Pendel zugunsten der USA ausschlagen lassen.

Die große Frage dabei ist, auf welche Seite sich Berlin im Konflikt zwischen Peking und Washington stellen wird. Denn China möchte eine Welt sehen, in der Europa „strategische Autonomie“ an den Tag legt, die USA dagegen wollen Europa weiterhin an ihrer Flanke halten. Was vorerst sicher ist: Der Druck auf Berlin wird zunehmen.

Deutschlands Dilemma dabei ist, dass es weder über „die Wirtschaftskraft noch über die militärischen Mittel verfügt, um tatsächlich als Ordnungsmacht in der Welt auftreten zu können.“ Zudem wird immer deutlicher, wie die zunehmende wirtschaftliche Abhängigkeit Deutschlands von China zwar für gute Geschäfte sorgt – in sicherheitspolitischer Hinsicht aber langfristig die politische und wirtschaftliche Rolle Deutschlands unterminiert und seine angestrebte Führungsrolle in Frage stellt. Die FAZ schreibt zutreffend:

Der erste Schritt in diese Richtung besteht darin, Sicherheitspolitik und Wirtschaftspolitik, anders als bisher, nicht als unverbundene, gleichsam autonome Entitäten zu betrachten, sondern als ineinandergreifende Kernelemente deutscher Strategie. Es sollte deshalb nicht länger als unbestrittener Bestandteil deutscher Wirtschaftspolitik und ihrer (vergangenen) Globalisierungsideale gelten, dass China aufgrund internationaler Verflechtungen ungehemmt prosperiert. Vielmehr sollte gefragt werden, wie stark China eigentlich durch globalen Handel werden soll. Denn dass Deutschlands Handel mit China einem Zweck dient, der nicht im deutschen Interesse sein kann, liegt auf der Hand. Jedes Prozent Wachstum festigt die Herrschaft der Kommunistischen Partei und legitimiert ihre Akzeptanz in der chinesischen Bevölkerung. Jahr für Jahr. […] Nicht zuletzt trägt auch Deutschlands Handel anteilig dazu bei, dass die Volksrepublik kontinuierlich einen Zuwachs ihres Militärhaushalts verbuchen kann, der jährlich dem Umfang der Bundeswehr entspricht.

Die relative Schwäche Deutschlands als „Mittelmacht“ zwingt es, zwischen Konkurrenten zu lavieren, ohne eigenständig „Politik mit anderen Mitteln“ durchsetzen zu können. DIe USA wiederum könnten dies zwar; sind jedoch allein nicht in der Lage, den chinesischen Aufstieg zu stoppen. Deutschland muss sich entscheiden, auf welcher Seite es sich schlagen will: Entweder sorgt Berlin zusammen mit den USA dafür, Chinas Aufstieg zu bremsen und dabei die schützende Hand der USA über sich zu spüren –  oder es schlägt einen eigenständigen Weg ein, zusammen mit Regionalmächten wie Russland.

Die USA brauchen aber Deutschland und Europa, um den wachsenden Einfluss Chinas zu stoppen. Wie es die FAZ im selben Artikel auf den Punkt bringt:

 Allein kann sich Amerika in den nächsten Jahren China nicht entgegenstellen, denn selbst bei konservativem Wirtschaftswachstum wird die Volksrepublik bald wirtschaftlich stärker sein. Gemeinsam aber können Europa und Amerika, nicht zuletzt mit den Mitgliedern des Quad (Indien, Japan, Australien), China in seine Schranken weisen – sofern der politische Wille dazu gebildet wird.

Deutschland braucht also eine langfristige Strategie, um seine Rolle im weltweiten Konzert der mächtigen Nationen spielen zu dürfen. Diese strategische Neuausrichtung muss aus bürgerlicher Sicht unweigerlich zwei Elemente mit einbeziehen: Zum Einen müssen sich deutsche Unternehmen statt allein auf

Spezialisierung, Kosteneffizienz und just in time-Produktion zu setzen, […]  breiter aufstellen, ihre Abhängigkeit von einzelnen Regionen und Produzenten reduzieren und Lieferketten sichern, indem sie ihre Zulieferer regional diversifizieren und die Lieferbeziehungen zur besseren Kontrolle stärker regional ausrichten.

Zum anderen braucht Deutschland eine strategische Wende, um die westliche Vorherrschaft beizubehalten. Die mRNA-Impfstoff-Technologie wird dabei zum wichtigen Faktor für die Belebung des wirtschaftlichen und politischen Bündnisses mit den USA. So war es nur logisch, dass Deutschland dem Mainzer Pharmaunternehmen Biontech einen US-amerikanischen Kooperationspartner, Pfizer, zur Seite stellte – und nicht etwa einen europäischen. Sollten aber die Patente – wie von Biden beabsichtigt – ausgesetzt werden, muss Deutschland fürchten, seinen technologischen Vorsprung der zunkunftsträchtigen mRNA-Technologie zu verlieren.

Impfstoffe als Mittel zur Durchsetzung imperialer Interessen

„Wir müssen aufpassen, dass wir nicht den gleichen Fehler machen wie in der Finanzkrise“, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn. Gemeint war der „Verlust“ des griechischen Hafens Piräus, der mitten in der Staatsschuldenkrise vom chinesischen Logistikkonzern China Ocean Shipping Company (Cosco) gekauft wurde. Nach dem Willen Pekings soll er zum größten Container-Umschlagplatz im Mittelmeer aufsteigen. Heute geht es aber nicht um Container, sondern um Impfstoffe gegen COVID-19, welche von bürgerlichen Analyst:innen gern zu einer Art geopolitischer „Soft Power“ stilisiert werden. Jedoch sind Verhandlungen um den begehrten Impfstoff hart und dreist, sie zeugen von erneuten imperialen Ambitionen. Laut den veröffentlichten Recherchen des Bureau of Investigative Journalism setzte Biontech-Pfizer lateinamerikanische Länder mit unverschämten Forderungen massiv unter Druck. Der deutsch-US-amerikanische Konzern verlangte etwa, dass Regierungen dem Konzern ihre Botschaftsgebäude und Militärbasen im  Ausland oder Teile ihrer Nationalbankreserven als Sicherheiten überschreiben, falls sie verklagt werden sollten. Die Käuferstaaten sollten für Schadenersatzforderungen aus zivilrechtlichen Klagen gerade stehen, nicht Pfizer/Biontech dafür aufkommen. Dabei handelt es sich um protektionistische Tendenzen der hiesigen Wirtschaft, diesmal im medizinischen Sektor. Es spielt für Berlin oder Washington keine Rolle, wie viele Menschen in Afrika oder Südamerika sterben, solange der Profit stimmt.

Diese Forderungen mit ihrem imperialen Charakter sind mehr oder weniger rechtskonform. Sie werden zum Mittel zur weltweiten Durchsetzung der Interessen der einheimischen Bourgeoisie. Die Haltung Deutschlands, die darin besteht, ärmere Länder direkt zu beliefern, anstatt Patente freizugeben, sorgt für Unmut auf US-Seite. So können die USA sich nicht als guter Hegemon profilieren oder den „Kampf um die Herzen“ gewinnen. Der Büroleiter von Spiegel Online in Washington, DC, schrieb hierzu:

Die Vereinigten Staaten haben sich immer dann das Ansehen der Welt erworben, wenn sie Stärke mit Großzügigkeit verbunden haben – etwa nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie mit dem Marshallplan Westeuropa wieder aufgebaut haben, statt es seinem Schicksal zu überlassen. Es wäre fatal, sollten Entwicklungsländer aus der Pandemie die Lehre ziehen, dass man sich in der Not eher auf Moskau und Peking verlassen kann als auf Washington.

Der berüchtigte Ex-Chefökonom der Weltbank, Joseph Stiglitz, behauptet, Deutschlands Haltung enthielte „durchaus rassistische und neokolonialistische Untertöne“. Solche Sätze bedürfen schon einer gewissen Portion Dreistigkeit – kommen sie doch von einer ehemaligen Spitzenfigur eben jener Institution, die den Hunger und Tod von Millionen in der Dritten Welt zu verantworten hat. Und dennoch liegt er nicht falsch. Er sorgt sich jedoch weniger um die Milliarden Menschen, die keine Schutzimpfung erhalten werden, als um das Ansehen der USA in der Welt. Wie zynisch und verlogen Stiglitz ist, zeigen folgende von der Universität Oxford veröffentlichten Rechercheergebnisse: Mit den weltweit sieben zugelassenen Impfstoffe sind bisher ca. 160 Millionen Menschen vollständig geimpft (Stand Mai 2021), was etwa zwei Prozent der Weltbevölkerung entspricht. 60 Prozent von ihnen leben in den USA oder der Europäischen Union, die insgesamt 10 Prozent der Weltbevölkerung stellen. Die Vermögensverwaltung Amundi resümiert ebenfalls im Mai dieses Jahres in einem Papier:

Einige wenige Länder liegen im Impfwettlauf vorne, wie Israel, wo 61 Prozent der Bevölkerung mindestens eine Dosis erhalten haben, Großbritannien (46 Prozent) oder die USA (36 Prozent), aber Europa liegt mit 12 bis 13 Prozent der Bevölkerung, die eine Impfung erhalten haben, weit zurück. Die Schwellenländer liegen sogar noch weiter zurück, mit weniger als 5Prozent  in Indien, Russland oder Indonesien. In China gibt es offiziell keine Covid-Fälle… und wir haben noch keine genauen Impfzahlen, aber es ist unwahrscheinlich, dass mehr als 5 Prozent der 1,4 Milliarden Chinesen zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels eine Erstimpfung erhalten haben. COVAX hinkt dem Zeitplan hinterher, daher wird die große Mehrheit der Weltbevölkerung bis zum Ende des Jahres nicht geimpft sein. Außerdem bedeuten Varianten, die geringe Dauer der Immunität und das wahrscheinliche Wiederaufflammen des Ausbruchs in den kommenden Jahren, dass wir uns möglicherweise regelmäßig impfen lassen müssen, um unser Immunsystem wirksam zu halten. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: (1) es wird Jahre dauern, bis die globale Herdenimmunität erreicht ist, (2) Impfstoffe sind sehr mächtige geopolitische Waffen.

Europa und die USA können also dank der mRNA-Technologie eine stärkere Kontrolle über den Virus im Inland erreichen. Gleichzeitig sichern sie sich einen Vorteil gegenüber jenen Ländern, die Impfstoffe mit Vektor-Technologie herstellen und weltweit verteilen. Sie verschaffen sich also einen geopolitischen Vorteil gegenüber China und Russland.

So wundert es nicht, dass die Impfstoffe, die sich die imperialistischen Länder für die kommenden 15 Jahre reserviert kommen, ausschließlich Pfizer/BioNTech- oder Moderna-Präparate sind. Beide basieren auf mRNA-Technologie. In Mittel- und Osteuropa, Westasien und Afrika kommen bisher 50 Prozent der reservierten Impfstoffe aus China und 7 Prozent aus Russland, die mit ihrer Vektor-Technologie im Vergleich zur mRNA-Technologie einen deutlich schwächeren und kurzfristigeren Schutz bieten.

Deutschlands Annäherung an die USA bei der Impfstoffstrategie zielt auf ein gemeinsames Vorgehen gegen den wachsenden Einfluss Chinas, aber auch Russlands. Denn Peking denkt und handelt langfristig. China versucht zur Zeit relativ erfolgreich, wirtschaftliche und politische Abhängigkeiten zu fördern. Angesichts der grassierenden Pandemie ist die großzügige Verteilung von Impfstoffen eine wichtige „sanfte Waffe“. China kann in Ländern Afrikas oder Lateinamerikas bereits einige Erfolge verzeichnen, nun versucht es, in Europa trotz des Widerstands seitens Deutschlands Fuß zu fassen – zu beobachten in Ländern wie Serbien oder Ungarn. So muss sowohl der US- als auch der deutsche Imperialismus nicht nur die eigene Bevölkerung mit den eigenen Impfstoffe impfen, sondern zudem alles daran setzen, die chinesische und russischen Impfpolitik zu stören – etwa, indem ihren Impfstoffen die Zulassung verweigert wird. Weltweit müssen sie jedoch den wachsenden Einfluss Chinas dort bekämpfen, wo es versucht Fuß zu fassen: vor allem Afrika, Lateinamerika, und den Ländern entlang der „neuen Seidenstraße“. Besonderes Augenmerk liegt auf dem von der Pandemie stark betroffenen Indien, was in linksliberalen Medien wie der Süddeutschen Zeitung als ein „dringend überfälliger Akt der globalen Gerechtigkeit“ deklariert wird. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier formulierte es folgendermaßen: „Ich weiß, dass viele Menschen in Afrika [die jetzige Verteilung des Impfstoffs] als ungerecht empfinden – und ich teile dieses Empfinden.“

Bidens Europareise hatte das Ziel, eine Allianz zu schmieden. Die Renaissance des G7, ohne China und Russland, ist ein erster Schritt in diese Richtung. Dabei sollen Gegengewichte entstehen, wo China Dominanz anstrebt: im Handel, beim technologischen Fortschritt, in Wirtschaftsbeziehungen zu anderen Staaten.

Aus den oben genannten Punkten lassen sich mehrere Erkenntnisse gewinnen. Erstens: Die Frage der Patent-Aussetzung hat eine besondere Bedeutung für Deutschland im Kontext der zunehmenden Spannungen zwischen den USA und China. Zweitens: Die Frage nach der globalen Herdenimmunität ist von zentraler Bedeutung, da die Pandemie den politischen Moment bestimmt.  Impfstoffe sind zu einer sehr mächtigen geopolitischen Waffe im „Kampf um die Herzen“ geworden und werden genutzt, um das produktive Geflecht aufrecht zu erhalten. Wer dieses Arsenal hat, hat einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz und kann bis zu einem gewissen Grad die Spielregeln bestimmen.

Drittens: Die USA versuchen, mittels Allianzen ihren Niedergang aufzuhalten, indem sie ihre Verbündeten zu einer klaren Parteiergreifung zwingen. China wiederum zeigt hegemoniale Bestrebungen, indem es versucht in die Rolle eines guten Hegemons zu schlüpfen. Russlands seinerseits versucht, seine Rolle als Regionalmacht zu festigen und das Ansehen des Landes zu erhöhen. Deutschland versucht, zwischen den Hauptakteure heute zu lavieren, ohne eine andere „Politik mit anderen Mitteln“ durchsetzen zu können. Dabei verengt sich der vorhandene Spielraum dafür.

Schlussfolgerung für die Arbeiter:innenbewegung

Als die Pandemie auch in Deutschland eintraf, wurden Millionen Zeug:innen der beinahe mafiösen Machenschaften von bürgerlichen Politiker:innen, die sich auf Kosten der Gesundheit von Millionen Menschen bereicherten. In einer der reichsten Nationen der Welt hatten die bürgerlichen Politiker:innen nichts unternommen, um sich auf die von der Wissenschaft lange vorausgesagte Pandemie vorzubereiten. Noch schlimmer: Schon lange vor der Pandemie haben sie Krankenhäuser geschlossen oder kaputt gespart. Heute sind es dieselben Politiker:innen, die, wie Armin Laschet, im schlimmsten Moment für viele Tausende von Flutopfern im Westen „rheinische Ausgelassenheit“ zeigen, und fröhlich feixend vor den laufenden Kameras erscheinen. Sie leben in einer Parallelwelt, in der die Nöte und Sorgen der Arbeiter:innen und Armen keine Rolle spielen. Deshalb können sie selbst bei einer Katastrophe fröhlich lachen. Für die Arbeiter:innen und ihre Familien haben sie genauso wenig übrig wie ein Jeff Bezos für seine Beschäftigte: Nichts. Alles andere ist PR.

Die Arbeiter:innenklasse und die subalternen Klassen haben auch keine Lobby, die für sie im Parlament spricht. Sie haben auch keine Partei, die ihre Interessen gegen Konzerne und Banken durchsetzt. Wir sind auf uns allein gestellt, wie die Pandemie und nun die Flutkatastrophe zeigen.

Die Flutopfer im Westen Deutschlands erfahren am eigenen Leib, wie stark sich ihre Interessen von Konzernen wie RWE unterscheiden, die für ihre Gewinne große Schäden an der Umwelt in Kauf nehmen. Ähnlich verhält es sich mit BioNTech – einem Unternehmen, das Geschäfte mit Millionen von Menschenleben macht.

Es kann keine demokratisch kontrollierte, staatliche Impfstoffproduktion geben, solange der Klassencharakter des Staates und seines jeweiligen Regierungskabinetts fortbesteht. Der Kampf für die sofortige Aussetzung der Impfstoffpatente und die Abschaffung des Patentsystems kann nicht losgelöst vom Kampf für die entschädigungslose Verstaatlichung des gesamten Gesundheitssystems sowie der in der medizinischen Forschung tätigen Unternehmen gewonnen werden. Der Kampf für die Abschaffung von Patenten auf lebensnotwendige Medizin und der Kampf für eine Umweltpolitik, die die Interessen der Arbeiter:innen und ihre Familien im Vordergrund stellt, erfordert die Schaffung einer unabhängigen Arbeiter:innenpartei, die für einen Bruch mit dem Kapitalismus kämpft – und nicht für seine utopische Umgestaltung. Diesem Kampf widmen wir uns!

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