Heftiger Linksruck bei den konstituierenden Wahlen in Chile

18.05.2021, Lesezeit 6 Min.
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Die Parteien, die in den letzten 30 Jahren das Erbe Pinochets verwalteten, erleben eine heftige Schlappe. Linke und Unabhängige gewinnen die Mehrheit des Konvents, der die neue Verfassung ausarbeiten soll. Kommunistische Partei stellt Bürgermeisterin von Santiago. Trotzkist:innen (PTR) avancieren zur vierten Kraft in der Berbauregion Antofagasta, Brennpunkt der Revolte. Heftige Kursverluste an der Börse von Santiago.

Trotz geringer Wahlbeteiligung von lediglich 43 Prozent gab es ein politisches Erdbeben in Chile. Die Parteien der Bourgeoisie, sowohl aus dem rechten wie „linken“ Lager, wurden massiv abgestraft. Der Konvent, der die neue Verfassung ausarbeiten soll, wird von Linken und unabhängigen Kandidat:innen dominiert.

Chile hat an diesem Wochenende einen für bürgerlichen Analyst:innen unerwarteten Schwenk nach links vollzogen. Der neugewählte 155-köpfige Konvent, der ab Juni ein Jahr Zeit haben wird, die neue Verfassung zu entwerfen, wird von Unabhängigen dominiert. Sie stellen 48 unabhängige Mitglieder in dem Gremium und machen damit 31 Prozent aus. Die Rechte und Ultrarechte von Präsident Sebastian Piñera erlitt eine historische Niederlage. Sein regierender Block zog mit 37 Gewählten ein. Trotz zahlreicher Unregelmäßigkeiten und enormer Wahlkampfgelder erhielt er damit nur 23,9 Prozent, deutlich weniger als die 33 Prozent, die nötig wären, um bei Entscheidungen Vetos einzulegen. Diese Sperrminderheit hatte die Regierung mit Teilen der „Opposition“ gemeinsam mit der Frente Amplio (Linkspartei) hinter geschlossenen Türen ausgemacht.

Auch die traditionellen Mitte-Linksparteien der ehemaligen Concertación (Sozialistischen Partei, die linksliberale PPD und Christdemokraten), also die Kräfte, die den sogenannten Übergang zur Demokratie anführten und Chile seit 1990 regierten, scheiterten hart und holten gerade mal 25 Sitze (16,1 Prozent). Sie wurde sogar vom reformistischen Wahlbündnis überholt, bestehend aus der Kommunistischen Partei, die Teil der zweiten Regierung von Michelle Bachelet war (2014-2018), und der Frente Amplio, die starke politischen Schnittmengen mit der Partei der LINKEN in Deutschland, Podemos im Spanischen Staat oder Syriza in Griechenland aufweist. Mit 28 Gewählten (18,1 Prozent der Stimmen) wurde dieses Bündnis erste Oppositionskraft in der künftigen verfassungsgebenden Konvention.

Trotzkistin zieht in Gemeinderat von Antofagasta ein

Die radikalen Linke, die sich um die Partido de Trabajadores Revolucionarios (PTR) ,die Schwesterorganisation von RIO, versammelt, ging ins Rennen mit kämpferischen Listen in acht Wahlbezirken des Landes. Dabei bekam sie 52.340 Stimmen (0,92 Prozent). In Antofagasta, der Bergbauhauptstadt des Landes und eins der Ballungszentren der chilenischen Arbeiter:innenklasse, erzielte der Kandidat für das Amt des Regionalgouverneurs von Antofagasta Lester Calderón, Industriearbeiter, PTR-Mitglied und Anführer der Gewerkschaft Orica Chile, ein wichtiges Ergebnis, indem er mehr als 20.000 Stimmen bekam. Damit erreichte die PTR in Antofagasta den Platz als vierte regionale politische Kraft mit etwa 13 Prozent der Stimmen und lediglich ein paar Punkte hinter dem Kandidaten der Frente Amplio. Sie schlägt ein sozialistisches Programm vor und ruft dazu auf, eine unabhängige Kraft der Arbeiter:innen aufzubauen, um den Kapitalismus und den Neoliberalismus Chiles der letzten 30 Jahre endgültig zu beenden.

Bei der Wahl der Mitglieder zum verfassungsgebenden Konvent erreichte die Parteiliste der PTR in Antofagasta, angeführt von Daniel Vargas, etwa 7 Prozent der Stimmen, ein paar Punkte hinter der Liste der ehemals regierenden Concertación „Lista del Apruebo“, die etwas mehr als 9 Prozent erreichte. Damit übertraf sie sogar mehrere Parteien, wie die Sozialistischen Partei und die Kommunistische Partei. In den proletarischen und kämpferischen Arbeiter:innenvierteln im Norden Antofagastas bekam die PTR Tausende von Stimmen. In der gleichen Stadt wurde die Ärztin Natalia Sánchez, Organisatorin der Gesundheitsbrigaden während der Okotoberrebellion 2019 und des Not- und Schutzkomitees, zur Gemeinderätin gewählt und eroberte damit einen kommunalen Sitz, den sie in den kommenden vier Jahren in den Dienst des Kampfes der Arbeiter:innenklasse und des verarmten Volkes stellen wird.

Trotz ihrer Niederlage sind die traditionellen Kräfte noch da

Die Wahlen endeten mit einer herben Niederlage der Parteien der 30 Jahre. Ihre Auftraggeber sind jedoch noch da. Piñera und seine Kumpanen machen nach wie vor lukrative Geschäfte auf Kosten der großen Mehrheiten, die ein Leben in Armut und Unsicherheit führen und mit Folter und Tod bezahlen müssen, wenn sie für ihre Rechte auf die Straße gehen.

Der Kampf um elementare Rechte und um ein erstrebenswertes würdiges Leben muss also weiter gehen. Es stellt sich nun die Frage, ob dieser Kampf den Weg durch die Institutionen gehen soll, wie die Kommunistische Partei und die Frente Amplio vorschlagen. Oder – wie die PTR vorschlägt – ob der Kampf in den Betrieben, Bildungseinrichtungen und Straßen laufen soll, um mit dem kapitalistischem Elend endgültig zu brechen. Ein Elend, das die Arbeiter:innen zu Hungerlöhnen und ewigen Arbeitszeiten zwingt, den Schüler:innen und Student:innen miserablen Bildung anbietet, das Kranke zum Sterben entweder zu Hause oder in den Fluren von heruntergekommenen Krankenhäusern verurteilt. Es braucht einen Kampf, um mit dem Erbe Pinochets aufzuräumen. Es geht darum, den Geist der Rebellion von Oktober 2019 aufrechtzuerhalten, um das Chile der letzten 30 Jahre zu begraben, in dem es Demokratie und Wohlstand nur für die wirtschaftlichen und politischen Eliten gibt.

Die sich verschärfenden Klassengegensätze in Chile können nicht im institutionellen Rahmen gelöst werden. Die Geschichte Chiles mit dem Scheitern der Volksfront-Regierung von Salvador Allende 1970-73 und dem Aufstieg der Militärs im Dienste des Kapitals sind ein mahnendes Beispiel. Sowohl die Frente Amplio wie die Kommunistische Partei Chiles hegen jedoch immer noch Illusionen in die Möglichkeit von tiefgreifenden Veränderungen auf institutionellem Wege. Nun wird diese ohnmächtige Politik erneut auf die harte Probe der Realität gestellt. Die Vertreter:innen der großen Wirtschaftsgruppen, die am Konvent teilnehmen werden, die Rechten und Kapitalist:innen, die Institutionen des Staates und das Regime, das in der aktuellen Verfassung verankert ist, werden alle Hebel in Bewegung setzen, um ihre Interessen zu bewahren, notfalls mittels zivilen bis militärischen Putsches, wie wir es heute in Kolumbien erleben, wo die Bevölkerung von den uniformierten Schergen des Kapitals terrorisiert, vergewaltigt und ermordet wird.

Wir freuen uns, eine Alternative zur ohnmächtigen Politik der klassenübergreifenden Allianzen aufzustellen. Die von der PTR eroberten Stellungen werden im diesem Sinne nun im Diente eines Bruches mit der Herrschaft der Bourgeoisie gestellt.

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