Fordern die Berliner Lehrer:innen die Regierung heraus?

12.12.2022, Lesezeit 7 Min.
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Bild: Klasse Gegen Klasse (Mai 2022)

Am Donnerstag ist der siebte Streiktag für kleinere Klassen. Für den Senat könnte der Wahlkampf für die Wahlwiederholung dadurch noch ungemütlicher werden.

Rot-Rot-Grün regiert Berlin seit sechs Jahren, die SPD sogar seit 1989. In den letzten 21 Jahren hat sie alle Koalitionen im Abgeordnetenhaus angeführt. Nichtsdestotrotz stehen wir Hauptstädter:innen nun, kurz vor den Neuwahlen, vor dem größten Lehrkräftemangel aller Zeiten. Vor diesem Hintergrund, hat der Senat Mitte November einen Nachtragshaushalt verabschiedet, in dem Bildung zumindest eine Rolle spielt. Dieser ist als Produkt des Druckes zu verstehen, welchen unter anderem die Kampagne „Schule muss anders“ seit Vereidigung der „neuen“ Regierung stetig auf diese ausübt.

Die anberaumte Wahlwiederholung fungierte jedoch sicherlich auch als Anreiz, unter anderem 300 Millionen Euro in den Schulbau und die Sanierung zu stecken. Denn nun kann Rot-Rot-Grün vorgeben, Bildung sei ihre Priorität. In Wirklichkeit liegt die genannte Summe aber sogar unter dem, was nach den Haushaltsverhandlungen im Mai dieses Jahres angekündigt wurde. Ende August war an die Öffentlichkeit gelangt, dass die Fraktionen von SPD, Grünen und Linken planten, eine Milliarde Euro in der im Haushalt eigentlich von ihnen selbst verankerten Schulbauoffensive zu kürzen. Seitens der Senatsfinanzverwaltung hieß es, für die 177 Schulsanierung und Neubaumaßnahmen sei kein Geld da, weshalb 133 von ihnen nicht stattfinden könnten. Protest von Eltern blieb trotz akut maroder Schulen außer in Einzelfällen vorerst erfolglos.

Einen Sandsack gegen den Dammbruch

Im Klartext: Insbesondere die Partei von Bundeskanzler Olaf Scholz und Bürgermeisterin Franziska Giffey hat durch systematische Definanzierung über Jahre einen Damm beschädigt. Dieser ist spätestens mit dem Eklat um die Anna-Lindh-Schule gebrochen. Berlins größte Grundschule wurde wegen massivem Schimmelbefall diesen Sommer vom zuständigen Gesundheitsamt geschlossen.

Doch nun versucht der Senat, Berliner:innen allen Ernstes zu verklickern, eine Kürzung in Höhe von 700 Millionen Euro in der Sanierung von Schulen sei Ausdruck einer Priorisierung von Bildung. Es ist, als gäben sie uns einen Sandsack gegen den Dammbruch. Zudem weigert sich der Finanzsenator Daniel Wesener (Grüne) seit einem Jahr, sich mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die die streikenden Lehrer:innen vertritt, an einen Tisch zu setzen. Diese würde gern mit ihm über Entlastung verhandeln. Denn in der Hauptstadt fehlen momentan etwa 1.000 Lehrkräfte. In der Konsequenz sind die Klassen proppenvoll, die Lehrer:innen überarbeitet und die Schüler:innen ihres Rechts auf gute Bildung beraubt.

Nicht vergessen dürfen wir auch, dass SPD und LINKE im Senat schon in den 2000er-Jahren das Problem sehenden Auges hingenommen haben. Damals haben viele junge Lehramtstudierende Berlin nach ihrem Studium verlassen müssen, weil es nicht genug Referendariatsplätze gab. Und selbst wer das Referendariat beendet hatte, musste die Hauptstadt eventuell verlassen, weil nicht ausreichend Lehrer:innen eingestellt wurden. Die GEW hat schon 2004 auf diesen enormen Mangel hingewiesen. Die Quittung kriegen heute Lehrer:innen, Schüler:innen und Eltern. Viel gelernt haben Giffey und Co. daraus nicht.

Denn Ende November wurden wieder einmal 2.700 Menschen, die sich auf ein Lehramtsstudium beworben hatten, abgelehnt. Die Studienplätze reichen seit Jahren nicht aus, erhöht wurden sie bisher aber nicht. Es wurden sogar mindestens 6,55 Millionen Euro in der Lehrkräftebildung gekürzt, wenn nicht sogar mehr. Diese Summe war jährlich für die Fortführung des Sonderprogramms „Beste Lehrkräftebildung“ anberaumt, auch für 2022. Plötzlich hieß es jedoch, die Universitäten sollen die anfallenden Kosten für das laufende Jahr aus dem normalen „Aufwuchs“ des Budgets in Höhe von 3,5 Prozent jährlich bezahlen und dies bei einer Inflationsrate von über 10 Prozent.

Alle guten Dinge sind drei

Das Geld ist aber da. 3,75 Millionen Euro soll allein die Polizeiwache am Kottbusser Tor kosten, für 5.000 Euro pro Stück werden 300 Taser für die Polizei angeschaftt und 190 Millionen Euro werden für Start-ups ausgegeben. Von diesem Geld könnte man zweieinhalb Jahre lang über 900 Lehrer:innen an integrierten Sekundarschulen beschäftigen. In Wirklichkeit handelt es sich also um eine aktive Depriorisierung von Bildung. Diese Augenwischerei der Regierung muss entlarvt werden. Und Lehrer:innen sind dafür in einer dreifach guten Position.

Erstens, weil sie tagtäglich die Folgen des Fachkräftemangels am eigenen Leib spüren. Sie sind es, die vor überfüllten Klassen stehen. Sie können Kindern und/oder Jugendlichen nicht die Aufmerksamkeit schenken, die sie verdienen: Entsprechend der eigenen Bedürfnisse gefördert zu werden. Sie sehen, wie Kolleg:innen aufgrund der Dauerbelastung chronisch krank werden, kündigen und in den Vorruhestand gehen.

Zweitens, da sie einen besonderen Einfluss auf Schüler:innen und Eltern haben. Als Lehrkraft zu sprechen, verschafft einem Gehör, das einem höchstwahrscheinlich so nicht entgegenkommen würde, wenn man sich nicht stundenlang um die Kinder anderer kümmern würde.

Und last but not least, weil Lehrer:innen mit ihrem Streik für kleinere Klassen den Rot-Rot-Grünen Senat in Bedrängnis bringen. Damit handelt es sich, mindestens bis zur Wahlwiederholung, bei dem Lehrkräftestreik um den wichtigsten Streikprozess in der Hauptstadt. Wenn also Lehrende, die zweifelsohne einen Teil der Wähler:innenbasis des Senats ausmachen, monatlich zu Tausenden aktiv gegen die Regierungspolitik Druck machen, gefährdet das potentiell ihre Wiederwahl.

Ein feministischer Kampf

Der Streik der Lehrer:innen ist zudem vor allem ein feministischer Kampf. Knapp drei Viertel aller Lehrkräfte in Deutschland sind Frauen. Unter Grundschullehrer:innen liegt der Anteil sogar bei fast 90 Prozent.

Bei den aktuellen Streiks geht es nicht um mehr Lohn, obwohl das angesichts der Inflation vollkommen angemessen wäre. Schließlich lag der letzte Tarifabschluss auch schon vor der Preisexplosion unter der Inflationsrate. Ende 2021 haben sich Gewerkschaftsbürokrat:innen und die Bosse, also in diesem Fall die Bundesländer, auf eine läppische Einmalzahlung und keine Lohnerhöhung geeinigt. Erst seit Anfang dieses Monats bekommen Lehrer:innen 2,8 Prozent mehr Gehalt. Noch einmal: Bei einer Inflationsrate von über 10 Prozent ist das ein Reallohnverlust.

Die Forderung nach kleineren Klassen ist vor allem eine Forderung nach Entlastung. Für Lehrer:innen, aber letztlich auch für Eltern. Denn ständiger Unterrichtsausfall durch den Personalmangel trifft auch sie. Besonders alleinerziehende Mütter können ihre Kleinkinder nicht ohne weiteres zu Hause lassen, sondern müssen selbst zu Hause bleiben und können nicht arbeiten gehen. Aber auch in Beziehungen sind es immer noch überwiegend die Mütter, die in solchen Situationen die Kinderbetreuung übernehmen.

Doch kleinere Klassen ermöglichen auch eine viel tiefere Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsstoff und geben auch viel mehr Raum für kritische Diskussionen. Alle, die mal das Glück hatten, in kleinen Kursen an Schulen oder Unis zu sitzen, werden das sicher bestätigen. Natürlich müssen Lehrer:innen die Lehrpläne durchboxen, indem sie Schüler:innen den Stoff reinprügeln. Unter anderem auf diese Art und Weise disziplinieren sie die Kinder, als Vorbereitung auf das spätere Arbeitsleben im Kapitalismus. Vermittelt wird: Still zu sein und zu sitzen, sowie sich gehorsam unterzuordnen und andernfalls wird sanktioniert. Doch Lehrer:innen erfüllen nicht nur Aufgaben für den Kapitalismus. Denn ohne die Aufklärung von Kindern, die überwiegend später selbst arbeiten werden, sind gesellschaftliche Veränderungsprozesse undenkbar. Wir kämpfen deshalb nicht nur für kleinere Klassen, sondern auch für eine Bildung, die selbstorganisiert ist von Lehrer:innen und Schüler:innen. Eine Bildung, die auch den Schüler:innen einen Raum gibt für eine kritische Auseinandersetzung mit herrschenden Ideologien.

Komm mit uns zum Streik!

Donnerstag, 15. Dezember, 10 Uhr
Wir treffen uns direkt am Räuberrad auf dem Rosa-Luxemburg-Platz.

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