Ein neuer „Völkerfrühling“

15.10.2011, Lesezeit 20 Min.
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Das Jahr 2011 begann mit einer Welle von Aufständen und Massenmobilisierungen der ArbeiterInnen und Unterdrückten. Das Epizentrum dieser Massenbewegung liegt in der arabischen und muslimischen Welt, wo verschiedene revolutionäre Prozesse ablaufen. Dennoch haben auch Auswirkungen in anderen Gegenden der Welt begonnen, auch wenn diese Aktionen nicht so tiefgehend und radikal ausfallen.

Die Welle der Kämpfe von den Generalstreiks in Guadeloupe 2009, den Mobilisierungen und Streiks in Griechenland 2010 bis hin zu dem Widerstand der ArbeiterInnen und GymnasialschülerInnen gegen die Reform des Rentensystems von Sarkozy in Frankreich scheinen vor dem Hintergrund der schon drei Jahre andauernden Weltwirtschaftskrise den Anfang eines aufsteigenden Zyklus des Klassenkampfes anzukündigen.[1]

Der Wirbelwind der Massenaktionen in der arabischen und muslimischen Welt

Ein Rückblick auf die wichtigsten Ereignisse zeigt den atemberaubenden Weg, der durch das Auftreten der Massen in der arabischen Welt eingeschlagen wurde.

Tunesien, 17. Dezember 2010: Ein junger arbeitsloser Akademiker, der sich seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Gemüse auf der Straße verdiente, entscheidet sich aus Protest gegen die Misere, zu der das diktatorische Regime Ben Alis ihn und die Mehrheit der Jugend, der ArbeiterInnen und Arbeitslosen verdammt hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Dieses tragische Ereignis war der Auslöser für einen Aufstand der ArbeiterInnen und der verarmten Massen, der am 14. Januar 2011 zum Sturz von Ben Ali führte. Dieser blieb dank der Unterstützung Frankreichs, ehemalige Kolonialmacht und wichtigster Handelspartner Tunesiens, sowie dank der Unterstützung der USA, die Ben Alis Dienste im „Krieg gegen den Terror“ Anerkennung zollte, 14 Jahre lang an der Regierung. Der Sturz Ben Alis hat die Lage jedoch nicht beruhigt: Am Sonntag, dem 20. Februar, gingen Tausende von TunesierInnen wieder auf die Straße, um für den Sturz der von Mohammed Ganouchi angeführten „Übergangsregierung“ und für eine verfassungsgebenden Versammlung zu demonstrieren. Der Prozess in Tunesien hat eine revolutionäre Welle losgetreten, die sich wie ein Lauffeuer durch Nordafrika, die arabische Halbinsel und die muslimische Welt ausgebreitet hat. Die Straßen Jemens, Jordaniens, Bahreins, Marokkos und Algeriens sind voller junger Menschen, ArbeiterInnen, Frauen, der armen Stadtbevölkerung, den Arbeitslosen, die das Ende der despotischen Regime – der Diktatoren oder der Monarchen – fordern. Diese haben durch eine jahrzehntelang mit eiserner Hand betriebene, brutale Unterdrückung die Bedingungen geschaffen, um den Massen Privatisierungen, soziale Kürzungen und Prekarisierung aufzuzwingen, und damit die lokalen Eliten und die großen imperialistischen transnationalen Unternehmen zu begünstigen.

Ägypten, 25. Januar 2011: Millionen Menschen, überwiegend Jugendliche, ohne Arbeit oder mit Hungerlöhnen, besetzen die Straßen Kairos, Alexandrias und weiterer Städte des Landes. Sie fordern den Rücktritt Husni Mubaraks, einer der wichtigsten Verbündeten der USA und Israels, an der Macht seit 1981. Der Diktator setzt sich zur Wehr. Die DemonstrantInnen bleiben auf dem Tahrir-Platz. Die Armee bewahrt sich selbst, indem sie nicht gegen die DemonstrantInnen vorgeht, und gleichzeitig mit Mubarak und der Regierung Obamas über einen Ausweg aus der Diktatur verhandelt, der den Massen keinen Sieg beschert. Die Demonstrationen schwellen an, aber trotz des Drucks der Massen versucht Mubarak an der Macht zu bleiben, und die Armee geht nicht gegen die DemonstrantInnen vor. Diese Situation hält sich, bis eine großartige Streikwelle die wichtigsten Sektoren der Wirtschaft des Landes lahm legt. So wird der Sturz Mubaraks vom 11. Februar beschleunigt. Die Armee, die ein zentraler Bestandteil des Regimes gewesen war und als wichtigste Säule des Staates unversehrt bleibt, übernimmt die Regierungsgeschäfte. Während sich wichtige Teile der Mittelklassen mit den angekündigten Versprechen von demokratischen Freiheiten des nun regierenden Militärrats zu begnügen scheinen, dehnen die ArbeiterInnen jedoch – ermutigt vom erreichten Sieg – ihre Streiks noch weiter aus. Somit trotzen sie der Militärregierung, die versucht Streiks und Gewerkschaftsversammlungen zu verbieten. Sie haben den Abgang des Diktators bereits erreicht und wollen nun höhere Löhne, bessere Lebensbedingungen, gewerkschaftliche Freiheit und fordern vor allem, dass alle von Mubarak ernannten korrupten Firmenchefs und -verwalterInnen verschwinden. Noch ist der Ausgang offen: es besteht die Möglichkeit, dass die Armee mit der Unterstützung des Imperialismus und der einheimischen Bourgeoisie in ihren politischen Varianten, erfolgreich den „Übergang“ meistert und somit eine „reaktionäre demokratische“ Stabilität erreicht. Auf der anderen Seite besteht aber auch die Möglichkeit, dass durch die Konfrontation mit der ArbeiterInnenklasse breite Teile der Massen für den Kampf bereit werden. Eine weitere Möglichkeit wäre auch, dass der Militärrat, welcher die Ausarbeitung einer Verfassung ohne jegliche Teilnahme des Volkes an sich gerissen hat, letztendlich den Massen nur so wenige Zugeständnisse macht, dass sie wieder auf die Straßen gedrängt werden.

Jemen, 28. Januar: Zehntausende Menschen fordern in Sanaa, der Hauptstadt des Landes, den Rücktritt von Ali Abdullah Saleh, an der Macht seit 33 Jahren. Dies ist die erste in einer ganzen Reihe von Mobilisierungen, die trotz der harten Repression des Regimes stattfinden, da die treibenden Kräfte gegen die jemenitische Diktatur sehr stark sind. Saleh war ab 1978 Präsident Nordjemens und ist seit der kapitalistischen Wiedervereinigung des Landes im Jahre 1990 Präsident der Republik Jemen. Dieser Verbündete der USA und der saudischen Monarchie führt seit vielen Jahren einen schmutzigen Krieg gegen die schiitische Bevölkerung des Nordens und gegen eine separatistische Bewegung im Süden des Landes. Er führt das ärmste Land der arabischen Welt an, in dem fast die Hälfte der Bevölkerung in Elend lebt und die Arbeitslosigkeit bei 35 Prozent liegt. Dennoch ist dieses kleine Land von strategischer Bedeutung für die USA, die dort verdeckte militärische Operationen gegen angebliche Al-Qaida-KämpferInnen durchführt. Gleichzeitig versuchen die USA einen Regierungswechsel mit oppositionellen AnführerInnen zu organisieren, deren Interessen sich mit denen der USA decken.

Libyen, 15. Februar: In Bengasi, einer Stadt im Osten des Landes, führt die Repression gegen die Antiregierungs-Proteste zu einem lokalen Aufstand gegen das Gaddafi-Regime. Die Sicherheitskräfte haben sich auf die Seite der Protestierenden geschlagen, die sich nicht nur der Waffen bemächtigen, sondern auch der Kontrolle über die Stadt. Doch als die Massenmobilisierungen die Hauptstadt Tripolis, den Machtsitz Gaddafis erreichen, wartet eine brutale Antwort auf sie. Ganze Stadtviertel wurden aus der Luft bombardiert und DemonstrantInnen beschossen. In nur wenigen Tagen hat die Repression mehrere Hunderte, wenn nicht Tausende, von Toten gefordert. Der Oberst Gaddafi zeigt sich zwar als Verteidiger der „Dritten Welt“, ist jedoch zum Neoliberalismus konvertiert und Freund von Bush, Blair und Berlusconi geworden. Er klammert sich nun seit 1969 an der Macht fest und sorgt mit den großen Erdölerträgen für sich selbst und seinen Familienclan. Nun hat er sich entschieden mittels Repression und Kugelhagel an der Macht zu bleiben. Der hohe Grad an repressiver Gewalt des Regimes und die Radikalität des Aufstandes machen den libyschen Prozess sicherlich zu einem der extremsten in der Region, der schon ein hohes Niveau von staatlicher Zersetzung und Perspektiven eines Bürgerkrieges aufzeigt. Der Ausgang bleibt völlig offen, da sich auch chaotische Situationen mit direkten Auseinandersetzungen zwischen den verschieden Stämmen des Landes, das der 12. größte Erdölexporteur der Welt ist, ergeben können. Die imperialistischen Mächte, die in der Vergangenheit gute Geschäfte mit Gaddafi gemacht haben, sind nun gegen den Diktator – mit der Ausnahme Italiens, wegen ihrer starken gemeinsamen Interessen mit ihrer ehemaligen Kolonie. Die ImperialistInnen erwarten nun nach dem Sturz Gaddafis neue Perspektiven, die ihre Interessen wahren, immer vorausgesetzt, dass sich ein völliges Chaos oder gar die Spaltung des Landes vermeiden lässt. Sollte es doch dazu kommen, wird dies als Vorwand genutzt werden, um NATO-Kräfte einzusetzen. Die ägyptischen Militärs, die ihren eigenen „Übergang“ bewerkstelligen müssen, sorgen sich jetzt, dass der Bruch innerhalb der libyschen Armee zu einer unkontrollierbaren Situation in ganz Nordafrika führen könnte. Deshalb würden sie Gaddafi weiterhin unterstützen. Durch den Aufstand in Libyen wurden jene Regierungen entblößt, die den Diktator Gaddafi verteidigten (wie Ortega in Nicaragua) oder angesichts der ausgeübten Massaker beharrlich schwiegen (wie Chávez in Venezuela). Selbst Fidel Castro hat das Vorgehen Gaddafis gerechtfertigt, da er eine angebliche „Opposition zum Imperialismus“ darstelle.

Bahrain, 16. Februar: Die Sicherheitskräfte eröffnen das Feuer gegen DemonstrantInnen, die – inspiriert von den Ereignissen in Tunesien und Ägypten – bessere Lebensbedingungen fordern. Zwei von ihnen werden getötet. Dieses kleine Land, mit einem schiitischen Bevölkerungsanteil von 70 Prozent und einem sunnitischen von 30 Prozent, wird seit dem 18. Jahrhundert von einer sunnitischen monarchischen Dynastie regiert, die gute Verbindungen zu Saudi-Arabien pflegt. Die Rebellion wird von der politischen Ausgrenzung der schiitischen Mehrheit angetrieben. Sie stellt den größten Teil der ArbeiterInnenklasse des Landes. Obwohl das demographische und politische Gewicht Bahrains gering ist, kann diese Krise unvorhersehbare Folgen für den Imperialismus und die saudische Monarchie haben. Bahrain ist das Hauptquartier der 5. US-Flotte und deshalb für die militärischen Operationen der Besatzungskräfte im Irak unersetzlich. Außerdem können die Ereignisse in Bahrain zu einem Vorbild für die schiitische Bevölkerung Saudi-Arabiens werden, die sich in den Erdölregionen im Osten des Landes konzentriert.

In nur wenigen Wochen scheinen diese explosionsartigen Massenbewegungen Nordafrikas und der arabischen Halbinsel auch den Widerstand der Massen jenseits der Grenzen dieser Region beflügelt zu haben. Sie werden durch die Auswirkungen der Wirtschaftskrise, wie vor allem den Anstieg der Lebensmittelpreise, und den Hass gegen die diktatorischen und proimperialistischen Regime angetrieben.

Die Mobilisierungen beginnen sich auf andere Regionen der Welt auszudehnen

Im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca ging wieder einmal das Gespenst der Oaxaca-Kommune von 2006 um. Die LehrerInnen haben wieder die Straßen besetzt, um gegen eine Maßnahme des Präsidenten Calderón zugunsten der privaten Bildung zu protestieren. Am 15. Februar lieferten sie sich gemeinsam mit anderen Sektoren der armen Bevölkerung eine siebenstündige Schlacht mit den Polizei- und Sicherheitskräften. Am Tag darauf führten sie einen Streik und eine Massendemonstration an, um gegen die Repression zu protestieren und den Rücktritt von StaatsfunktionärInnen zu fordern.

In Bolivien fand am 18. Februar ein Massenprotest für höhere Löhne statt. Hierzu hatte der bolivianische Gewerkschaftsbund COB aufgerufen. Außerdem richtete sich der Protest gegen die inflationären Auswirkungen der nun gescheiterten Verordnung „Gasolinazo“ [drastische Erhöhung der Treibstoffpreise], welche unter Evo Morales ausgerufen wurde. Obwohl es für gewöhnlich die Rolle der COB ist, die Proteste umzulenken und den Kampf abzuwürgen, zeigt sich in in der Tatsache, dass sie zu einer Demonstration aufgerufen haben, die weitverbreitete Unzufriedenheit gegenüber den unpopulären Maßnahmen der Regierung von Evo Morales.

Selbst in den USA, wo das politische Geschehen durch das Emporkommen der extremen Rechten um die Tea Party gekennzeichnet war, gab es wichtige Proteste seitens der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und der LehrerInnen. Sie reagierten auf eine Offensive des republikanischen Gouverneurs von Wisconsin, Scott Walker, die darauf abzielt, die Gewerkschaften der Angestellten des öffentlichen Dienstes von den Tarifverhandlungen auszuschließen. Diese sind am 23. Februar zu Zehntausenden zusammen mit Studierenden auf die Straße gegangen und organisierten Solidaritätsaktionen in mehreren US-Bundesstaaten. Obwohl die Gewerkschaftsführungen und die Demokratische Partei noch die Kontrolle über diese Bewegung haben, kündigt sie doch einen möglichen Beginn des Auflebens der amerikanischen ArbeiterInnenklasse an, die stark von der Wirtschaftskrise angeschlagen ist und sich seit den 80er Jahren eher auf dem Rückzug befindet.

Während wir diese Zeilen schreiben, liefern sich auch die Lohnabhängigen und die Jugend Griechenlands auf den Straßen Athens schwere Auseinandersetzungen mit der griechischen Polizei, da sie den Kampf gegen die von der EU und dem IWF auferlegten Sparpakete aufgenommen haben.

Solche fast gleichzeitig ablaufenden Aktionen des Klassenkampfes haben wir seit langem nicht mehr beobachten können. Diese Ereignisse wirken sich bereits auf die Wirtschaft aus. So haben die Prozesse in der arabischen Welt allmählich zu einem Anstieg des Erdölpreises und weiterer Rohstoffe wie beispielsweise Weizen geführt. Das Schicksal Libyens, ein wichtiger Erdöllieferant mehrerer europäischer Großmächte, vertieft die Sorge an den internationalen Märkten über neue Folgen der Weltwirtschaftskrise bei unkontrollierten Preissteigerungen des Rohöls. Außerdem kann der Verlust von wichtigen Verbündeten wie Mubarak aufgrund der geostrategischen Interessen der USA die Hegemoniekrise des Imperialismus vertiefen.

Die Anfänge einer neuen Periode

Nach 30 Jahren bürgerlicher Restauration sind wir ZeugInnen der ersten Etappe einer neuen historischen Periode, in der die Massen wieder auftreten – wobei Form und Reichweite noch undefiniert bleiben. Historische Analogien, wenn auch per Definition immer mangelhaft, sind doch von großem Nutzen, um neue Prozesse analysieren zu können. In diesem Sinne haben wir die Analogie mit der bourbonischen Restauration genutzt, um die tiefgehende Bedeutung der neoliberalen Konterrevolution zu verstehen. Auch wenn sich kein historischer Moment wiederholt, kann doch die derzeitige Welle von Kämpfen mit dem „Völkerfrühling“ verglichen werden. Historisch gesehen bezeichnet man als „Völkerfrühling“ die revolutionäre Welle im Rahmen der 1846 ausgebrochenen Wirtschaftskrise, die in Frankreich begann, sich auf das österreichisch-ungarische Imperium und auf das unter seiner Kontrolle stehende Ungarn, dann auf Polen, Italien und weitere Länder Zentraleuropas ausbreitete. Diese ungleiche Welle konnte erst gegen Mitte 1850 mit dem Auslaufen der Krise gebremst werden, und endete mit dem Ende des revolutionären Prozesses in Deutschland im selben Jahr und dem Putsch von Louis Bonaparte in Frankreich am 2. Dezember 1851.

Die Grenzen dieser historischen Analogie liegen darin, dass dieser neue „Völkerfrühling“ im Unterschied zum 19. Jahrhundert in der imperialistischen Epoche stattfindet, der Epoche von Krisen, Kriegen und Revolutionen. Wir befinden uns auch nicht in der gleichen Situation des modernen Proletariats, das (wie im Juniaufstand 1848 in Frankreich) sein erstes großes revolutionäres Auftreten erlebt. Vielmehr blickt die ArbeiterInnenklasse heute auf die mit den Revolutionen und Konterrevolutionen des 20. Jahrhunderts gemachten Erfahrungen zurück.

Trotzdem bevorzugen wir eher eine Analogie zu dieser Periode, die mit dem Sturz von Napoleon 1815 das Ende der europäischen Restauration einleitete, als eine Analogie mit der Periode des Anstiegs von Kämpfen ab 1968. Denn seit ihrem Beginn wies die letztere Periode eine stärkere Bedeutung des Proletariats auf und die Massen hatten keine lange Periode von Rückschlägen durchmachen müssen. Der aktuelle Prozess trägt die Last der Auswirkungen dreier Jahrzehnte bürgerlicher Restauration auf seinen Schultern. Dies dürfen wir nicht unberücksichtigt lassen, denn der sich gerade entfaltende Zyklus des Klassenkampfes wird zweifellos beschwerlich und gleichzeitig schwer beherrschbar sein, da er inmitten der weltweiten Krise des Kapitalismus entsteht. In den 68ern spielte auch die Jugend eine wichtige Rolle, vor allem jedoch eine bedeutende radikalisierte Avantgarde, die sich im Kampf gegen den Vietnamkrieg in zahlreichen Ländern stärkte. Damals hielt der Wirtschaftsboom noch an (die Krise entfesselte sich erst 1973), während die laufende Krise – auch wenn die KapitalistInnen auf Kosten einer horrenden Staatsverschuldung bisher in der Lage waren, die Depression abzuwenden – weitreichender ist als die der 70er Jahre.

Der Kampf für den Aufbau einer revolutionären Führung

Die imperialistischen Mächte wurden zunächst von den Ereignissen überrascht, die ihren Verbündeten und bedeutendsten Agenten wie Ben Ali für Frankreich oder Mubarak für die USA Schläge versetzten. Die imperialistische Heuchelei wurde offensichtlich, was ihren Diskurs über die Achtung der „Menschenrechte“ noch weiter diskreditierte. Mehr als dreißig Jahre lang haben die USA, Frankreich, Italien, Großbritannien und andere, brutale diktatorische Regime von Mubarak bis zur saudischen Monarchie unterstützt.

Nach der anfänglichen Desorientierung besteht die Politik Obamas und der imperialistischen Länder der Europäischen Union nun darin, soviel wie möglich von den Regimen, die von den Massen in Frage gestellt werden, zu bewahren. Währenddessen stellen sie sich auf diskursiver Ebene auf die Seite der DemonstrantInnen, um ihnen ersatzweise einen „paktierten Übergang“ aufzuzwingen. Damit versuchen sie, wesentliche Veränderungen ihrer geopolitischen Stellung und ihrer Geschäfte in der Region zu vermeiden. Dies bedeutet bezüglich Ägyptens vor allem, dass die Abkommen mit dem israelischen Staat und die politische Unterordnung unter die US-amerikanischen Interessen fortbestehen. Deshalb wird sich in den nächsten Wochen und Monaten in der arabisch-muslimischen Welt entscheiden, ob die Prozesse eine Richtung annehmen, mit der die ArbeiterInnen und ausgebeuteten Massen ihre Forderungen durchsetzten und sich von der imperialistischen Herrschaft und ihren StatthalterInnen befreien, oder ob sie die Unzufriedenheit der Massen eindämmen werden und der Sturz der diktatorischen Regime zu neuen Regimen mit einer mehr oder weniger demokratisch-bürgerlichem Form führt, welche die Grundlagen der imperialistischen Ordnung in der Region unangetastet lässt. Dies geschah in den 80er Jahren auch in Lateinamerika, wobei die arabische Region nicht die Last von historischen Niederlagen zu tragen hat, wie sie Lateinamerika durch die konterrevolutionären Putsche, die dort den revolutionären Aufschwung der 70er Jahre beendeten, ertragen musste.

Gegen diese Perspektive spricht, dass wir uns in einer weltweiten kapitalistischen Krise befinden, in der weitreichende Zugeständnisse an die Forderungen der ArbeiterInnenklasse und der unterdrückten Massen, die die revolutionären Prozesse entschärfen könnten, kaum machbar sind. Außerdem existieren bisher durch den autokratischen Charakter der meisten Regime nur recht schwache politische Vermittlungsinstanzen, die dem Imperialismus dienlich sein könnten.

Wie bereits erwähnt, liegt die hauptsächliche Schwäche der ArbeiterInnenbewegung nach drei Jahrzehnten bürgerlicher Restauration in der niedrigen revolutionären Subjektivität, mit der die ArbeiterInnenklasse in die aktuellen Prozesse eintritt. Die Massen, vor allem ihre progressivsten Sektoren, nehmen zwar den Kampf auf. Jedoch kämpfen sie noch ohne eine klare Strategie, um die bürgerliche Herrschaft zu zerstören und ihren eigenen Staat durchzusetzen. Dadurch wird verhindert, den Kampf bis zu seinem Ende zu führen. Bis jetzt scheint sich auch noch kein klar anti-imperialistisches Bewusstsein entwickelt zu haben, auch wenn die Regierungen und Regime, gegen die sich die Aufstände entfacht haben, offen pro-imperialistisch sind. Die Massen hatten in der Vergangenheit schon ihre Wut gegen diese Regime aufgrund der Unterstützung des Irak-Krieges oder ihrer Komplizenrolle bei den zionistischen Angriffen auf Palästina zum Ausdruck gebracht.

Auf der Grundlage dieser Schwäche der Subjektivität versuchen die imperialistischen Mächte und die lokal herrschenden Klassen, die revolutionären Prozesse schon in ihren Anfängen einzudämmen und umzulenken. Nun wird alles davon abhängen, ob die neue Avantgarde der ArbeiterInnenklasse und Jugend es schafft, wirklich revolutionäre Organisationen aufzubauen, die es den ArbeiterInnen, den armen Kleinbauern/-bäuerinnen und der Gesamtheit aller Unterdrückten erlauben wird, an die Macht zu kommen.

In dieser Region, die heute das Epizentrum der Aufstände darstellt und auf eine wichtige Geschichte des antiimperialistischen Kampfes zurückblickt, waren die marxistisch-revolutionären Kräfte historisch schwach (mit der teilweisen Ausnahme Algeriens[2]). Trotzdem werden die laufenden Ereignisse der Region ohne Frage Auswirkungen auf die ArbeiterInnen, die Jugend und die unterdrückten Massen der ganzen Welt haben. Das erneute Erscheinen von unabhängigen Massenaktionen beflügelt den Aufbau von revolutionären ArbeiterInnenparteien – dies vor allem in Ländern, wo der Klassenkampf nicht nur über eine lange Tradition verfügt, sondern auch über all diese Jahre eine gewisse Intensität beibehalten hat und trotzkistische Organisationen und Traditionen stark vertreten sind. In Frankreich ist dies der Fall. Hier bauen unsere GenossInnen innerhalb der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) das Kollektiv für eine Revolutionäre Tendenz (Plattform 4) auf oder auch in Argentinien, wo unsere Partei der Sozialistischen ArbeiterInnen (PTS) wichtige Schritte in der Organisierung der ArbeiterInnen- und Jugendavantgarde macht. Die Ereignisse, die wir gerade miterleben, stärken unseren Einsatz für den Kampf um den Aufbau revolutionärer Parteien, die in der ArbeiterInnenklasse verankert sind und für den Wiederaufbau der Vierten Internationale, der Weltpartei der Sozialen Revolution.

23. Februar 2011 – zuerst erschienen in „Estrategia Internacional“ Nr. 27

Fußnoten

[1]. Dies ist eine Übersetzung eines Artikels vom Februar 2011, weshalb die neueren Entwicklungen hier nicht erwähnt werden. Dennoch denken wir, dass dieser Artikel im Sinne eines Verständnisses der neuen Etappe, die gerade beginnt, sehr wichtig ist, weshalb wir ihn hier abdrucken. Für aktuelle Analysen zu den Aufständen in der arabischen Welt, in Europa etc. schaut auf klassegegenklasse.org

[2]. In Algerien gab und gibt es durch die Verbindungen mit dem französischen Trotzkismus eine einigermaßen ausgebildete trotzkistische Tradition, AdÜ.

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