Antikoloniale Befreiung durch linken Bonapartismus?

17.08.2020, Lesezeit 15 Min.
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Thomas Sankara wird oft als revolutionäres Vorbild auf dem afrikanischen Kontinent präsentiert. Doch sein Weg musste in die Niederlage führen. Ein Debattenbeitrag von Baran Serhad über die Permanente Revolution als Antwort auf Kolonialismus und Imperialismus.

Der Prozess der Befreiung vom europäischen Kolonialismus ist ein wichtiger Moment in der Geschichte der Revolutionen, weil die unterdrückten Völker einen ernsthaften Versuch unternommen haben, über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden und dem Kolonialismus, einem der größten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte, ein Ende zu setzen. Aber was ist genau der Charakter dieser Erhebungen?

Wir nehmen die Geschichte von Thomas Sankara als Beispiel, der 1983 bis zu seiner Ermordung 1987 Präsident von Burkina Faso (bis 1984 „Obervolta“) war. Sankara war selbst Militär und stützte sich auf die militärische Kraft, um Reformen in Bildung, Sozialem, Gesundheit oder Infrastruktur gegen die koloniale, imperialistische Ordnung durchzusetzen. In meiner Polemik gegenüber Kofi Shakur nahm ich eine kurze Charakterisierung von Thomas Sankara vor, die ich nun weiter ausführen werde:

„Revolutionär“ wird so eine rein subjektivistische, eine persönliche Eigenschaft. Thomas Sankara war ein antikolonialer Kämpfer ohne proletarisches Programm. Ein Militär mit linken Ideen, der mit Mitteln des Putschs die Macht eroberte, die Gewerkschaften verbot und einen kleinbürgerlichen Nationalismus predigte. Die Enteignung des Privateigentums in den Händen des Proletariats kommt bei ihm nicht vor.

Wir haben es bei der Verklärung Sankaras zum sozialistischen Revolutionär mit einem Trend zu tun, der unter dem Deckmantel des „Anti-Imperialismus“ eine verzerrte Bilanz der antikolonialen Erfahrungen liefert. Denn wenn wir uns näher mit dem Programm, der sozialen Basis und dem sozialen Inhalt von Sankaras Antikolonialismus beschäftigen, erkennen wir in ihm keinen sozialistischen Revolutionär, sondern einen linken Bonaparte. Was bedeutet das?

Thomas Sankara – ein linker Bonaparte

Der koloniale Hintergrund von Burkina Faso war Grundlage der gesamten politischen Entwicklung. Das westafrikanische Land hieß Obervolta, da es eine französische Kolonie war und erst 1960 die Unabhängigkeit erklärte. Doch die Unabhängigkeit war rein formal, da das Land wirtschaftlich immer noch abhängig und politisch fragil war. Das heißt, es blieb eine Halbkolonie. Nach über 20 Jahren Unabhängigkeit war Obervolta immer noch eine unterentwickelte landwirtschaftliche Nation. Die Bäuer*innen bildeten im überwiegend landwirtschaftlich geprägten Obervolta die überwiegende Mehrheit, nämlich 90 Prozent der Bevölkerung. Die Gewerkschaften rekrutierten ihre Mitglieder dagegen aus der Stadtbevölkerung, die im öffentlichem Dienst oder in den halbstaatlichen Unternehmen angestellt war. Dadurch bekamen sie einen ernsthaften politischen Einfluss und bildeten vor allem in den 70ern die wichtigste politische Opposition des Landes.

Von 1980 bis zum 4. August 1983 gab es drei Putsche, die exemplarisch für die politische Instabilität des Landes standen: Die wirtschaftliche Rückständigkeit, die politische Destabilisierung und die Schwäche des Proletariats gaben dem Militär einen hohen Grad an Selbstständigkeit. Sankara selbst war an drei unterschiedlichen Phasen der Regierungsbildung der Militärjunta  beteiligt – mit stufenweiser Verstärkung seiner politischen Rolle: Zunächst als Informationsminister 1981 unter Saye Zerbo, im Jahr 1983 als Premierminister unter Jean-Baptiste Ouédraogo und letztlich am 4. August 1983 als Präsident von Obervolta. Die Angriffe Sankaras auf die Korruption hatten ihn zuvor unter den Massen außerordentlich populär. Deshalb stieß seine Verhaftung im Mai 1983 auf große Proteste der Bevölkerung. Die Junta war in einen rechten und einen linken Flügel gespalten, und letztlich gelang es dem linken Flügel um Sankara nach monatelangem Machtkampf, sich durchzusetzen.

Sankara war von den Erfahrungen der Militärjunta um Jerry Rawlings in Ghana inspiriert. Rawlings hatte zunächst im Jahr 1979 gegen das alte korrupte Regime geputscht und installierte ein Parlament. Im Jahr 1981 putschte er ein zweites Mal, indem er das Parlament außer Kraft setzte, die Entscheidungsgewalt in seiner Hand bündelte und sich selbst durch extreme Verselbständigung seines Apparats über die Klassen erhob. Auf die Anordnung Rawlings hin wurden „Volks-“ und „Arbeiterverteidungskomitees“ gebildet, die allerdings nicht über eine Entscheidungsgewalt verfügten, also weder das Volk noch die Arbeiter*innen ausdrückten, sondern der Kontrolle Rawlings unterworfen waren.

Thomas Sankara übertrug dieses Modell in seine Heimat. Am Tag der Machtübernahme kündigte er die Gründung der Komitees der Verteidigung der Revolution an:

Der nationale Revolutionsrat (CNR) ruft alle Bürger von Obervolta, Männer und Frauen, junge und alte, zu erhöhter Wachsamkeit und zu aktiver Unterstützung auf. Der nationale Revolutionsrat fordert die Bürger von Obervolta dazu auf, überall Komitees zur Verteidigung der Revolution (Comités de défense de la révolution / CDR) zu bilden, um sich an dem großen vaterländischen Kampf des CNR zu beteiligen und um unsere inneren und äußeren Feinde daran zu hindern, dem Volk Schaden zuzufügen. Die politischen Parteien werden selbstverständlich aufgelöst.

Ähnlich wie in Ghana oder auf Kuba, waren diese Komitees keine sowjetische Organe (Räte), die eine Doppelherrschaft zum Staatsapparat herstellen könnten. Wie in der Rede zu erkennen ist, wurden politische Parteien und die Presse verboten. Gewerkschaften, die in der Vergangenheit eine starke oppositionelle Rolle einnahmen, wurden als gegenläufig zu den Interessen der sogenannten „Volksrevolution“ bezeichnet und ebenfalls unterdrückt. Tausende von Lehrer*innen wurden zu Beginn der Machteroberung entlassen, weil sie gegen den Putsch gestreikt hatten.

Der direkten Kontrolle des CNR unterworfen, dienten diese Komitees zur Mobilisierung der Massen im Dienste sozialer Reformen des Landes. Typisch für eine Revolution von oben sollten die Arbeiter*innen und Bäuer*innen sich nicht eigenständig in Komitees an der Basis und mit einem politischen Mandat organisieren, sondern als Manövriermasse der Militärbürokratie dienen. So wurden Arbeiter*innen aufgeteilt in „Faule“ und „Ehrgeizige“, die ersteren öffentlich angeklagt. Alle Proteste wurden ohne Unterscheidung der Klassenbasis als „konterrevolutionär“ diffamiert, weshalb von einer echten Arbeiter*innenbewegung als Basis nicht die Rede sein konnte.

Wir definieren einen solchen Prozess als Bonapartismus, eine Vermittlung zwischen den Klassen, die sich zeitweise über sie stellt: Sankara stützte sich auf Bäuer*innen und einen Teil des Militärapparats, um als Autorität über sie eine uneingeschränkte Regierungsgewalt im gesamten Lande auszuüben und Reformen von oben durchzusetzen.

Reformen von oben – der Linkspopulismus als Doktrin

Sankara Orientierung bestand zunächst darin, vor allem symbolisch die Korruption zu bekämpfen:

Die Grundidee und das Ziel des nationalen Revolutionsrats ist die Verteidigung der Interessen des Volks von Obervolta und die Verwirklichung seines tiefen Wunsches nach Freiheit, nach echter Unabhängigkeit und nach wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt.

So wurde der dekadente Lebensstil der Elite, der einen sozialen Hass in der verarmten Bevölkerung auslöste, angegriffen. „Consommez burkinabè“ wurde als Motto für einen bescheidenen und sparsamen Lebensstandard verbreitet.  Um mit den Spuren der kolonialen Vergangenheit zu brechen, wurde das Land umbenannt in Burkina Faso (Land der aufrechten Menschen), eine neue Fahne und Hymne eingeführt. Der Nationalismus des unterdrückten Volkes wurde zur Doktrin, die die Souveränität des Volkes herstellen sollte.

Die Einführung der bürgerlich-demokratischen Reformen wurde als demokratische Volksrevolution betitelt. Differenziert können wir sagen, dass in einem vom Kolonialismus und später Imperialismus zur Unterentwicklung verdammten Land solche Maßnahmen durchaus für Fortschritt sorgten. Denn die Schuld für die Rückständigkeit des Landes trug nicht das Volk, sondern die unterdrückenden Herren.

Das Programm des sozialen Aufbruchs war dementsprechend von fortschrittlichen Elementen geprägt: Abschaffung der Privilegien für Stammeshäuptlinge und die Antikorruptionskampagne, die landesweite Alphabetisierungskampagne, die ökologische Förderung der Wiederaufforstung gegen die Wüstenausbreitung, Massenimpfungen und Aufklärung zur Verhütung im Kampf gegen AIDS, der Aufbau der Infrastruktur und der Eisenbahnstrecke für kostenlose Mobilität, all dies wurde mittels der Mobilisierung der gesamten Bevölkerung eingeleitet. Die Mieten wurden deutlich gesenkt und der soziale Wohnungsbau vorangetrieben.

Besonders die Ansätze gegen patriarchale Unterdrückung der Frauen gelten bis heute als wichtige Errungenschaften auf dem afrikanischen Kontinent: Gewalt an Frauen und weibliche Genitalverstümmelung (die bis heute auf dem Kontinent praktiziert wird und ein besonderes Merkmal der Unterdrückung darstellt) wurden mit juristischen Mitteln und Aufklärungsarbeit bekämpft. Frauen wurde ermöglicht, am Produktionsprozess und am politischen Leben teilzunehmen. An der Durchführung aller sozialen Reformen waren Frauen beteiligt, was der vorherigen, erzwungenen „unterwürfigen“ Rolle gegenüberstand.

Worin Sankara sich in der politischen Linie von seinem engsten Verbündeten Ghana unter Rawlins unterschied, war seine prinzipielle Haltung gegen die Rückzahlung der Auslandsschulden, während Rawlins sich auf Empfehlung der Sowjetunion 1983 mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) verständigte. So blieb der Zusammenschluss der beiden Nationen als „Westafrikanische Union“ eine Worthülse, da es an einer einheitlichen konsequenten Orientierung für den Rausschmiss des Imperialismus aus der Region fehlte. Da Sankara sich vehement gegen die französische Vormachtstellung engagierte, positionierten sich Frankreich nahestehende Länder der Region wie die Republik Côte d’Ivoire gegen Burkina Faso. Sankaras Maßnahmen zielten darauf ab, auf lokaler Ebene gegen Hungersnöte und Einflüsse des französischen Kapitals eine souveräne Wirtschaft Burkina Fasos herzustellen. Das gelang dem Land auch eine Zeit lang, sodass Burkina Faso für eine Weile keine Lebensmittel mehr importieren musste. Gegen die Macht der Feudalherren setzte Sankara eine Landverteilung an die Bäuer*innenschaft durch.

Permanente Revolution: Der Neuaufbau des Landes unter der Führung des Proletariats

Die Erfahrungen der vier Jahre in Burkina Faso von Sankaras Machtantritt bis zu seiner Ermordung zeigen, dass die Massen gewillt waren, für den Aufbruch ihres Landes an die vorderste Front zu gehen. Doch wir können nicht von einem sozialistischen Experiment sprechen, da das bonapartistische Regime mit einem linkspopulistischen Programm, das die sozialen Reformen von oben einleitet, die Massen zum Manövrieren und zur Mobilisierung nutzte und die Nationalisierung des Privateigentums nicht in die Hände der Arbeiter*innen und ihrer bäuerlichen Verbündete übertrug. Daran scheiterte das Projekt schließlich auch. Da die Arbeiter*innen und Bäuer*innen keine selbstständige Rolle bei der Verwaltung der Produktion in den Betrieben und auf dem Land übernahmen, waren sie weitgehend passive oder manövrierbare Elemente des Regimes. Das erleichterte den konterrevolutionären Putsch und die Ermordung Sankaras.

Der revolutionäre Marxismus, mit der die Erfahrungen der Oktoberrevolution verallgemeinernden Theorie der Permanenten Revolution, setzt die direkte Kontrolle und Führung des Proletariats in der Perspektive der Ausweitung der sozialen Revolution auf internationaler Ebene Richtung Sozialismus voraus. Dafür ist eine internationale revolutionäre Arbeiter*innenpartei nötig, konkret der Wiederaufbau der 1938 gegründeten Vierten Internationale, die in ihrem Gründungsprogramm formulierte:

Auf einer gewissen Stufe der Massenmobilisierung unter den Losungen der revolutionären Demokratie können und müssen Sowjets entstehen. Ihre geschichtliche Rolle, insbesondere ihr Verhältnis zur Nationalversammlung, ist in der jeweils gegebenen Periode bestimmt durch die politische Reife des Proletariats, seine Verbindung mit der bäuerlichen Klasse und durch den bäuerlichen Charakter der Politik der proletarischen Partei. Früher oder später müssen die Sowjets die bürgerliche Demokratie stürzen. Nur sie sind fähig die demokratische Revolution zu Ende zu führen und so die Ära der sozialistischen Revolution zu eröffnen.

Sankara konnte die Bedingungen für einen sozialistischen Aufbau nicht erfüllen, weil er die Macht des Proletariats als Anführerin der Unterdrückten scheute und bekämpfte. Er nahm ein Modell in Burkina Faso auf, das ausgehend von den Erfahrungen in China den unterdrückten Völkern eine Losung der militärisch geführten, bäuerlichen, nationalen und demokratischen Revolution ohne Macht des Proletariats selbst aufzwingen sollte. Dies war ein Etappenmodell des Stalinismus-Maoismus für in die Rückständigkeit gedrängte Länder, das die erste Aufgabe darin sah, die nationale Einheit zum Zwecke der unerfüllten demokratischen Aufgaben zu setzen und sie von der Arbeiter*innenmacht zu trennen. So wurde die Führungsrolle des Proletariats, die mit den Erfahrungen der Oktoberrevolution bestätigt wurde, aufgegeben. Dabei fehlte es dem Proletariat Burkina Fasos und des afrikanischen Kontinents keineswegs an Reife, sondern an revolutionärer Führung durch eine revolutionäre Partei. Wie Leo Trotzki, Anführer der Oktoberrevolution von 1917, bezüglich der gescheiterten Spanischen Revolution betonte:

Der Oktober-Sieg ist ein ernstes Zeugnis für die „Reife“ des Proletariats. Aber diese Reife ist relativ. Wenige Jahre später ließ dasselbe Proletariat zu, dass eine Bürokratie, die aus seinen eigenen Reihen heranwuchs, die Revolution erwürgte. Ein Sieg ist keineswegs die reife Frucht der „Reife“ des Proletariats. Der Sieg ist eine strategische Aufgabe. Die günstigen Umstände einer revolutionären Krise müssen dazu genutzt werden, die Massen zu mobilisieren; der gegebene Stand ihrer „Reife“ muss als Ausgangspunkt genommen werden, um sie weiter vorwärts zu treiben, um ihnen klarzumachen, dass der Feind keineswegs allmächtig ist, dass er von Widersprüchen zerrissen ist, dass hinter der imponierenden Fassade Panik herrscht.

Für uns bedeutet die Permanente Revolution, dass es in den Händen des Proletariats einen Übergang von den demokratischen und nationalen Aufgaben zur sozialistischen Revolution und deren Ausdehnung auf die Region und Weltarena geben muss. Das beinhaltet die Neustrukturierung der ganzen Nation unter Führung des Proletariats. Das Proletariat benötigt dafür Rätestrukturen, die nicht vom Himmel fallen, sondern bewusst aufgebaut werden müssen, wo sie nicht entstehen. Die Erfüllung der verspäteten bürgerlich-demokratischen Aufgaben kann nicht von einem linken Bonaparte übernommen werden, der sich aufs Militär oder die Zwischenklassen stützt. Wie Trotzki betonte, ist die volle und wirkliche Lösung der demokratischen Aufgaben und des Problems der nationalen Befreiung nur mittels der Diktatur des Proletariats als Anführerin der unterdrückten Nationen und vor allem ihrer bäuerlichen Massen denkbar. Das Proletariat muss im zurückgebliebenen kolonialen Land die Bäuer*innenschaft um sich sammeln, um die Macht zu ergreifen.

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