Die marxistische Methode und die Aktualität der Epoche von Krisen, Kriegen und Revolutionen

13.03.2021, Lesezeit 40 Min.
1
Quelle: Ideas de Izquierda

Emilio Albamonte über die marxistische Methode zur Betrachtung der aktuellen Weltlage mit Zentrum im Klassenkampf und die Epoche von Krisen, Kriegen und Revolutionen als strategischem Rahmen für eine Antwort der Revolutionär:innen.

Wir veröffentlichen die Eröffnungsrede von Emilio Albamonte für die Konferenz der PTS vom 11. bis 13. Dezember 2020 als dreiteilige Serie. Er behandelt eine Reihe theoretischer und historischer Grundlagen für das Verständnis der internationalen Situation, darunter die Definition der Epoche von Krisen, Kriegen und Revolutionen als strategischem Rahmen der aktuellen Krise, sowie die Nützlichkeit des Konzepts des „kapitalistischen Gleichgewichts“ zur Analyse der Beziehungen zwischen Ökonomie, Geopolitik und Klassenkampf. Er debattiert auch mit verschiedenen Antworten auf die Krise und einigen der Scheidewege, vor denen der revolutionäre Marxismus in der gegenwärtigen Etappe steht.

Der erste Teil handelt von der historischen Bedeutung der neoliberalen Offensive sowie der marxistischen Methode zur Betrachtung der aktuellen Weltlage, die den Klassenkampf nicht ausklammert, sondern – ganz im Gegenteil – ihr eine entscheidende Rolle zuweist. Im zweiten Teil widmen wir uns der Strömungen des sogenannten „Post-Kapitalismus“, die vor allem in der technologischen Entwicklung eine Möglichkeit sehen, der kapitalistischen Konkzurrenz zu entkommen. Teil davon ist auch die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens. Der dritte und letzte Teil dreht sich um die Epoche von Krise, Krieg und Revolutionen, sowie wie und warum wir kämpfen. Dies umfasst ebenso eine Bilanz des Nachkriegstrotzkismus.

Ich möchte mit drei Punkten die Diskussionen der Konferenz eröffnen. Der erste behandelt die aktuelle Weltlage und die marxistische Methode, sie anzugehen. Ich werde die wichtigsten strategischen Probleme und die strukturelleren Tendenzen beleuchten – das Dokument von Claudia Cinatti analysiert die politischen Probleme und die Aktualisierung der Tendenzen, die die heutige Konjunktur kennzeichnen.

Die zweite Frage besteht darin, einige Antworten auf diese Situation zu analysieren. Wir werden mit einigen Strömungen theoretisch diskutieren: akademische Strömungen, die im Allgemeinen kleinbürgerlich und antisozialistisch sind – während sozialistische und revolutionäre marxistische Strömungen in der Universität entweder gar keine oder nur eine Mindesheitsposition darstellen. Zuerst muss man verstehen, was sie sagen, mit ihnen dann theoretisch von einem marxistischen Standpunkt aus diskutieren, und schließlich ihr Programm diskutieren (falls sie überhaupt ein politisches Programm entwickeln, denn nicht alle tun das explizit). Zu denen, die wir heute analysieren werden, gehören die sogenannten postkapitalistischen Strömungen. Die Genossin Paula Bach hat diese Strömungen studiert und schreibt aktuell an einem Buch, von dem wir ein Kapitel in in der Zeitschrift Ideas de Izquierda vorab veröffentlicht haben.

Zum Schluss werde ich auf die Lage des Proletariats eingehen und darauf, in welcher Situation wir uns allgemein, jenseits der politischen Konjunktur, vom historischen Standpunkt aus befinden. Ich werde erklären, warum von unserem Standpunkt aus die proletarische Revolution, bei allen enormen Schwierigkeiten, die sie hat, der einzige realistische Ausweg aus der Krise des Kapitalismus ist. Nicht in Bezug auf die aktuelle Krise im Besonderen, sondern auf die wiederkehrenden Krisen, die der Kapitalismus hatte und mittel- und langfristig wieder haben kann, eingehen. Das heißt, eine Antwort auf die grundlegenden Tendenzen des Kapitalismus, für die reformistische Strömungen verschiedener Art keinen Ausweg bieten können. Diese Krisen können eine konjunkturelle Lösung haben, wie bereits viele kapitalistische Krisen zuvor, aber wir müssen die internationale Situation von einem marxistischen Standpunkt aus analysieren, wie es Trotzki tat, auf dessen Methode ich mich beziehen werde.

Die aktuelle Etappe und die Reaktionen auf die Krise

Zu Beginn dieses Jahrhunderts sagte der britische Marxist Perry Anderson, dass der Neoliberalismus mit seiner Politik der Marktöffnung und Globalisierung die erfolgreichste Ideologie der Weltgeschichte sei. Aus Sicht der politischen und ökonomischen Theorien, des durch den Neoliberalismus tatsächlich durchgesetzten „gesunden Menschenverstands“, schien Anderson durchaus Recht zu haben. Jede:r dachte in Begriffen des Neoliberalismus, sowohl die persönlichen Perspektiven als auch die Perspektiven und Grenzen der Ausrichtung, die ein Land in der Wirtschaft, in der Politik und in sozialen Fragen einschlagen konnte.

Heute, nach der Krise von 2008, hat sich das geändert. Für diejenigen, die jünger sind und die Geschichte weniger kennen: Dies war eine der großen Krisen des Kapitalismus, die ihn enorm diskreditiert hat. Zunächst brachen einige Kreditinstitute zusammen, wodurch ein „Dominoeffekt“ zu entstehen drohte. Die Krise hatte mit Versicherungsgesellschaften und Finanzinstrumenten zu tun. Unter der Führung von Obama (Förderer des jetzigen Präsidenten Joe Biden) wurden Banken und Konzerne gerettet, die weltweit Billionen von Dollar in die Hand nahmen, während Millionen und Abermillionen von Menschen, die jahrelang gearbeitet hatten, um sich ein Haus zu kaufen, gesagt wurde, dass sie ihr Haus verlieren würden, wenn sie die Kredite nicht zurückzahlen könnten. Und genauso geschah es. So hat der Kapitalismus die Krise gelöst. Danach erholte sich die Wirtschaft in relativem Maße, erreichte aber bei vielen Indikatoren nie wieder das Vorkrisenniveau. Schon vor der Pandemie waren das Wachstum der Arbeitsproduktivität, die Profitrate usw. im Kapitalismus weltweit rückläufig. Michael Roberts, ein britischer Marxist, analysiert in einem Interview, das wir kürzlich mit ihm geführt haben, wie schon vor der Pandemie die wirtschaftliche Erholung rückläufig war, die nach 2008 erreicht worden war. Damals wurden in einer ersten Phase die Kernländer hart getroffen, und einer zweiten Phase koppelte sich China praktisch vom Abwärtskurs der Weltwirtschaft ab, was eine schlimmere Katastrophe verhinderte. Dieses Element verhinderte – zusammen mit den massiven Rettungspaketen – ein Krisenszenario wie in den 1930er Jahren, als zum Beispiel in wenigen Jahren mehr als achttausend Banken pleite gingen.

Im Jahr 2008 wurden die Banken gerettet und ein solches Szenario vermieden. Jedoch geschah dies auf Kosten der Verlängerung einer schleichende Krise, die sich später beim Herunterfahren der Wirtschaft im Zuge der Pandemie verschärfte. Das hatte nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale und politische Folgen und Folgen im Klassenkampf, wie wir sehen werden. Das ist die Krise des Neoliberalismus, jener von Anderson beschriebenen erfolgreichen Ideologie, die fast das gesamte politische Spektrum von Rechts bis Mitte-links durchdringen konnte.

Mit der Diskreditierung sowohl dieser Ideologie als auch der Idee der Globalisierung sind Phänomene entstanden, wie z.B. die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. Er kam mit dem Versprechen an die Regierung, alle Arbeitsplätze zurückzuholen, die durch internationale Freihandels- und Globalisierungsabkommen verloren gegangen waren. Dafür bekam er viele Stimmen von arbeitslosen Arbeiter:innen im Mittleren Westen der USA. Dies ist ein Phänomen, das sich bereits in den europäischen Ländern und anderen Ländern der Welt gezeigt hatte und als „Rechtspopulismus“ bezeichnet wird: Er basiert auf dem Vorschlag der Rückkehr zur alten „verlorenen Dominanz“ der Nationalstaaten und darauf, dass die internationalen Gremien und großen Konzerne, die über die Nationalstaaten hinausgewachsen seien, auf nationaler Ebene kontrolliert werden könnten. Trump hatte am Ende nur eine Amtszeit, und jetzt hat Biden gewonnen, weil dieses Versprechen nicht erfüllt wurde und nicht erfüllt werden konnte; hinzu kommt zusätzlich die sich verschlechternde Situation durch das Coronavirus. Dieses Panorama ist Ausdruck der Schwächen der beiden Strömungen, die es heute im weltweiten Neoliberalismus gibt: der „Rechtspopulismus“, der nicht mit den Bedingungen des Neoliberalismus bricht, sondern bessere Bedingungen verhandeln will, und der traditionellere Neoliberalismus, der in der US-amerikanischen Demokratischen Partei, bei Macron in Frankreich, bei Merkel in Deutschland und sogar in China usw. zum Ausdruck kommt, die in unterschiedlichem Maße Verteidiger:innen der neoliberalen Thesen sind.

Die Diskreditierung des Neoliberalismus und bis zu einem gewissen Grad des Kapitalismus selbst ist weit verbreitet, als Resultat der enormen Ungleichheiten, die die neoliberale Offensive, die weltweit die Arbeiter:innenlöhne, die Arbeitsplätze usw. angriff, geschaffen hat. Die aktuelle Krise im Rahmen des Coronavirus hat die Situation weiter verschärft. Für 2020hat der IWF prognostiziert, dass das weltweite Bruttosozialprodukt um 4,4 Prozent sinkt– das sind enorme Zahlen. Das bedeutet nicht, dass es sich im nächsten Jahr nicht wieder erholen kann, aber in Ländern wie Argentinien, in denen die Wirtschaftsleistung um 10 bis 12 Prozent fallen wird, wird es mehrere Jahre dauern, bis das Vorkrisenniveau wieder erreicht ist. Mit anderen Worten stehen wir vor einer Katastrophe für große Teile der Massen. Von dieser Situation müssen wir ausgehen, um zu verstehen, in welcher Lage, an welchem Scheideweg sich der weltweite Kapitalismus befindet.

Das Grundproblem des heutigen Kapitalismus ist, dass er sich als unfähig erwiesen hat, neue Motoren der Kapitalakkumulation hervorzubringen. Nachdem die Bürokratien der ehemaligen bürokratischen Arbeiter:innenstaaten den Kapitalismus restaurierten, fand das Kapital einen neuen „Urwald“, d.h. einen neuen Ort zur Kapitalakkumulation. Es war die Restauration in China, die es jahrelang ermöglichte, billige Arbeitskraft zu generieren, die den Lohnpreis weltweit senkte. Jetzt läuft diese Gegentendenz aus, nicht nur weil die Löhne in China steigen, sondern weil China mit den USA, mit Deutschland, mit den Großmächten konkurriert. Es hat sich von einer armen Nation, die ein Ziel für die Kapitalakkumulation der imperialistischen Mächte war, in eine Nation verwandelt, die auf dem Weltmarkt um die Möglichkeiten der Kapitalakkumulation konkurriert. Daher die Zoll- und Handelskriege, die wir in letzter Zeit verstärkt sehen.

Um zusammen zu fassen: Es war dem Kapitalismus gelungen, jene triumphale Ideologie durchzusetzen, von der Perry Anderson sprach, die bei vielen Menschen zum Common Sense wurde – nicht nur als Resultat einer allgemeinen Offensive und der Niederlage des Proletariats im Westen, sondern auch durch die Beseitigung von Errungenschaften wie denen, die wir als – degenerierte und deformierte – Arbeiter:innenstaaten bezeichnen, indem er sie auf das Terrain der Kapitalakkumulation zurückführte, was im Zweiten Weltkrieg nicht der Fall war. Der Kapitalismus hatte dadurch einen neuen Aufschwung, aber dieser läuft nun aus. Die Krise von 2008 hat diese Erschöpfung gezeigt, und jetzt ist sie erneut zu beobachten.

Trotzkis Methode

Um die Situation zu analysieren und uns von den Reformist:innen verschiedener Art abzugrenzen, sollten wir bedenken, wie Trotzki die internationale Situation analysierte: nicht als eine Summe von Faktoren, sondern als eine Struktur, in der das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Das bedeutet, dass wir in unsere Analyse sowohl den Zustand der Weltwirtschaft als auch der Geopolitik und des Klassenkampfes einbeziehen müssen. Und das nicht als Aufzählung, sondern immer unter der Berücksichtigung, dass der Klassenkampf das bestimmende Element ist.

Trotzki wies darauf hin, dass man, um die internationale Situation zu analysieren, von der Ökonomie ausgehen müsse, das heißt, davon, welche Beziehungen die Wirtschaft zur Politik hat. Wir sagen zum Beispiel, dass das Kapital ein Akkumulationsproblem hat – die Finanzialisierung der Wirtschaft ist die andere Seite davon. Aber hier gibt es neben dem ökonomischen Problem auch ein politisches Problem, denn damit beginnen die Streitigkeiten zwischen Staaten, wie wir sie zwischen den USA und China beobachten. Diese geopolitischen Spannungen sind für Trotzki von zentraler Bedeutung, denn wir müssen nicht nur die Konzerne analysieren, sondern auch die Staaten, auf die sich diese Konzerne stützen, und die geopolitischen Kämpfe, die die Wirtschaft hervorbringt. Die Wirtschaft hat also Probleme bei der Verwertung von Kapital1, was sich in geopolitischen Spannungen zwischen Staaten ausdrückt. Daher Trumps permanenter Diskurs gegen China, der unabhängig von der Form und bestimmter taktischer Optionen den bereits während der Obama-Präsidentschaft entwickelten strategischen Wettbewerb mit China fortsetzt, der als „asiatische Wende“ zur Umzingelung Chinas bezeichnet wurde. Obamas Linie war es, sich vorzubereiten und von Süden her mit Indien, Indonesien, Südkorea bis Australien eine Art Blockade gegen China zu errichten, die man manchmal sieht und manchmal nicht. China, dessen Stellung in der Südsee sich eher früher als später strategisch verkomplizieren könnte, erbaut demgegenüber künstliche Inseln und rüstet sie mit Waffen aus, mit dem Ziel, einen eventuellen militärischen Angriff zu verhindern.

Diese geopolitischen Spannungen treten nicht notwendigerweise von Anfang an als militärische Konfrontationen auf; sie treten manchmal, wie Trotzki sagte, als „Zollkriege“ auf. Das ist es, was Trump gegen China getan hat, gegen billige chinesische Waren: Die USA akzeptieren sie nur unter der Bedingung, dass China seine Käufe bestimmter von den USA produzierter Waren um 200 Milliarden Dollar erhöht. Diese geopolitischen Spannungen sind oft die Grundlage für echte Kriege, nicht nur zwischen den Großmächten, sondern auch zwischen kleineren oder regionalen Mächten. So wird in dem Artikel von Claudia Cinatti die Rolle von Zwischenmächten wie dem NATO-Mitgliedsland Türkei, das einen Vorposten des Westens bildet, herausgearbeitet. Durch die Konflikte im Nahen Osten und den Rückzug der USA ist die Türkei zu einer Regionalmacht geworden. Im Fall des Krieges, der vor kurzem in einem Gebiet des ehemaligen Territoriums der Sowjetunion zwischen Aserbaidschan und Armenien geführt wurde, war die Türkei der Schlüssel, um das Gleichgewicht zu Gunsten der Ersteren zu kippen. Kriege wie diese können Situationen eröffnen, deren Folgen oft unvorhersehbar sind.

Trotzki synthetisiert diese Methode für die Analyse der Weltlage in den 1920er Jahren. Mit der globalen Ausdehnung des Kapitalismus und dem Beginn der imperialistischen Epoche verschärfte sich der Widerspruch zwischen den zunehmend internationalisierten Produktivkräften mit ihren Konzernen und dem Nationalstaat als der Raum, in dem sich die Produktionsverhältnisse artikulieren. Ein Konzern wie Amazon hat zum Beispiel 1,2 Millionen Beschäftigte weltweit. Diese Art von multinationalen Unternehmen muss um die Beherrschung des Weltmarktes konkurrieren und den Staaten eine Politik aufzwingen, gegen die sie sich oft stellen. Sie waren gegen Trump, weil sie das Gefühl hatten, dass er sie bei den Handelsbeziehungen stört. Aber sie sind für einen Plan – sei es mit den Republikanern oder den Demokraten –, um China daran zu hindern, Spitzentechnologien wie 5G zu entwickeln und auszubauen, und um China daran zu hindern, sich als Großmacht zu entfalten und seine imperialistischsten Züge zu entwickeln. Denn das könnte sich als Konkurrenz für die großen multinationalen Konzerne wie Google, Facebook usw. erweisen, denen China das Eindringen in sein Territorium verboten hat oder kontrolliert. Das Problem ist, dass dies ein internationaler Kampf darum ist, welches Monopol sich durchsetzen wird und welche Staaten sich innerhalb dieser Situation durchsetzen werden. Gleichzeitig gibt es einen internen wirtschaftlichen Widerspruch: dass die Konzerne eines Landes in bestimmten Fällen über die Staaten hinauswachsen. Es sind Konzerne, die von ihren Staaten Steuersenkungen fordern, aber gleichzeitig die enormen Gewinne, die sie im Ausland mit Hunderttausenden von Beschäftigten haben, nicht in ihren Kernländern reinvestieren. Daraus ergibt sich für die kapitalistischen Staaten selbst das Problem, wie sie das Land mit schwacher Hegemonie führen können, um Mindestbedingungen zu schaffen, die den Ausbruch von Revolten und perspektivisch von Revolutionen verhindern.

Trotzki sagte also, dass es notwendig sei, drei Elemente zu analysieren: die ökonomische Basis; wie sich die geopolitischen Spannungen – Zölle, Handel usw. –zu jedem Zeitpunkt ausdrücken und wann sie drohen, sich in einen militärischen Kampf verwandeln; und den Klassenkampf. Mit anderen Worten: Es konnte keine marxistische Analyse geben, die nicht alle drei Elemente enthielt. In Verbindung mit dieser Methode entwickelt Trotzki das Konzept des „kapitalistischen Gleichgewichts“, um der mechanistischen Vorstellung entgegenzutreten, dass sich der Kapitalismus permanent in einer Weltkrise befindet, die sich immer mehr vertieft. Trotzki definiert dieses Konzept 1921 wie folgt:

Das Gleichgewicht des Kapitalismus ist eine sehr komplizierte Erscheinung: der Kapitalismus erzeugt dieses Gleichgewicht, stört es, stellt es wieder her und stört es von Neuem, indem er zugleich den Rahmen seiner Herrschaft erweitert. Auf dem Wirtschaftsgebiete bilden solche beständigen Störungen und Wiederherstellungen die Krisen- und Prosperitätsperioden. In den Beziehungen zwischen den Klassen nimmt die Störung des Gleichgewichtes die Form von Streiks, Aussperrungen, revolutionärem Kampfe an. In den Beziehungen zwischen den Staaten sind die Gleichgewichtsstörungen: Krieg oder in schwächerer Form wirtschaftlicher Zollkrieg oder Blockade. Der Kapitalismus hat also ein bewegliches Gleichgewicht, das stets entweder gestört oder wiederhergestellt wird. Zugleich aber besitzt dieses Gleichgewicht eine große Widerstandskraft; der beste Beweis dafür ist die Tatsache, dass die kapitalistische Welt bis jetzt nicht zusammengebrochen ist. (Leo Trotzki:Die Weltlage, 1921)

Ohne diese drei Elemente werden wir keine marxistischen Analysen haben, sondern eher unzusammenhängende Analysen, die uns keine Vorhersage erlauben. Trotzki sagte, anführen heißt voraussehen, aber das bedeutet nicht, ein Wahrsager zu sein, sondern die Fähigkeit zu beobachten, was die tiefgründigen Tendenzen sind: Gibt es Tendenzen zur Stabilisierung des kapitalistischen Gleichgewichts in der Welt? Das ist dann eine ArtSituation. Gibt es Tendenzen, das Gleichgewicht zu brechen? Das ist eine andere Situation. Was kann das Gleichgewicht brechen, die Wirtschaft, der zwischenstaatliche Kampf, der Klassenkampf, alle drei Elemente? Das zu analysieren, führt uns, allgemein gesagt, aus der konjunkturellen Diskussion heraus. Es ist ein Ordnungsschema, um das Geschehen in der Welt zu analysieren und uns zu erlauben, die Probleme und Spannungen zu verstehen. Viele von uns verwenden diese Methode, aber wir müssen sie den neuen Reihen von Aktivist:innen erklären, die beginnen, sich mit uns am Klassenkampf zu beteiligen.

Der bestimmende Charakter der Ergebnisse des Klassenkampfes

Was meinen wir damit, dass es notwendig ist, diesen Widerspruch zwischen Klassenkampf, Ökonomie und zwischenstaatlichen Kämpfen dialektisch zu sehen, um nicht in vereinfachende Visionen zu verfallen, die uns daran hindern, die Realität zu verstehen? Zum Beispiel sah die Partei, aus der wir in Argentinien hervorgegangen sind, die alte MAS („Bewegung zum Sozialismus“), die Landkarte der Weltlage zwischen den 1920er und 1940er Jahren in „dunklen“ Farben: chinesische Niederlage, spanische Niederlage, Faschismus in Deutschland usw. Und ab 1945 sah sie eine rote Landkarte: Enteignung der Bourgeoisie in China, Jugoslawien, Ungarn usw. Aber gab es wirklich eine „dunkle Landkarte“ zwischen den 1920er und 1940er Jahren und eine „rote“ Landkarte in der Nachkriegszeit? Schauen wir mal.

In der Tat gab es zwischen den 1920er und 1940er Jahren große revolutionäre Kämpfe und große Niederlagen. In den Jahren 1925-27 gab es die Revolution in China, wo die Arbeiter:innen und Bäuer:innen nach Norden zogen, um die Feudalherren zu liquidieren. Dabei folgten dem bürgerlichen General Chiang Kai-shek. An einem gewissen Punkt hatten sie die Warlords besiegt, und die Kommunistische Partei, die Chiang Kai-shek diskussionslos begleitet hatte, war für ihn nicht mehr von Nutzen. Also ließ Chiang Kai-shek Tausende von Arbeiter:innen der Avantgarde erschießen und die bürgerliche Regierung übernahm einen Teil Nordchinas. In dem Roman So lebt der Mensch(frz. La Condition humaine)erzählt Malraux, wie die Arbeiter:innen in die Kessel der Lokomotiven geworfen wurden. Mit anderen Worten: Es war ein großer Kampf und eine große Niederlage.

1931 beginnt die Spanische Revolution: Die Regierung der Bourbonenmonarchie stürzt und die Republikaner:innen gewinnen die Wahlen. Die Anarchist:innen, die eine große Bewegung waren, welche Massensektoren organisierte, begannen einen revolutionären Prozess, der 1934 zu einem Aufstand in Asturien im Norden Spaniens führte. Die Regierung der Republik war rechtsgerichtet und tötete Tausende und sperrte Zehntausende ein, was eine Reaktion hervorrief, die zum Wahlsieg einer klassen-kollaborationistischen Regierung führte, die sogenannte Volksfront. Dann brach ein Bürger:innenkrieg aus, in dem die Kräfte von General Franco sich auflehnten und die Regierung der Republik stürzen wollten. Anarchist:innen, Kommunist:innen – die nur wenige waren – und Sozialist:innen gingen in denjenigen Städten, in denen sie mehr Kraft hatten, darunter Barcelona und Madrid, mit Messern und Gewehren bewaffnet auf die Straße, konfrontierten die Armee und besiegten sie an vielen Orten. Es war ein riesiger revolutionärer Kampf. Aber anstatt bis zum Ende zu gehen und die Macht für die Arbeiter:innen zu ergreifen, unterstützte der Stalinismus die republikanische Regierung und kroch hinter der Bourgeoisie her, was zum Sieg Francos und zur Niederlage der spanischen Arbeiter:innenklasse führte. Das heißt, es gab eine vier- bzw. fünfjährige Revolution und einen dreijährigen Bürger:innenkrieg, der mit einer großen Niederlage endete.

Das waren nur einige Beispiele, ganz zu schweigen vom Aufstieg des Faschismus. In Deutschland hatte es bereits Niederlagen der revolutionären Bewegung in den Jahren 1919, 1921 und 1923 gegeben, und nach der Krise der 1930er Jahre waren die Faschist:innen stark geworden. Die Linie des Stalinismus in Deutschland war nicht, für die Einheit der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiter:innen zu kämpfen, um gemeinsam gegen die faschistische Gefahr zu kämpfen. Diese wollte die Gewerkschaften, die Arbeiter:innenvereine, die Genossenschaften usw. zerstören, d.h. die Arbeiter:innenklasse auf eine amorphe Masse reduzieren, die keine Möglichkeit hat, sich zu verteidigen. Der Stalinismus jedoch behauptete, dass die Sozialdemokrat:innen genauso sehr Feinde sind wie die Faschist:innen, und das ermöglichte Hitler zu siegen. Nicht nur das, sondern es schuf die Bedingungen für ein viel größeres Gemetzel, nämlich den Zweiten Weltkrieg, den ersten wirklich planetarischen Krieg, in dem von der UdSSR, China, Japan, Europa bis nach Afrika gekämpft wurde; sogar Brasilien beteiligte sich mit 20.000 Soldaten, die an den Küsten Siziliens landeten. Die USA richteten ihre gesamte Produktion auf den Krieg aus, um die deutschen, japanischen und italienischen Imperialist:innen zu schlagen, die die Weltordnung in Frage stellen.

So sehen wir die Landkarte der Jahre von 1920 bis 1940: geprägt von großen revolutionären Prozessen und großen Niederlagen, die von den Führungen der Massenbewegung verursacht wurden, und dies alles gekrönt von einem Weltkrieg. Wir können jedoch nicht nur dies analysieren und uns damit zufrieden geben, die Karte schwarz zu malen. Als erstes müssten wir uns fragen, warum in diesem Szenario nicht die gesamte Welt nach dem Weltkrieg in der Versklavung gelandet ist. Der Grund dafür ist der Aufstieg der Sowjetunion; ihre Errungenschaften waren zurückgedreht worden, aber die USA mussten, um die gegnerischen Imperialist:innen zu schlagen, die UdSSR taktisch unterstützen. Also stellten die USA ihre gesamte Produktion um und begannen mit der Herstellung von Waffen. Die Flugzeugproduktion stieg von 3.000 pro Jahr im Jahr 1939 auf über 300.000 in fünf Jahren. Diese Flugzeuge wurden an die Front geschickt, um ihre britischen und französischen Verbündeten –mit einem besetzten Frankreich – und die Sowjetunion zu unterstützen, denn „wer der Feind meines Feindes ist, ist am Ende mein Freund“, zumindest für ein paar Jahre. Also unterstützten sie die Sowjetunion, und der Weltkrieg endete damit, dass die UdSSR sich behaupten konnte – trotz des Desasters, das Stalin angerichtet hatte, welcher die Verteidigung gegen die Nazi-Invasion nicht vorbereitet, sondern vielmehr boykottiert hatte, was 20 Millionen Tote kostete – und am Ende Osteuropa und einen Teil Deutschlands besetze. Aber nicht nur die Sowjetunion behauptete sich, sondern an ihrer Seite stand auch China, dessen imperialistische Unterdrückung einer der Gründe für den Weltkrieg gewesen war, mit dem Sieg der chinesischen Revolution. Die Bäuerinnen, die während des Krieges schreckliche Hungersnöte erlitten hatten, erhoben sich und unterstützten dann die Linie von Mao Tse Tung. Sie führten die Landreform durch, bei der sie nicht nur die Kriegsherren, die Großgrundbesitzer:innen, töteten, sondern auch die Kredithaie, die ihre Schulden in den Rechnungsbüchern aufschreiben ließen. Eine unkontrollierbare Welle, die Mao Tse Tung an die Macht brachte. Mao wollte nichts weiter als eine Koalitionsregierung mit Chiang Kai-shek, aber die Massen drängten ihn, die Macht zu übernehmen.

Um all dies zu verstehen, ist es notwendig, alle Widersprüche der Weltlage dialektisch zu integrieren. Wenn wir nur die Wirtschaft oder die zwischenstaatlichen Konflikte analysieren und die entscheidende Rolle des Klassenkampfes nicht sehen, werden wir von Siegen überrascht sein, die zu Niederlagen werden – wie die Erfahrung jener großen Revolutionen der 20er und 30er Jahre zeigt, die am Problem der Führung der Arbeiter:innenklasse scheiterten -. Und wir werden überrascht sein, dass sich erschreckende Niederlagen durch die Aktion der Massen, durch die Leiden, die ein Krieg schafft, in enorme Revolutionen verwandeln. Deshalb sagte Lenin den berühmten Satz, dass revolutionäre Situationen – im Allgemeinen, und da reden wir nicht einmal von Kriegen – dann eintreten, wenn das Leiden größer ist als gewöhnlich; dies wirkt sich auf die Subjektivität der Massen aus, die in Aktion treten. Manchmal drängen sie die Bürokratie dazu, Aufgaben auszuführen, die sie nicht tun will, und manchmal gelingt es ihnen, sie zu überwinden, wie in der Russischen Revolution, wo die Massen die Bolschewiki an die Macht brachten.

Wenn wir uns dann der Weltlage nähern, indem wir Ökonomie, Geopolitik und Klassenkampf verbinden, sehen wir zwischen 1920 und 1940: in der Ökonomie die Krise der 1930er Jahre; was die Geopolitik betrifft, so stellte das nach dem Ersten Weltkrieg zerstörte Deutschland die Weltordnung in Frage –genauso Japan und Italien –, Spannungen, die zum Krieg führen. Mit anderen Worten: wirtschaftliche Probleme, geopolitische Probleme. Und die Arbeiter:innenbewegung, die scheinbar besiegt worden war, ging mit einem noch viel widersprüchlicheren Ergebnis aus dem Krieg hervor. Die UdSSR behauptete nicht nur ihr Territorium, sondern stieß auf den Balkan und nach Osteuropa vor, bis sie das halbe kapitalistische Deutschland besetzte, ein für die ganze Welt unerwartetes Ergebnis. In Chinafand eine große Revolution statt. Die USA konnte also einen großen Sieg im Westen für sich verbuchen, aber mit dem Widerspruch, dass am Ende des Krieges – der ja geführt wurde, um mehr Räume für die Verwertung des Kapitals zu erobern – die Planwirtschaften (obwohl sie bürokratisch waren) die Kapitalist:innen enteignet hatten. Die bürokratisch deformierten und degenerierten Arbeiter:innenstaaten hatten ein Drittel der Menschheit der Verwertung des Kapitals entzogen.

Bedeutete dies nun, dass die Karte mehr und mehr rot angemalt wurde? Betrachtet man die Weltlage aus dem Blickwinkel der Geopolitik, der zwischenstaatlichen Konkurrenz zweier Systeme, dann gab es die „rote Landkarte“. Aber der Sozialismus „in einem Land“ auf der Grundlage verschiedener nationaler stalinistischer Varianten konnte sich in diesen Ländern nicht entwickeln. Denn das ist letztlich das Gegenteil der Perspektive der Zusammenführung der Produktivkräfte auf internationaler Ebene, die eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit und den Fortschritt zu einer Gesellschaft freier assoziierter Produzent:innen ermöglichen würde, um es mit Marx zu sagen. All diese Ideologien der Klassenversöhnung – nicht nur der Reformismus, sondern auch der Common Sense von Parteien, die sich kommunistisch nennen – gingen in die entgegengesetzte Richtung davon, die Landkarte rot zu malen. Denn die Karte war zwar voll von Staaten, die sich sozialistisch nannten – sogar afrikanische Staaten, die sich als nationale Sozialismen bezeichneten –, aber vom Standpunkt des Klassenkampfes aus bereiteten sie die Katastrophe vor, die in Gestalt des Neoliberalismus kam: All die Bürokratien, die diese Staaten leiteten, eigneten sich die öffentlichen Güter an und wurden zu Oligarchen, die das arbeitende Volk zerschlugen. Die Restauration des Kapitalismus in Russland zum Beispiel führte zu einem Rückgang der Lebenserwartung der Arbeiter:innen um ganze 10 Jahre – ein konterrevolutionärer Vorgang, den nur Kriege bewirken können. Dort wurde sie ohne jeden Krieg erreicht, allein durch die Kapitulation der Bürokratie, die damals die UdSSR leitete.

Wenn wir die verschiedenen Dimensionen und die entscheidende Rolle des Klassenkampfes nicht in die Analyse einbeziehen, können wir nicht verstehen, was passiert ist. Trotzki war sogar der Meinung, dass Stalin in der Hitze des Zweiten Weltkriegs gestürzt werden könnte, wegen all der Katastrophen, die er in Bezug auf die Vorbereitung des Krieges selbst angerichtet hatte. Er wurde nicht gestürzt; Stalin ging siegreich aus dem Krieg hervor und baute das Prestige dieser bürokratisch deformierten Planwirtschaft aus, und die Wirtschaft der Sowjetunion wuchs stetig. Mit China verbündet, begannen sie zu wachsen und die Weltordnung herauszufordern. Wer den Klassenkampf nicht analysiert, hätte zum Beispiel auch die Wende der Kommunistischen Partei Frankreichs nicht gesehen: Am Anfang des Krieges weigerte sie sich, den Nazis Widerstand zu leisten, weil sie den Krieg gegen die Sowjetunion stoppen wollte. Doch sobald die Nazis auch gegen die Sowjetunion vorgingen, rief sie die maquis ins Leben: ein Widerstandsnetz, das um die Jahre 1943-44herum einen Massencharakter annimmt, als Arbeiter:innen sich in klandestinen Zellen organisieren, um gegen die Nazis zu kämpfen. Wer also den Klassenkampf und seine Auswirkungen nicht sieht, und wer nicht versteht, dass er in letzter Instanz bestimmt, kann nicht verstehen, dass nach 20 Jahren furchtbarer Niederlagen und dem größten Gemetzel in der Geschichte der Menschheit der Klassenkampf trotzdem ganz andere Resultate hervorbringen kann: Die chinesischen Bäuer:innen und Arbeiter:innen nutzten die Situation aus, um die Macht zu ergreifen und im Januar 1949 in Peking einzumarschieren, während die UdSSR ihr Territorium ausdehnen und ganz Osteuropa besetzen konnte. Aber zur gleichen Zeit wurde der Stalinismus dank des Prestigegewinns der Roten Armee, die die Nazis besiegt hatte, im Westen zu einem Massenphänomen, mit riesigen kommunistischen Parteien, die eine Schlüsselrolle in der Ablenkung oder Niederlage der großen revolutionären Prozesse einnahmen, die am Ende des Krieges in Frankreich, Italien und Griechenland stattfanden.

Hat also das Proletariat im Weltkrieg gesiegt oder verloren? In dem Sinne, dass es nicht besiegt wurde, war es definitiv erfolgreich: Auch eine komplette Eliminierung wäre möglich gewesen. Es ist ein Sieg, dass jene Institutionen, die die Arbeiter:innenbewegung mit Revolutionen – auch mit deformierten Revolutionen – geschaffen hatte, standhielten. Aber hat die Arbeiter:innenklasse gesiegt oder wurde sie geschlagen? Die Antwort ist, dass die endgültige Antwort verschoben wurde. Das Ergebnis war die sogenannte „Jalta-Ordnung“. In Jalta einigten sich der Imperialist Churchill, der Imperialist Roosevelt und der „Führer des Proletariats“ der ganzen Welt, Stalin, die Welt in Einflusszonen aufzuteilen und nicht in einen neuen Krieg zu ziehen. Zu konkurrieren, aber friedlich; das, was die Stalinist:innen „friedliche Koexistenz“ mit dem Imperialismus nannten. Gleichzeitig gewannen die Kommunistischen Parteien im Westen dank der Sowjetunion an Ansehen und wurden in den Dienst gestellt, sämtliche revolutionären Prozesse zu bremsen.

Die historische Bedeutung der neoliberalen Offensive

Mit dem Ende des Weltkrieges unter diesen Bedingungen schlugen die USA, aber vor allem der Brite Winston Churchill die Politik der „Eindämmung“ vor. Das Ziel war, einen „kalten Krieg“ zu führen und das kommunistische System zu diskreditieren. Der Imperialismus musste dennoch, um die Weltordnung zu sichern, weiter kämpfen, um die Ränder der Jalta-Ordnung mit Teilkriegen wie dem Koreakrieg, dem Vietnamkrieg usw. zu definieren. 40 Jahre lang wurde die Möglichkeit eines Atomkrieges zwischen den USA und der Sowjetunion diskutiert. Es war ein „kalter Krieg“, der sich in einen „heißen Krieg“ verwandelt konnte. Im Jahr 1962, rund um die Raketenkrise auf Kuba, stand die Welt am Rande eines Atomkrieges. Wir sagten, dass ein Drittel der Menschheit den Raum der Kapitalverwertung verlassen hatte; also machten sich die Vereinigten Staaten daran, die besiegten Mächte wie Deutschland und Japan wieder aufzubauen, die später, ab den 1970er Jahren, miteinander zu konkurrieren begannen und die Grundlage für den Beginn dieser wiederkehrenden Krisen schufen, die wir heute erleben.

Um 1973-74 kam es im Kapitalismus zu einer großen Wirtschaftskrise, die sich mit der so genannten Ölkrise ausweitete. Die arabischen Staaten – von denen einige Verbündete der USA waren – wollten nicht mehr Öl an die USA verkaufen. Es gibt viele Verschwörungstheorien über die Gründe dafür, wahr ist aber, dass eine Treibstoffkrise entstand, die furchtbar teuer wurde und eine verallgemeinerte Krise des weltweiten Kapitalismus verursachte.

Gleichzeitig begann das Ende eines seit den 1960er Jahren andauernden Aufwärtszyklus des Klassenkampfes. Dieser war in Lateinamerika durch die kubanische Revolution von 1959 eingeleitet worden, wo der Guevarismus einen großen Einfluss hatte. In Europa, wo die Arbeiter:innenklasse mehr Gewicht hatte, gab es enorme proletarische Aktionen wie den französischen Mai 1968 oder die Streiks in Italien von 1968 bis 1973. Dort organisierte sich das Proletariat zu einem großen Teil unter der Führung der so genannten „Operaist:innen“, weil die aus dem Süden kommenden Arbeiter:innen von der dortigen Kommunistischen Partei – wie bei allen Bürokratien – im Vergleich zu denen aus dem Norden, die wohlhabender waren, als „zweitklassig“ angesehen wurden. Also führten die Operaist:innen riesige Aktionen mit der Forderung durch, dass die Arbeiter:innen des Südens den gleichen Lohn wie die des Nordens bekommenf sollten. Der Kapitalismus war in der Lage, dies zu vereiteln, weil die Führung der Kommunistischen Partei, die am Ende des Krieges Millionen von Stimmen hatte und viele Gewerkschaften leitete, die Politik des „historischen Kompromisses“ mit der Sozialistischen Partei und der Christlich-Demokratischen Partei beschlossen hatte. Damit wollte sie sehen, ob sie ihnen erlauben würden, in die Regierung einzutreten – denn da sie als „Agenten“ des UdSSR-Regimes betrachtet wurden, ließen sie sie nicht hinein. Als Reaktion auf diese Politik der KP haben sich dann militaristische Strategien entwickelt. Diese stellten für das Kapital einen leichter zu schlagenden Feind dar, um diesen Aufstieg der Arbeiter:innen in den 1970er Jahren zu besiegen. In Lateinamerika wurden die Niederlagen dieser Periode von den Militärdiktaturen der Pinochets und Videlas erzwungen, die Zehntausende von Menschen töteten und auf denen der Neoliberalismus aufgebaut wurde. So begann der Neoliberalismus; sie schlugen den Massen vor: „Ihr wolltet den Sozialismus mit friedlichen Mitteln machen, wie in Chile… Nun, hier ist die Antwort“: Staatsterrorismus, Angriff auf die Lebensbedingungen der Arbeiter:innen, usw. Es gelang ihnen, diese enormen Prozesse zu stoppen – nicht wegen der mangelnden Kampfbereitschaft der Arbeiter:innen, sondern wegen der entstandenen Parteien und ihrer Politik. Später werden wir auf dieses Problem, nämlich das des Reformismus, zurückkommen.

Nun, was hatte der Imperialismus aus dem Zweiten Weltkrieg gelernt, in dem er große Gebiete für die Kapitalakkumulation verloren hatte? Er hatte gelernt, dass es das Beste war, neben der militärischen und wirtschaftlichen Konkurrenz die Idee des Kaufs der Anführer:innen der gegnerischen Klasse weiterzuentwickeln. Diese Frage war im Marxismus bereits mit Konzepten wie Gramscis „Transformismus“ diskutiert worden. Die Kooptierung und Korruption der Anführer:innen verallgemeinerte sich nach dem Zweiten Weltkrieg; die großen kommunistischen und sozialistischen Parteien, der bürgerliche Nationalismus wie der Peronismus in Argentinien, entwickelten engmaschige Organisationen, um die Arbeiter:innenklasse zu spalten. Was kann die Bourgeoisie mehr wollen, als wenn die Arbeiter:innen in „denen da unten“ einen Feind erkennen und sich mit den Interessen von „denen da oben“ identifizieren! So funktioniert die bürgerliche Demokratie, die sich auf die Mittelschichten stützt und durch diese Ideologie – die sich im Neoliberalismus stark vertiefte– erreicht, dass die verschiedenen Organisationen der Bürokratie, der sozialen Bewegungen, der Kirche usw. die arbeitenden Massen in eine Vielzahl von Sektoren aufspaltet, die miteinander konkurrieren müssen.

Die „Jalta-Ordnung“ war zum Einen vom Sieg der Sowjetunion und der chinesischen Revolution geprägt, zum Anderen von einer kapitalistischen Ordnung, derdie Akkumulation in einem Drittel des Planeten verwehrt war. Das begann sich in den 1970er Jahren zu ändern. Mit der „Ölkrise“ begann eine Reihe von Krisen, die mit einer verallgemeinerten Reaktion „gelöst“ wurden, bei der der Imperialismus gegenüber den bürokratischen Arbeiter:innenstaaten in die Offensive ging und sagte: „Wenn es diese Anführer:innen in China gibt, die stalinistische Bürokrat:innen sind, warum drohen wir ihnen nur mit Krieg… kaufen wir sie auch“. So nutzte der Imperialismus genau die Krisen aus, die durch die Bürokratie entstanden, welche die Grundlagen des deformierten chinesischen Arbeiter:innenstaates untergrub, und bot Investitionen im Austausch für die Wiederaufnahme der kapitalistischen Ausplünderung an. Zuerst waren es „Sonderwirtschaftszonen“, die dem Kapitalismus offen standen, und dann führte die Kommunistische Partei China in einen brutalen „Staatskapitalismus“. Millionen Arbeiter:innen in China leben heute von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang unter Bedingungen, die an Sklaverei grenzen. Wer vollbrachte dieses „Wunder“, Menschen in Sklav:innen zu verwandeln? Die Kommunistische Partei Chinas. In der ersten Etappe mit dem Sieg der Revolution war es ihr gelungen, die Hungersnot in China mit der Planwirtschaft zu überwinden, mit der Aufteilung der Arbeitszeit, damit jede:r ihre:seine Schüssel Reis bekam und die Bäuer:innen nicht verhungerten. Dann nutzten sie dieses Prestige, um den Kapitalismus zu restaurieren. Heute hat China die größte Anzahl von Milliardär:innen in der Welt, mehr als die USA. Dieser phänomenale „Erfolg“ konnte nur von einer Bürokratie wie der chinesischen KP erreicht werden, die den Staat kontrolliert.

Deshalb haben wir viel über die Beziehung zwischen Trotzki und Gramsci diskutiert –dazu kann man die Schriften von Juan Dal Maso lesen –, und wir haben die Mechanismen hinter dem „Konsens“ diskutiert: Wenn es manchmal so aussieht, als ob sich nichts bewegt, nichts passiert, dann stecken die Bürokratien dahinter, die zu keiner Kampfaktion aufrufen und nichts tun, wenn Arbeiter:innen rausgeschmissen oder die Löhne gesenkt werden. Diese großen Bürokratien erreichen den „sozialen Frieden“, aber trotzdem wächst oft von unten die Unzufriedenheit. Der Konsens ist nicht spontan; es ist nicht so, dass die Leute sagen: „Ich liebe es, ausgebeutet zu werden“. Sondern die meisten Arbeiter:innen sind dagegen, dass ihre Löhne gesenkt werden, dass ihre Arbeitsbedingungen verschlechtert werden. Aber die Gewerkschaften, wie in Argentinien während der Ära von Menem, bekommen Geld für Sozialleistungen, um eine riesige Schicht an Bürokrat:innen zu halten und so die eigenen Mitglieder und ihre eigene soziale Basis zu verraten.

Der Neoliberalismus war eine reaktionäre Lösung für jenes ungeklärte Kräfteverhältnis, das sich aus dem widersprüchlichen Ausgang des Zweiten Weltkriegs ergab und dessen Lösung die „Jalta-Ordnung“nur aufgeschoben hatte. Daher rührt seine historische Bedeutung. Diese Ordnung wurde von den Diktaturen in Lateinamerika, in Chile, Bolivien, Argentinien usw. durchgesetzt, die als „Beispiele“ dargestellt wurden. Sie wurde durch den Sieg über sehr starke Streiks wie den der englischen Bergarbeiter:innen durchgesetzt, die Streiks in Italien, den Streik der Fluglots:innen in den USA unter der Reagan-Regierung, der die US-amerikanische Wirtschaft lahmgelegt hatte. Mit der Niederlage dieser und vieler anderer Prozesse und mit der anschließenden Ausdehnung auf China und andere wurde die wichtige Periode der relativen Stabilität erreicht, die als Neoliberalismus bezeichnet wurde, und in der jene Ideologie durchgesetzt wurde, die die „erfolgreichste in der Geschichte“ sein sollte, wie Perry Anderson sagte. Das ist das, was sich 2008 erschöpfte.

Die gesamte neoliberale Periode war auch von wiederkehrenden Krisen größeren Ausmaßes geprägt, wie z.B. die Tequila-Krise 1994, die Asienkrise 1997 und der russische Staatsbankrott 1998. Dann kam die Dotcom-Blase, die schließlich 2001-2002 mit einer neuen Krise platzte. Es folgten die „Immobilienblase“ und die beispiellose Ausweitung der Finanzaktiva, die in der Krise 2008 platzten. Dann kam die massive staatliche Rettung von Banken und Konzernen, und so weiter bis zur aktuellen Krise.

Der Kapitalismus war in der Lage, angesichts der Schwierigkeiten, auf die er bei der Verwertung des Kapitals stieß, Gegentendenzen zu artikulieren. Aber was wir heute sehen, ist, dass alle Gegentendenzen, die während der neoliberalen Phase implementiert wurden, sich erschöpfen oder praktisch schon erschöpft sind. Der Neoliberalismus basierte, wie wir sagten, auf der Eroberung neuer Räume dank der kapitalistischen Restauration in den ehemaligen bürokratischen Arbeiter:innenstaaten, aber dies führte zum Aufstieg Chinas, das nun um die internationalen Märkte konkurriert. Der Neoliberalismus nutzte die Eingliederung von Hunderten von Millionen Arbeiter:inen aus China, Indien und anderen Ländern in einen globalen Arbeitsmarkt, um die Reallöhne auf der ganzen Welt zu senken und die Profite zu steigern, aber all das verhindert nicht, dass dem Kapitalismus genügend profitable Investitionsmöglichkeiten fehlen.

Diese und andere Elemente zeigen uns, dass es trotz all dieser Errungenschaften des Neoliberalismus immer schwieriger wird, das Kapital zu verwerten. Und wenn die Wirtschaft abstürzt, wenn das Kapital nicht genügend billige Arbeitskräfte findet, wenn es immer größere Schwierigkeiten hat, es zu verwerten, dann müssen tiefgründigere Lösungen durchgesetzt werden. Wir werden später darauf zurückkommen.
Zusammenfassend soll das, was ich entwickelt habe, zeigen, dass die Weltsituation eine Struktur ist, bei der das Ergebnis mehr ist als die Summe der Teile von Wirtschaft, zwischenstaatlichem Kampf und Klassenkampf; die endgültige Definition wird durch den Klassenkampf gegeben. Der preußischer General Carl von Clausewitz, ein Theoretiker des Krieges – den Matías Maiello und ich studiert haben –, sagt, dass der Krieg beginnt, wenn der Schwächere sich entscheidet, die Herausforderung anzunehmen. Und das stimmt. Übertragen auf den Klassenkampf könnte man sagen: Wenn die Werktätigen davon überzeugt sind, dass der Sieg unmöglich ist– und das ist es, was die reformistischen Bürokratien und Führungen des weltweiten Proletariats erreichen wollen–, gibt es oft keinen Klassenkampf. Aber wenn das Proletariat glaubt, dass es eine Chance hat, kann es Wunder bewirken. Dies ist ein Schlüsselelement der trotzkistischen Theorie: dass das Proletariat Wunder bewirken kann, wenn es in die Schlacht geht.

Daraus ergibt sich die Bedeutung der von Trotzki vorgeschlagenen Methode. Es ist ein Fehler, nur die zwischenstaatlichen Beziehungen anzusehen, oder nur die Wirtschaft. Es ist auch ein Fehler, nur den Klassenkampf anzusehen, ohne die objektiven Bedingungen zu beachten. Es ist immer notwendig, die gesamte Struktur mit Vorherrschaft des Klassenkampfes zu analysieren. Diese Methode ist sehr wichtig, um die Situation weltweit, aber auch auf nationaler Ebene analysieren zu können, wie wir es in den für diese Konferenz der PTS verfassten Dokumenten versucht haben.

Teil 2 dieses Vortrags erscheint am 21.3., Teil 3 am 28.3.2021.

Fußnoten

1. Das Kapital wird von Karl Marx als „Wert im Prozess“ definiert, d.h. es befindet sich in ständigem Wachstum auf der Grundlage der Abschöpfung von Mehrwert aus der von ihm ausgebeuteten Arbeitskraft (der einzigen Quelle allen Profits). Nur dies ermöglicht, den ursprünglichen Wert zu verwerten (und seinen Betrag dank des Mehrwerts, den es aus der Arbeitskraft extrahiert, zu erhöhen). Das Kapital ist auch ein Wert im Prozess, weil es gezwungen ist, den Maßstab, auf dem es operiert, dank der Reinvestition des Mehrwerts zu vergrößern. Diese Reinvestition, die Marx als „Kapitalakkumulation“ bezeichnete, setzt voraus, dass immer eine ausreichende Masse an zusätzlicher Arbeitskraft und Märkte für die produzierten Waren zur Verfügung stehen. Aber selbst wenn diese Bedingungen erfüllt sind, spielt die Kapitalakkumulation selbst gegen die Ermöglichung der Kontinuität der Verwertung: Für Marx ist eines der Ergebnisse einer solchen Akkumulation der tendenzielle Fall der Profitrate.

Mehr zum Thema