Der Krieg in Afrin: die Fortsetzung der türkischen Völkermordpolitik

10.02.2018, Lesezeit 9 Min.
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In den letzten Tagen dauern die türkischen Angriffe auf den nordsyrischen Kanton an, gleichermaßen auch der heroische Widerstand. Die Türkei will in dieser Region die demokratischen Strukturen mit Hilfe der dschihadistischen Banden zerstören. Dabei wird auch das friedliche Zusammenleben der Völker anvisiert. Warum der jetzige Angriffskrieg des türkischen Staates eine Fortsetzung der bürgerlichen Vernichtungspolitik der türkischen Bourgeoisie ist wie sie vor über 100 Jahren im Genozid an den Armenier*innen ihren blutigsten Ausdruck fand.

Wir haben es geschafft, ein gemeinsames Leben mit allen Völkern hier aufzubauen. Wir stehen zu unserer Stadt. Die Türkei greift die Völker wie vor 100 Jahren an. Sie massakrieren Kinder genauso wie damals. Jetzt, nach 100 Jahren, hat der Genozid uns gefunden.

Harot Kevork, der letzte Armenier in Afrin

#StopAfrinGenocide ist ein Hashtag, der in den sozialen Medien in den letzten Tagen immer mehr verwendet wird, solange die grausamen türkischen Bombardements weitergehen. Da die türkische Armee mitsamt ihren islamistischen Banden am Boden nicht mehr weiterkommt, kommet den Luftangriffen eine immer größere Bedeutung zu. Diese dienen nicht nur dazu, die militärischen Stellungen der YPG anzugreifen, sondern auch die Bevölkerung zu töten und zu demoralisieren. Aus der Sicht des türkischen Militärs bedeuten die Luftschläge nicht nur Kollateralschäden an der Zivilbevölkerung, sondern sind auch kaltblütig einkalkuliert. Hinter diesen Bombardierungen steht die politische Botschaft an das kurdische Volk sowie aller anderen nationalen Minderheiten wie der Jesid*innen, Armenier*innen oder Aramäer*innen, dass der türkische Staat nicht nur ihre Unterwerfung, sondern die Vernichtung ihrer anstrebt.

Es ist eine Politik gegenüber den nationalen Minderheiten, wie sie sich über die gesamte Geschichte der Türkei wie ein roter Faden vollzieht. Es ist die Politik des Genozids an den Armenier*innen und christlichen Völkern, der Vertreibungen und Massaker der Pontus-Griech*innen, der Massenmorde und blutigen Niederschlagungen gegenüber den Alevit*innen und Kurd*innen. In diesem Sinne verwundert auch nicht die enge Zusammenarbeit mit barbarisch-islamistischen Milizen, die in der Türkei zuvor ausgebildet und hochgerüstet wurden. Sie sind für die Türkei der ideale Bündnispartner, um die Vernichtungspolitik fortzusetzen. Der Einsatz von Napalm sowie von Streubomben oder auch die Bomabrdierung des wichtigen Maidanki-Staudamms sind die Indizien eines gewollten Massenmordes seitens des türkischen Staates.

Angefangen mit der Herrschaft der Jungtürk*innen 1908, aus denen später die kemalistische Partei entstehen sollte, erblicken wir bei dem jüngsten Angriff auf Afrin die hässliche Fratze der türkischen Bourgeoisie, die zur Erhaltung ihrer Herrschaft über die nationalen unterdrückten Völker und der Arbeiter*innenklasse eine aggressive nationalistische Politik betreibt. Es ist kein Zufall, dass der Genozid an den Armenier*innen 1915 unter einem bürgerlichen Regime stattfand und einen qualitativen Unterschied zu den Massakern unter der Zeit des Blutsultans Abdul Hamid II. aufweist. Der Genozid 1915 zielte in den Städten darauf ab, die armenische Bourgeoisie und die Kleinbourgeoisie auszulöschen sowie die politische Intelligenz der Armenier*innen zu vernichten, welcher damals eine Avantgarde-Rolle zukam und die zum Sozialismus neigte. Auf dem Land zielte der Genozid darauf ab, die armenische Landbevölkerung zu vertreiben beziehungsweise zu massakrieren, um sie dann den türkischen und kurdischen Bauern*Bäuerinnen zur Verfügung zu stellen — natürlich unter der eisernen Kontrolle des türkischen Staates, was besonders die Alevit*innen und Kurd*innen nach der Staatsgründung der Türkei 1923 zu spüren bekamen. Damals wurde eine Reihe von Massakern an ihnen verübt, deren trauriger Höhepunkt Dersim 1937/38 bildet, als infolge eines Aufstands bis zu 70.000 Angehörige der nationalen unterdrückten Völker ermordet wurden.

Die Zusammenarbeit des türkischen Staates mit den islamischen Gruppen bei der Vernichtung der nicht-türkischen Völker und der nichtsunnitische Bevölkerung hat eine Tradition. Bei dem Völkermord an den Armenier*innen 1915 hat die jüngtürkische Staatsführung mit dem islamischen Glauben Propaganda betrieben, dass die Ungläubigen zu töten und deren Güter und Frauen als Kriegsbeute in Besitz zu nehmen legitim sei. Die Welt war schockiert von der Barbarei des IS, während die Armenier*innen und Christ*innen wie die Aramäer*innen diese Barberei bereits 1915 in voller Wucht selbst erleben mussten. Die Türkei mobilisiert wieder islamische Banden, um das mögliche Verbrechen gegen die dortige Bevölkerung später auf diese Gruppen abzuschieben. Auch heute sieht die Türkei den Krieg gegen Afrin als einen Krieg gegen Ungläubige an.

Damals wie heute

Diese Politik wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt, sodass die Geschichte der Alevit*innen und Kurd*innen gekennzeichnet ist von tragischen Daten, die sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben: Maras 1978, Corum 1980, Sivas 1993 oder Gazi 1995 sind die Eckdaten grauenvoller Massaker, die auch schon damals in Verbund mit islamistischen Banden seitens des türkischen Staates nicht nur toleriert, sondern gefördert wurden. Immer mit dabei waren auch die faschistischen Kräfte der Grauen Wölfe, die wie beim Massaker in Maras 1978 die Angriffe sogar selbst anführten und alevistische Viertel angriffen, wobei 18 Menschen starben. Das Erdoğan-Regime nahm willig diese Geschichte der Massaker auf und führte bezüglich des armenischen Genozids nicht nur die Leugnung weiter, sondern protegierte auch weiterhin die Verantwortlichen der genannten Massaker, deren weitere Gemeinsamkeit ist, dass sie auch explizit gegen Linke gerichtet waren.

In rhetorisch-propagandistischer Hinsicht kam seit dem Krieg gegen die PKK Mitte der 1980er Jahre auch der Verweis auf den Kampf des türkischen Staates gegen den „Terrorismus“. Da die PYD eng mit der PKK verbunden ist, richtet sich auch der jüngste Angriff auf Afrin gegen den „Terrorismus“. Der türkische Staat will mit diesem Angriff deutlich machen, dass er nicht gewillt ist, selbst an seinen Außengrenzen die fortschreitende Selbstorganisierung- und verwaltung national unterdrückter Völker zuzulassen. Die Kontinuität der Massaker zieht sich durch die gesamte türkische Geschichte also nicht nur innerhalb des Landes in den kurdischen oder alevitischen Vierteln, sondern auch auf die Nachbarländer Syrien und Irak, wo vor allem über die Luftwaffe die Stellungen der PKK und PYD bombardiert werden.

Die Allianz der regulären türkischen Streitkräfte mit islamistischen Milizen ist auch heute ein charakteristisches Merkmal, was den Angriff auf Afrin betrifft. Unter dem billigen Deckmantel der „Freien Syrischen Armee“ wurde ein Angriff vollzogen, der in Wahrheit Bündnispartner wie die Ahrar Al-Sham oder die Fatah-Al-Scham-Front beinhaltet, die Al-Quaida entspringen … oder manchmal direkt aus dem Islamischen Staat.

Immer wieder spielte dabei der Dschihad eine wichtige Rolle, die nicht nur heute gegen Afrin, sondern auch beim Genozid gegen die Armenier*innen ausgerufen wurde – damals wie heute von Vertretern der (jung-)türkischen Regierung.

In diesem Dschihad ist der türkische Staat gerade dabei eine Blamage zu erfahren und am Widerstand zu scheitern. Ähnlich erging es ihm auch 2015/16 in den nordkurdischen Städten, als sie trotz wochenlanger Bombardierungen und Artillerie es nicht schafften, die Stellungen der YPS in Sur oder Nusaybin einzunehmen. Murat Karayilan bewertete dies in einem kürzlich veröffentlichten Interview folgendermaßen:

Es [Das türkische Militär] hat ein Nisêbîn-Syndrom erlebt. Alle Soldaten, die dort gekämpft haben, sind krank, viele sind verrückt geworden und in Krankenhäuser eingeliefert worden. Viele sind von der Front geflohen und haben ihren Dienst quittiert. Und wann konnten sie in Nisêbîn eindringen? Nicht nur in Nisêbîn, wann konnte sie in Şirnex, Cizîre und Sûr eindringen? Erst dann, als sie gesehen haben, dass den Widerstandskämpfer*innen die Munition ausgegangen war, als keine B-7 Raketen und kein Sprengstoff mehr da war, dann sind sie mit Panzerfahrzeugen reingegangen.

Im Grunde genommen sind diese Fälle nichts neues. Auch der heroische Widerstand in Afrin zeigt, dass die türkischen Soldat*innen und ihre islamistischen Banden auch deswegen nicht weiter vordringen können, weil sie keine Basis in der Bevölkerung haben. Neben einer schlechten Kriegstaktik basiert die Invasion auf der mechanischen Rechnung, wonach überlegenes militärisches Equipment automatisch einen Sieg garantieren. Dem ist aber nicht so. Die unterdrückten Völker haben sich trotz aller strategischen Schwächen der YPG um ihr Banner gesammelt und sind geeint durch den Willen, den türkischen Angriff zurückzuschlagen – geeint durch die Geschichte der Völkermorde, Massaker und Vertreibungen.

Aus dem Widerstand gegen den türkischen Staat entfacht die Diskussion über den Grund der Kontunität dieser türkischen Gewalt. Auf der einen Seite sehen Historiker*innen wie Talin Suciyan den Grund dieser Aggresion in einer „Postgenozid-Gesellschaft“, in der die Leugnug zur aktiven Unterdrückung der demokratischen Ansätze führt. Der Soziologe Ismail Besikci hingegen betrachtet den kolonialen Status Kurdistans als Schlüssel, wobei es eigentlich gar kein Status hat und immer wieder durch die Besatzerstaaten und imperialistischen Mächten unterdrückt wird. Nach der großen Ernüchterung, dass die Türkei sich demokratisieren lässt, wenn sie wirtschaftlich stärker wird, herrscht heute in weiteren Kreisen die Erkenntnis, dass die Türkei sich nicht einfach demokratisieren lassen kann, solange Kurdistan als Kolonie ein Teil der Türkei bleibt, solange der Genozid mit seinen materiellen Folgen nicht anerkannt wird. Die türkische Bourgeoisie, die aus dem Genozid an den Armenier*innen geboren wurde und Kurdistan als Kolonie unterdrückt, ist nicht an einem solchen Weg interessiert. Es ist daher kein Dialog mit der türkischen Bourgeoisie notwendig, wie die SPD ihn im Bundestag proklamiert, sondern die Unterstützung des Widerstandes in Afrin gegen den türkischen Krieg.

Epilog:

Auch wenn Harot Kevork der letzte Armenier in Afrin ist … Der Genozid wird uns nicht finden, weil unser Widerstand erfolgreich sein wird.

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