Der Fall Tareq Alaows: Fragen zu Repräsentation, Staat und Regierung

11.04.2021, Lesezeit 6 Min.
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Quelle: Grüne Dinslaken, Pressefoto.

Ein Kommentar zu den Kandidaturen von Tareq Alaows und Shoan Vaisi für den Bundestag, zur Frage der politischen Repräsentation von Geflüchteten und zur antirassistischen Strategie im Wahlkampf.

Tareq Alaows, über dessen Kandidatur KgK berichtete, zog seine Bundestagskandidatur für die Grünen zurück, weil er rassistische Drohungen erhalten hatte, die seine Sicherheit und die seines unmittelbaren Umfeldes betreffen. In den sozialen Medien und auch von Seiten unterschiedlicher Politiker:innen  wie Heiko Maas, Katrin Göring-Eckhardt, Erik Marquardt oder Aminata Touré wurde ihm daraufhin Solidarität zugesichert. Viele Grüne-Abgeordnete setzten Tweets ab.

Der Vorgang ist in der BRD so einmalig wie schockierend: Ein Bundestagskandidat wird durch Terrordrohungen von seiner Kandidatur abgehalten. Die Häme von rechts ließ nicht lange auf sich warten, Bernhard Zimniok (MdEP, AfD) kommentierte: „Herrlich.“ Die Androhungen von Gewalt haben einen klaren politischen Inhalt der politischen Rechten, die einen Geflüchteten im Bundestag nicht dulden wollen – und deren bewaffneter Arm bereit ist, ihn mit Gewalt zu verhindern, wie zahlreiche terroristische Anschläge auf Migrant:innen und Linke beweisen. Der Fall Tareq Alaows geht dabei nicht lediglich um einen Abgeordneten, sondern die Rechten zielen auf den Ausschluss aller Geflüchteten von der Repräsentation in Deutschland.

Für eine unabhängige Untersuchungskommission zur Aufdeckung rassistischer Drohungen und rechten Terrors!

Wir fordern vor diesem Hintergrund die Aufklärung der rassistischen Drohungen, die Alaows widerfahren sind: Wer steckt dahinter, welche Beziehungen zu politischen Organisationen und zum Staat gibt es? Dazu ist eine vom Staat und der Polizei unabhängige Untersuchungskommission notwendig. Dass eine Untersuchungskommission unabhängig ist, ist zentral, weil es Polizei und Geheimdienste selbst sein könnten, von denen die Bedrohungen ausgehen, wie die zahlreichen Skandale der letzten Jahre um NSU und NSU 2.0 zeigten. Teil einer solchen Untersuchungskommission müssen sein: Repräsentant:innen migrantischer und geflüchteter Organisationen; Betroffene von Drohungen und rechtem Terror; selbstorganisierte Geflüchtete innerhalb und außerhalb der Lager; sowie gewerkschaftliche Vertreter:innen zur Durchsetzung von Resolutionen.

Es ist unabdingbar, dass die Gewerkschaften sich als breiteste Organisationen der multiethnischen Arbeiter:innenklasse in Deutschland für eine solche Aufklärung einsetzen. Und dafür, dass unabhängige Untersuchungskommissionen Zugriff auf Akten und Kommunikation des Staates erhalten, besonders der Polizei und der Geheimdienste. Solche Kommissionen sind auch in weiteren Fällen des angedrohten und erfolgten rassistischen Terrors notwendig, sowie zur Aufarbeitung der zahlreichen Vorfälle in Polizei, Militär und Geheimdiensten – die sich unmöglich selbst kontrollieren und sanktionieren werden.

Der politische Inhalt von Repräsentation

Diese Schritte sind notwendig, weil eine vermehrte Repräsentation von geflüchteten Menschen (wie sie Tareq Alaows als Ziel hatte) in bürgerlichen Parteien wie den Grünen nicht ausreicht, um für die Rechte und Antidiskriminierung von geflüchteten Menschen zu kämpfen. Tatsächlich ist aber die öffentliche Diskussion, die an den Fall Tareq Alaows angeschlossen wird, auf Forderungen nach vielfältigeren Parteien und auf Fragen einer antirassistischen Repräsentationspolitik reduziert. Es stimmt, dass wir, betrachten wir die Politiker:innen des deutschen bürgerlich-kapitalistische Staates, in einer realen Repräsentationskrise stecken. Denn die Lebensrealitäten eines großen Teils der Bevölkerung bilden sich in den Parteien nicht ab. Aber die Repräsentationskrise der Parteien besteht nicht nur in Bezug auf die personelle Besetzung ihrer Mandate, sondern auch auch in Bezug auf ihre politischen Inhalte.

Die Grünen vertreten nicht die Interessen der Arbeiter:innen und der am meisten unterdrückten Teile der Gesellschaft, was sich an ihrer konkreten Politik zeigt: Die Partei schafft es nicht, eine einheitliche Position zur Aufnahme geflüchteter Menschen nach dem Brand in Moria zu finden, blockiert Verbesserungen des Bleiberechts von geflüchteten Menschen, die von Grünen regierten Länder schieben wöchentlich ab. Daneben sind die Grünen mitverantwortlich für die Einführung von Hartz IV sowie die ersten Kriegseinsätze der BRD und stehen für einen Strukturwandel auf Kosten der Arbeiter*innen. Die Repräsentationskrise, von der wir sprechen, kann nicht durch eine Erneuerung der kapitalistischen Regierung, also durch eine diversere Besetzung, gelöst werden.

Antirassismus und Regierungsbeteiligung

Als Reaktion auf Alaows Rücktritt hat sich Shoan Vaisi als Bundestagskandidat für die Linken in Nordrhein-Westfalen aufstellen lassen. In dem Land, dessen Delegierten der Linkspartei Sahra Wagenknecht auf Platz 1 der Liste für den Bundestag wählten, welche ihr chauvinistisches Programm parallel in Buchform vorstellte. Vaisi, der als Geflüchteter aus dem Iran nach Deutschland gekommen ist, sagt in einem Interview mit Spiegel Online: „Der Staat muss gegen rechte Strukturen in den Behörden wie etwa der Polizei vorgehen“. Er fordert außerdem den Stopp von Abschiebung für alle und positioniert sich gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr. Diese Forderungen, für die Vaisi nun auf der NRW-Landesliste der Linkspartei kandidiert, sind notwendig und wir brauchen eine Diskussion, wie sie erkämpft werden können.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob eine kapitalistische Regierungsstrategie rassistisch Unterdrückte überhaupt repräsentieren kann. In den Ländern, in denen es grüne und sogar linke Regierungsverantwortung gibt, dulden diese Regierungen weiterhin rechte Netzwerke im Geheimdienst und der Polizei und setzen auf alltäglicher Basis die Polizei für eine rassistische Politik ein, zum Beispiel in Form in den sogenannten Shisha-Bar-Razzien. Wenn die sogenannten roten Haltelinien schon in den links mitregierten Bundesländern nicht funktionieren, wie können sie dann in der Bundesregierung umgesetzt werden, wo der kapitalistische Druck viel größer ist?

Um die von Vaisi aufgeworfenen Forderungen zu erfüllen, ist nicht eine Politik mit, sondern eine Politik gegen die Regierung und den Staat notwendig. Das bedeutet, dass sich eine antirassistische Kandidatur offen gegen eine Regierungsbeteiligung auf Bundesebene und die bestehenden kapitalistischen Länderregierungen aussprechen muss. Erst auf dieser Basis ist es möglich, eine antirassistische und antikapitalistische Selbstorganisierung aufzubauen.

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