Alles, was man über Sahra Wagenknechts „Linkskonservatismus“ wissen muss

21.04.2021, Lesezeit 9 Min.
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In der deutschen Linken ist ein schreckliches neues Buch in aller Munde. Wir sind alle "skurrile Minderheiten".

Es ist schwierig, sich ein Buch vorzustellen, das so viele Kontroversen ausgelöst hat, bevor es überhaupt erschienen ist. In den USA gab es immerhin das Buch von Bob Woodward, RAGE, in dem Donald Trump zugab, die Gefahren von Covid-19 herunterzuspielen… Für Deutschland ist dies jedoch kaum vorstellbar.
Das neue Buch von Sahra Wagenknecht, „Die Selbstgerechten“, erschien offiziell erst am 14. April, doch schon seit mehreren Wochen kursieren Zitate in den sozialen Medien. PDFs werden in einer spätkapitalistischen Form von Samisdat in Umlauf gebracht. Menschen kündigen ihren Austritt aus der Partei Die LINKE an, die Wagenknecht gerade zu ihrer Spitzenkandidatin in Nordrhein Westfalen nominiert hat.

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Doch was sagt Wagenknecht dazu? Die 51-jährige Politikerin, die in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) aufgewachsen ist, wirbt seit Jahren für die konkrete Idee: Wenn die Linkspartei relevant bleiben will, müsse sie aufhören, die Rechte von Einwander:innen zu verteidigen. Als die rechte Partei Alternative für Deutschland (AfD) bei der Wahl 2017 ihren bundesweiten Durchbruch feierte und die Partei die Linke stagnierte, gab Wagenknecht eine einfache Erklärung: „Wir haben es uns in der Frage der Flüchtlinge zu einfach gemacht.“ Ihrer Meinung nach müsste Deutschland endlich über die von Flüchtlingen verursachten Probleme diskutieren, als ob irgendetwas anderes seit 2015 diskutiert werden würde.

Im Programm ihrer Partei steht die Forderung nach „offenen Grenzen“. Doch Wagenknecht ist überzeugt, dass dies – und nur dies – der Grund ist, weshalb die Partei im Osten, wo sie einst eine Volkspartei war, an Rückhalt verliert.

Was Wagenknecht schreibt

In ihrem neuen Buch entwickelt Wagenknecht dies zu einem umfassenden Weltbild. „Die Selbstgerechten“ ist eine 345-seitige Hetzschrift gegen das, was sie „Identitätspolitik“ und „Linksliberalismus“ nennt. Sie beansprucht, ein „Gegenprogramm für Gemeinsinn und sozialen Zusammenhalt“ anzubieten. Folgende zwei Zitate sollen ihre Sicht auf „Lifestyle-Linke“ verdeutlichen:

Linksliberale nehmen für sich in Anspruch, für Vielfalt, Weltoffenheit, Modernität, Klimaschutz, Liberalität und Toleranz zu stehen. Allem, was nach linksliberalem Verständnis rechts ist, wird hingegen der Kampf angesagt: Nationalismus, Rückwärtsgewandtheit, Provinzialität, Rassismus, Sexismus, Homophobie, Islamophobie. Glaube, Nation und Heimat sind den Linksliberalen Chiffren für Rückständigkeit. (S. 52)

Die Theorie hinter dem geschilderten Ansatz nennt sich Identitätspolitik. Sie steht imZentrum des Linksliberalismus und liefert praktisch das Grundgerüst, auf dem das linksliberale Weltbild beruht. Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein. (S. 53/54)

Wie viele Kritiker:innen aufgezeigt haben, ist Unterdrückung im Deutschland des 21. Jahrhunderts mehr als nur eine „Marotte“. Oury Jalloh wurde, weil er Schwarz war, in einer Dessauer Polizeiwache vom Staat ermordet – war dies auch nur eine „Marotte“?

Arbeiter:innen vs. Wagenknecht

Wagenknecht behauptet, sie stehe für die Arbeiter:innenklasse. Allerdings verwendet sie den Begriff genauso wie Trump, wonach Arbeiter nur weiße Männer ohne Hochschulabschluss sind. Aber die real existente Arbeiter:innenklasse in Deutschland ist, wie in den USA, multiethnisch. Davon mit eingeschlossen sind Menschen ohne Aufenthaltspapiere, Geflüchtete, Queers, Transarbeiter:innen… Es ist sehr befremdlich, dass Wagenkencht behauptet gegen “Identitätspolitik” zu stehen und dann Religion und Nationalismus hochhält. Ist das nicht eine Art deutschnationale Identitätspolitik?
Es ist dabei schwierig jemanden zu finden, der als Vertreterin der weißen, männlichen, weniger gebildeten Arbeiter:innenklasse eine schlechtere Figur als Wagenknecht macht.

Eine Millionärin, die in einer Villa lebt, einen Doktortitel in Wirtschaft hat und den Großteil ihrer Zeit im Bundestag und in Talkshows verbringt. Kürzlich wurde sie auch noch auf der Geburtstagsparty des konservativen bayerischen Politikers Peter Gauweiler gesichtet. Weitere Gäste waren der bayerische Ministerpräsident Markus Söder und prominente AfD-Mitglieder. Eine wahre geknechtete Arbeiterin!
Wagenknecht baut ihr politisches Profil auf Attacken gegen im Niedriglohnsektor Beschäftigte und prekäre Jobs auf, welche von der Sozialdemokratie und den Grünen in den frühen 2000er Jahren eingeführt worden sind. Innerhalb ihrer Kritik an der Arbeitsmarktreform, fügt sie an, dass dies “nur durch die hohe Migrationsrate Deutschlands möglich war.” Sie macht Einwander:innen auch für den Niedergang der Gewerkschaften verantwortlich, da „das linksliberale Narrativ von dem Bekenntnis zu Kosmopolitismus und Vielfalt dazu führt, dass [die Gewerkschaften] es kaum wagen, die Beschäftigung von Einwanderern auch nur zu problematisieren.“

Vom Stalinismus zum Ordoliberalismus

Wagenknecht stand einst auf der linken Seite der Vorgängerpartei von Die LINKE, der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), direkter Nachfolger der SED. 2001 veröffentlichte die PDS zum 40. Jahrestag des Mauerbaus eine Art mea culpa. Wagenknecht trat im Namen der kommunistischen Plattform der PDS in Talkshows auf und verteidigte die Mauer. Die Medien liebten sie, weil sie als eine recht junge Frau bereit war, im Namen einer Partei, die überwiegend aus alten Männern bestand, bewusst provokante Dinge zu sagen.
Sie blieb eine selbsternannte Kommunistin, als die PDS zu der Partei Die LINKE wurde. Sie hat sich nie als Antirassistin profiliert, sich aber auch nie gegen das internationalistische Programm der Partei gewandt. Die Verbindung zu Oskar Lafontaine, dem ehemaligen sozialdemokratischen Minister und Gründer der LINKEN, scheint ihr Denken verändert zu haben. Lafontaine war einst sozialdemokratischer Ministerpräsident des Saarlandes und Vorreiter in Sachen rassistischer Politik. Bei der Abschaffung des Asylrechts im Grundgesetz Anfang der 1990er Jahre war er eine Schlüsselfigur. Mit dem Verlassen der SPD in den 2000er Jahren schwor Lafontaine vielen seiner früheren neoliberalen Politiken ab. Seinen Rassismus verteidigte er mit Aussagen darüber, dass deutsche Arbeiter sich gegen Fremdarbeiter zur Wehr setzen müsste, konsequent weiter.

Etwa 2016 begann Wagenknecht, sich für den deutschen Nationalismus einzusetzen. Wo sie früher den Stalinismus der DDR verteidigte, vertritt sie heute die Idee, dass die „soziale Marktwirtschaft“ und  West Deutschlands „Ordoliberalismus“ der 1950er Jahre (die Variante des ökonomischen Liberalismus, in welcher der Staat interveniert, sodass der freie Markt sein theoretisches Potential so weit wie möglich ausschöpft) das beste Wirtschaftssystem seien. Mit der Übernahme des alten SPD-Modells gewann die Überzeugung, dass eine Konzentration auf Minderheiten die traditionelle Linke zerstört.

Für eine neue Partei der Linken

Aber auch ohne, dass Wagenknecht davon weiß, die sozialistische Bewegung stand von Anfang an immer an vorderster Front im Kampf für die Rechte “skurriler Minderheiten”. August Bebel, der führende Sozialist im Reichstag des späten 19. Jahrhunderts, war der erste Politiker, der sich für die Rechte von Homosexuellen einsetzte. Karl Liebknecht, welcher die Kommunistische Partei Deutschlands gründete, und Rosa Luxemburg kämpften gegen alle Grenzkontrollen und für die Gleichberechtigung von Migrant:innen. Doch Wagenknechts Chauvinismus hat eine bestimmte Tradition in der sozialistischen Bewegung — Ihre Position ist die der Reformist:innen und Stalinist:innen.
Der wahre Grund für die Stagnation von Wagenknechts und ähnliche Parteien hat nichts mit „Identitätspolitik“ zu tun. Parteien wie Die LINKE gehen in Regierungskoalitionen und setzen neoliberale Politik um. Wir können das in Berlin sehen, wo erst die PDS und danach Die LINKE den Großteil der letzten 20 Jahre an der Regierung beteiligt waren. In dieser Position haben sie die Löhne im öffentlichen Dienst um 10 Prozent gesenkt und hunderttausende Wohnungen privatisiert, was zu explodierenden Mieten führte. Jeden Tag sind sie für Zwangsräumungen, Polizeirepressionen und Abschiebungen verantwortlich. Wenn eine Partei, die sich „Die Linke“ nennt, Teil des neoliberalen Establishments ist, erlaubt dies der extremen Rechten, sich „Alternative“ zu nennen.

Oft wird Wagenknecht als Gegnerin der „Regierungssozialist:innen“ ihrer Partei dargestellt. Doch das stimmt überhaupt nicht. Vor zwei Jahren hat sie versucht, mit SPD- und Grünen-Politiker:innen eine völlig neue Partei zu gründen, mit dem Ziel, eine rot-rot-grüne Regierung zu bilden.

Der Sturm der Kritik gegen Wagenknecht ist mehr als berechtigt. Ihre Appelle an Chauvinismus und Nationalismus sind inzwischen so offen, dass man sie nicht mehr wirklich als „Wink mit dem Zaunpfahl“ bezeichnen kann. Es sind nur noch Schläge mit dem Betonpfahl. Aber es gibt genug Politiker:innen bei Die LINKE, die von „Willkommenskultur“ und „offenen Grenzen“ reden und dann Menschen nach Afghanistan abschieben. Die Linkspartei, derzeit an drei Landesregierungen beteiligt, ist für rund 2.000 Abschiebungen pro Jahr verantwortlich. Wagenknechts Buch ist also nicht das einzige Beispiel für Rassismus in der Partei Die LINKE.

Deutschland braucht eine neue Partei der linken Bewegung, eine, die jede Abschiebung und alle chauvinistischen Ideologien ablehnt. Wir brauchen eine Partei, die gegen die Polizei, den Staat und das kapitalistische System kämpft. Wagenknecht könnte mit diesem Rechtsruck paradoxerweise dazu beitragen, dass eine solche Partei in Opposition zur Linkspartei zusammenwächst.

Dieser Artikel erschien zuerst auf englisch auf leftvoice.org

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