Wir sind empört – und wählen Piraten!

15.10.2011, Lesezeit 6 Min.
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// Langeweile trotz Krise – Berliner Abgeordnetenhauswahlen am 18. September //

Im Rahmen der Weltwirtschaftskrise werden die bürgerlich-demokratischen Regime in Europa zunehmend in Frage gestellt. Seit dem 15. Mai diesen Jahres gehen hunderttausende, vorwiegend junge Menschen im Spanischen Staat auf die Straße, weil sie empört sind und „Echte Demokratie JETZT!“ fordern (siehe Artikel dazu). Denn diese Jugendlichen, von denen fast die Hälfte arbeitslos ist, haben tatsächlich nur die Wahl zwischen Parteien, die ihre Lebensstandards weiter angreifen wollen.

Auch die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am 18. September waren ein (sehr verzerrter) Ausdruck dieser Bewegung der „Empörten“ – nämlich auf Wahlebene, bei den Piraten. In einer internationalen Situation, die von zunehmenden Konflikten geprägt ist, waren die Berliner Wahlen, wenn überhaupt, wegen des Desinteresses bemerkenswert. Die regierenden SozialdemokratInnen plakatierten das Gesicht von Klaus Wowereit, aber keine einzige politische Losung – und konnten mit 28,3% wieder größte Partei werden. Doch die SPD hat die Wahl genauso verloren wie alle anderen Parteien.

Alle Parteien verloren?

Obwohl die SPD zum dritten Mal in Folge den Bürgermeister stellen wird, verlor sie 2,5% im Vergleich zu den Wahlen im Jahr 2006. Obwohl die Grünen ein historisches Ergebnis in Berlin bekamen (17,6%), blieben sie weit hinter den Prognosen von vor einem halben Jahr (von 30% oder mehr). Die Linkspartei verlor auch fast zwei Punkte (11,7%) – wenn man bei den Ergebnissen von 2006 noch die Stimmen der WASG Berlin mit einrechnet, die damals gegen die PDS eintrat und fast 3% bekam, aber inzwischen mit der PDS zur Linkspartei fusioniert ist, dann hat die Linkspartei über vier Punkte verloren. Der Wahlkampf der RegierungssozialistInnen hatte auch ein surrealistisches Element: Nachdem sie in 10 Jahren im „rot-roten Senat“ 150.000 Sozialbauwohnungen privatisiert hatten, prangerten sie nun steigende Mieten an!

Eindeutige VerliererInnen waren die Hyperliberalen von der FDP, die mit ihren 1,8% nicht nur außerhalb des Parlaments sondern sogar hinter der faschistischen NPD (2,1%) blieben. Der FDP-Vorsitzende und Wirtschaftsminister Philipp Rösler hatte in der letzten Woche vor der Wahl versucht, mit einer Befürwortung der geordneten Insolvenz Griechenlands an der vorherrschenden Stimmung gegen die Rettungspakete anzuknüpfen. Doch dieser Last-Minute-Populismus konnte das Wahldesaster nicht verhindern.

Die einzigen GewinnerInnen waren die CDU (um zwei Punkte auf 23,4%) und die Piratenpartei. Die Piratenpartei ist eine neue und junge Partei, die vor fünf Jahren gegründet wurde, um für mehr Freiheit im Netz und, darauf aufbauend, für mehr Transparenz und BürgerInnenbeteiligung zu kämpfen. Für die Berliner Wahlen weiteten sie ihr rein auf das Internet fokussiertes Programm mit einem Mischmasch inklusive linker Forderungen aus, zum Beispiel für einen Mindestlohn, Wahlrecht für alle BerlinerInnen unabhängig von Alter oder Staatsangehörigkeit oder ein „bedingungsloses Grundeinkommen“. Ihre KandidatInnen sahen alles andere als „politikerInnenähnlich“ aus und erschienen damit besonders für Jugendliche wie eine wirkliche Alternative zu den Etablierten. Eine Untersuchung der Forschungsgruppe Wahlen ergab, dass 8 von 10 Piraten-WählerInnen nicht für die Inhalte der Piraten sondern gegen die anderen Parteien stimmten.

Aus dem Stegreif bekamen sie 8,9%, was selbst für sie eine riesige Überraschung war (sie hatten nur 15 KandidatInnen aufgestellt und bekamen 15 Sitze!). Doch diese Partei ohne Programm hat sich bereits eindeutig für die Marktwirtschaft und das Privateigentum ausgesprochen, womit es nur eine Frage der Zeit ist, bis diese Partei sich in das bürgerliche Regime integrieren lässt, wie es bereits die Grünen vor 30 Jahren vorgemacht haben. Die Piraten wollen ihre Ziele bloß auf parlamentarischem Weg erreichen. Weil sie nicht als Produkt einer außerparlamentarischen Bewegung entstanden sind, haben sie eine relativ kleine Basis (und ohnehin kein Programm), womit sie nicht eine Sekunde lang dem Sog des Parlamentarismus widerstehen können. Der Erfolg einer Partei ohne Tradition und ohne Erfahrung ist Ausdruck der Krise eines Regimes, das in den Augen breiter Teile der Bevölkerung an Legitimität verloren hat.

Revolutionäre Politik

Die größten Organisationen in Deutschland, die sich auf das Erbe von Leo Trotzki berufen, Marx21 und die SAV, arbeiten innerhalb der Linkspartei und riefen entsprechend zur Wahl der RegierungssozialistInnen auf. Dabei haben sie nicht die gleiche Kampagne geführt. Während Marx21, die hauptsächlich über den Linkspartei-Studierendenverband Linke.SDS in Erscheinung tritt, enthusiastisch Flyer verteilte und offen dazu aufrief, jede Kritik am rot-roten Senat auf die Zeit nach den Wahlen zu verschieben, blieb die SAV von der weit verbreiteten Enttäuschung über die Linkspartei nicht unberührt: Auch wenn sie ein Flugblatt zur Wahl der Linkspartei auf ihre Website stellte, wurde dieses so gut wie gar nicht verteilt. Obwohl laut den GenossInnen der SAV revolutionäre MarxistInnen die Pflicht hätten, eine kämpferische Linkspartei aufzubauen, mussten sie selbst einsehen, dass die Linkspartei in Berlin nicht ansatzweise ein Anziehungspol für ArbeiterInnen und Jugendliche darstellt. Beide Positionen sind unserer Meinung nach weit von einer revolutionären Intervention in den Wahlen entfernt, die dazu dienen soll, ein antikapitalistisches Programm zu verbreiten, wie es unsere argentinische Schwesterorganisation gemacht hat (siehe Artikel dazu).

RIO rief in einem besonderen Flugblatt dazu auf, ungültig zu wählen – da keine Partei die Interessen der ArbeiterInnen und Unterdrückten vertritt – und eine revolutionäre, sozialistische, proletarische Alternative aufzubauen. Wir intervenierten unter anderem zusammen mit CFM-Beschäftigten bei einer Wahlkampfveranstaltung der Linkspartei, wo unsere Flugschrift bei den rund 100 meist grauhaarigen TeilnehmerInnen auf ein gewisses Interesse stieß (und dann von einem Funktionär von der Bühne aus denunziert wurde). Wir haben die Wahl genutzt, um eine revolutionäre Perspektive bekannter zu machen. Doch gerade angesichts des weit verbreiteten Desinteresses konzentrierten wir unsere Kräfte auf Kämpfe gegen die jetzigen Zustände, z.B. den Streik an der Charité oder die Vorbereitung des Bildungsstreiks im November.

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