Welche Strategie braucht es gegen die Trauer über den Genozid in Gaza?

31.10.2023, Lesezeit 6 Min.
1
Ein palästinensisches Mädchen in den Trümmern nach einem einem israelischen Luftangriff am 18. Oktober 2023 in der Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens. Bild: Anas-Mohammed/Shutterstock

Die Bilder und Nachrichten aus dem Gazastreifen sind schrecklich. Viele ziehen sich aktuell zurück, um zu trauern und mit den persönlichen Verlusten klarzukommen. Doch welche Hoffnungen und Perspektiven kann es geben?

Die Nachrichten und Bilder aus Palästina sind unbestreitbar schrecklich. Es besteht kein Zweifel daran, dass sie für diejenigen, die Freund:innen, Familie und Bekannte vor Ort haben, ungleich schmerzhafter sind. Wir können mitfühlen, dass die Bilder eine (Re-)Traumatisierung und tiefe Trauer, Wut, Verzweiflung oder Hilflosigkeit hinterlassen. Doch wie sollten wir politisch mit diesen Gefühlen umgehen?

Schon bei Black Lives Matter gab es eine ähnliche Debatte in Bezug auf die Berichterstattung. Damals forderten Aktivist:innen, dass man die grausamen Bilder von der Ermordung von George Floyd nicht länger zeigt, weil sie zu einer Retraumatisierung derjenigen führen würden, die die gewaltvolle Kompenente des strukturellen Rassismus und rassistischer Gewalt täglich erleben müssen. Wir haben damals geantwortet, dass die systemischen Grundlagen dieser Erfahrungen nicht verschwinden, wenn wir die Bilder nicht zeigen. Sowohl die rassistischen Morde durch die Polizei als auch die Kriegsverbrechen des Imperialismus wohnen dem Kapitalismus inne. Während der Rassismus notwendig ist, um die Arbeiter:innenklasse zu spalten und Extraprofite durch die Überausbeutung zu erzielen, ist auch der Krieg systemisch notwendig für den Kapitalismus. Der ständige Druck, immer größere Profite einzufahren, bei gleichzeitig begrenzten Ressourcen und Absatzmärkten – auf denen dann verkauft, also Profit eingefahren werden kann – führt zu einer Konkurrenz zwischen den nationalen Bourgeoisien. Zuerst teilen sie die Halbkolonien unter sich auf, bis auch das erschöpft ist und ein imperialistischer Weltkrieg ausbricht. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Tendenz, die inneren Konflikte durch Kriege nach außen zu lösen, sich immer wiederholt. Für die Schaffung neuer Absatzmärkte und für geostrategische Interessen sind Kriege im aktuellen Weltsystem also unerlässlich.

Dieser Krieg trifft nun Palästina, brutale Kriegsverbrechen werden begangen, sogar ein Genozid wurde offen angekündigt. Wir wissen, dass all die Grausamkeiten und die Gewalt dem System in dem wir leben inhärent sind. Deshalb müssen wir uns bewusst sein: Das Volk der Palästinenser:innen wird nicht das letzte sein, was durch den Imperialismus massakriert wird. Die Gewalt, die diesem System innewohnt, so direkt zu sehen, wie sie so viele Leben nimmt, kann sich unglaublich überfordernd anfühlen. Doch statt sich in Trauer zurückzuziehen, sollten wir sie in Wut umwandeln. Wut auf das Apartheidsregime und seine Gräueltaten. Wut auf die Propaganda in deutschen Medien, die gelogen ist. Wut auf die deutschen Politiker, die Israel mit Waffen beliefern und unsere Demonstrationen verbieten. Wut auf die Rüstungsindustrie, die an dem Konflikt verdient. Wut auf die reformistischen Führungen, die sich hinter Israel stellt und dazu beiträgt, dass pro-palästinensische Stimmen mundtot gemacht werden und es Abschiebungen geben soll. Wut auf die Antideutschen, die rassistische Angriffe verüben. Wut über den Lehrer, der einen Schüler wegen einer Palästina-Fahne geschlagen hat.

Diese Wut müssen wir auf die Straße, in die Betriebe, in die Unis und die Schulen tragen. Wenn diese Trauer zu Ohnmacht führt, dann profitiert davon letztendlich Israel und der deutsche Imperialismus, weil es keine linke Antwort gibt. Doch genau diese, also eine Antwort der Unterdrückten und Ausgebeuteten, eine Antwort der Arbeiter:innenklasse, ist die einzige Lösung, wie man die kapitalistische Gewalt, die sich jetzt so schmerzhaft in Gaza zeigt, wirkungsvoll bekämpfen kann. Wir brauchen revolutionären Optimismus trotz der Trauer, sonst enden wir in Resignation und Verzweiflung. Wir wachsen in einem System auf, in dem Gewalt einen fest eingeschriebenen Platz hat. Und in dem uns immer wieder durch verschiedene Seiten signalisiert wird, dass es keinen Weg gibt, sie komplett zu beenden, wo wir Passivität und Rückzug gerade zu erlernen sollen. Denn das Bewusstsein, dass unsere Klasse die Möglichkeit hat, dieses System zu stürzen, die Gewalt zu beenden und eine lebenswerte Welt für alle zu erkämpfen, ist das, was denen, deren Aktien jetzt durch den Krieg fröhlich weiter steigen, gefährlich werden kann.

Wir müssen die uns vom System vorgeschriebene Passivität überwinden und uns als Subjekte, als die aktiv Handelnden im Kampf gegen ebendieses verstehen. Unsere Aufgabe ist es deshalb auch, die Wut in unabhängige, revolutionäre Organisation umzuschlagen, die die Ursache der Trauer beenden kann. Es reicht auch nicht, einfach nur einen Waffenstillstand zu fordern, pazifistische Hoffnungen zu schüren oder nur die Repressionen anzuklagen. Wir müssen eine alternative Strategie für den Befreiungskampf und die Solidarität aus Deutschland mit Palästina vorschlagen. Dafür dürfen wir uns keinen Millimeter an den deutschen Imperialismus und seine reformistischen Vermittlungsinstanzen anpassen.

Vielmehr müssen wir an den Orten, wo wir aktiv sind, laut werden, gegen das, was gerade passiert. Dabei müssen wir uns und den Menschen um uns herum aufzeigen, dass ein Kampf als geeinte Klasse mit den Mitteln, die wir dafür haben, möglich ist. Ein Beispiel dafür sind die verschiedenen Arbeiter:innen aus dem Gesundheitssystem nach dem Bombenangriff auf das Al-Ahli-Krankenhaus. In einer Erklärung solidarisieren sie sich mit den Opfern der Gewalt und ihren Kolleg:innen vor Ort, im Bewusstsein, dass ihre Klasse sie eint, auch wenn sie geografisch getrennt sind. Auch Hafenarbeiter:innen weigerten sich schon öfter, Waffen in Kriegsgebiete zu transportieren, unter anderem weigerten sich italienische Hafenarbeiter:innen in Livorno Waffen und Sprengköpfe nach Israel zu verschiffen.

Für ein Ende der Unterdrückung und imperialistischen Kriege müssen wir uns aktiv als diejenigen begreifen, die eine wichtige Rolle im Kampf gegen dieses System innehaben. Denn die Verzweiflung und Passivität, die durch das Erlebte so stark auf uns drückt, dient am Ende denen, die von dem ganzen Leid profitieren und kein Interesse daran haben, einen wirklichen Frieden zu schaffen.

Mehr zum Thema