Fake-News sind nur erlaubt, wenn sie von der richtigen Seite kommen

20.10.2023, Lesezeit 7 Min.
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Foto: Simon Collins / shutterstock.com

Die Berichterstattung zu Gaza wird von Horrorgeschichten dominiert: ermordete Babys, gefolterte Zivilist:innen. Doch Desinformation ist auch eine Waffe, und in diesem Krieg wird sie eingesetzt.

Im Angesicht des Ersten Weltkrieges sagte der ehemalige US-Senator Hiram Johnson, das erste Opfer des Krieges sei die Wahrheit. Der wieder aufgeflammte Nahostkonflikt macht das umso deutlicher. Während man in den westlichen Medien die Statements der israelischen Armee (IDF) ungefiltert und ungeprüft lesen kann, findet man auf Seiten wie der katarischen Staatszeitung Al Jazeera die Positionen der Hamas.

Aktuell wird in bürgerlichen Medien angesichts des Raketeneinschlag im Ahli-Arab-Krankenhaus darüber diskutiert, wessen Schuld es war. Was genau passiert ist, werden wir möglicherweise nie genau wissen. Es ist jedoch klar, dass Israel alleine in diesem Krieg mehrere Krankenhäuser und Schulen bombardierte und solche Angriffe zuvor ankündigte.

Dass Unmengen an Falschinformationen im Umlauf sind, ist allen Seiten klar. Auch soziale Medien wie TikTok müssen inzwischen härter dagegen vorgehen. Ein Problem sind hier aber vor allem Falschinformationen, die von der „falschen Seite“ kommen. Informationen von israelischer Seite werden gerne ungeprüft übernommen. Ein anderes Beispiel sind die Berichte von den angeblich 40 durch die Hamas enthaupteten Babys. Eine wahrhaft grausame und schreckliche Nachricht, sollte sie denn stimmen. Hier wurde mittlerweile besser recherchiert und wenig richtig gestellt, was es zu einem anschaulichen Beispiel über die Funktionsweise von Kriegspropaganda macht.

Keine Beweise für 40 enthauptete Babys

Auf dem offiziellen Twitter-Account des israelischen Militärs wurde ein Video vom IDF-Sprecher Jonathan Conricus online gestellt. In dem Video behauptet Conricus, die Hamas habe Säuglinge im Kibbuz Be’eri enthauptet. Das wenige Kilometer entfernte verbrecherische Massaker an einem Festival durch die Hamas, bei dem über 260 Menschen getötet wurden, wurde bestätigt. Die Meldung über die Babys ist dagegen nicht bestätigt und angesichts der fehlenden Beweise wahrscheinlich unwahr.

Trotzdem wurde diese Information von etlichen größeren Medienhäusern ungeprüft übernommen. Allein in Deutschland veröffentlichten der Tagesspiegel, die Jüdischen Allgemeine, die Frankfurter Rundschau und die BILD Artikel auf Basis dieser Informationen. Selbst der US-Präsident Joe Biden behauptete, er hätte niemals gedacht, „verifizierte Bilder von geköpften Kindern“ zu sehen. Ein Regierungssprecher stellte anschließend klar, dass den USA solche Bilder nicht vorliegen.

Einzig ZEIT-Online veröffentlichte einen verhältnismäßig neutralen Artikel, der das Zurückrudern des israelischen Militärsprecher Richard Hecht zitiert, der das Verbrechen weder bestätigen noch dementieren könne. Der Hamas-Sprecher Izzat al-Risheq dementierte den Vorfall zwar, log aber im selben Atemzug darüber, dass die Hamas keine Frauen erschossen habe. Bevor die Behauptungen seriös untersucht werden konnten, waren sie schon in aller Munde, vielfach wiedergegeben und auch zur Diskreditierung des Widerstands im Allgemeinen verwendet.

Inzwischen liegen mehr Informationen vor: Der US-amerikanische Fernsehsender CCN hat laut eigener Aussage „Hunderte von Stunden an veröffentlichtem Material durchforstet“ und „keinen Beleg“ gefunden. CNN besuchte außerdem die geplünderten Ruinen von Kfar Aza, wo die IDF laut eigener Aussage „geschlachtete“ Kinder gefunden habe. CCN fand „keine Hinweise auf enthauptete Kinder“. Die israelischen Behörden haben auch keine Fotos von dem Vorfall veröffentlicht. Das bedeutet natürlich nicht, dass es solche Vorfälle nicht gegeben haben kann. Doch die Übernahme dieser Behauptung, deren Urheber übrigens radikaler Siedler ist, als Tatsache, ohne Überprüfung oder seriöser journalistischer Einordnung zeigt, dass hinter der Berichterstattung eine politische Motivation steht. Diese fällt damit unter die Definition von Fake News. Diese sind laut dem Landesmedienzentrum Baden-Württemberg mit „unbewiesenen Behauptungen gespickt“.

Auf welcher Seite stehen die Medien?

Die PR-Strategie der IDF hat funktioniert. Mit den Angriffen auf den Gazastreifen kamen Falschinformationen in Umlauf, die die Angriff legitimieren sollten. Die westlichen Medien griffen diese auf und verbreiteten sie. Kurze Zeit später ruderten auch offizielle Stellen Israels zurück. Doch die Unwahrheiten hatten ihren Zweck zu dem Zeitpunkt bereits erfüllt, das Zurückrudern und die Klarstellungen erreichten das Publikum kaum noch. Massenhafte Richtigstellungen wurde in Deutschland nicht veröffentlicht, die Fehlinformationen bleiben also in den Köpfen der Menschen, die so empfänglicher für die militärische Aggression und einen möglichen Genozid gemacht werden sollen. Auch eine krasse Zuspitzung von antimuslimischen Rassismus wird billigend in Kauf genommen. Das Klima wird bedrohlicher, in den USA wurde ein 6-jähriger Junge mit palästinensischen Wurzeln ermordet.

Während Israels Präsident behauptet, bei den Angriffen gebe es „keine unschuldigen Zivilisten“, trifft sein Bombenterror nachweislich hunderte Kinder. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden innerhalb einer Woche im Gazastreifen mehr als 700 Kinder getötet und weitere 2.450 verletzt. Davon ist in deutschen Medien fast nichts zu lesen. Um das Wohl von Kindern alleine kann es den Journalist:innen, die so bereitwillig die Berichte über ermordeten israelischen Babys aufgriffen, also nicht gehen.

Israels Bombenterror gegen die Zivilbevölkerung wird massiv mit den Kriegsverbrechen der Hamas gerechtfertigt. Diese Verbrechen seien so schrecklich, so umfassend, dass sie quasi jedes Mittel rechtfertigen. Die Versorgung des Gazastreifen wurde massiv eingeschränkt – sogar das Wasser wurde abgestellt, Lebensmittel, medizinische Güter, Hilfslieferungen.

Gewalt an Kindern als Kriegsrechtfertigung

Ermordete Babys als Kriegsrechtfertigung sind keine neue Erfindung. Beispielsweise wurden 1990 solche Nachrichten als Kriegsrechtfertigung für den Irakkrieg genutzt. Soldaten unter dem Kommando von Saddam Hussein wären in Krankenhäuser eingedrungen, wo sie Babys aus Brutkästen rissen und hilflos sterben ließen. Diese erschütternde Erzählung spielte eine entscheidende Rolle bei der Überzeugung des US-Kongresses, den Irakkrieg zu befürworten. Später wurde durch eine gründliche Recherche des öffentlich-rechtlichen Politikmagazins Monitor aufgedeckt, dass diese tragische Geschichte von professionellen Propagandisten erfunden und verbreitet wurde.

Für die meisten Menschen gibt es kaum etwas Schrecklicheres als Gewalt an kleinen Kindern und Babys. Berichte über solche Gewalt können also eine für die meisten Menschen nachvollziehbare Rechtfertigung liefern – auch wenn die Berichte selbst letztendlich gelogen sind.

Nichts glauben, alles prüfen

Es ist unheimlich schwierig, die Lage wirklich zu überblicken und zwischen Lüge und Wahrheit zu unterscheiden. Die Ereignisse entwickeln sich schneller, als Fakten überprüft werden können. Eine gute Richtlinie ist, sich ständig zu fragen, welche wirtschaftlichen und militärischen Interessen „hinter allen möglichen moralischen, religiösen, politischen und sozialen Phrasen, Erklärungen und Versprechungen“ stecken. Wer profitiert von dieser oder jener Nachricht? Und bringt mich eine Nachricht, vielleicht besonders durch ihre emotionale Aufmachung gerade dazu, Teile des Gesamtbilds aus den Augen zu verlieren?

Schon Malcolm X wies darauf hin: „Wenn du nicht aufpasst, werden die Zeitungen dich dazu bringen, die Menschen zu hassen, die unterdrückt werden und jene zu lieben, die unterdrücken.“

Im Krieg werden schreckliche Verbrechen begangen, öffentlich zugängliche Informationen widersprechen sich oft massiv. Es ist leicht, zu spekulieren und zu moralisieren. Angesichts der starken Propaganda ist eine linke Medienkritik daher umso notwendiger. Falschinformationen, die gezielte Missgunst schüren, sind Teil der Kriegsführung, um die Massen zu verwirren und ruhigzustellen. Wir müssen sie als solche entlarve

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