Wäre Scholz ein linker Kanzler?

28.09.2021, Lesezeit 9 Min.
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Foto: paparazzza/ Shutterstock.com

Scholz wird wohl der nächste Kanzler. Im Wahlkampf versprach er zwölf Euro Mindestlohn und das Ende von Hartz IV. Ausgerechnet Scholz, Architekt der Agenda 2010. Bringt er soziale Wohltaten oder Wählertäuschung?

Olaf Scholz war als SPD-Generalsekretär unter Gerhard Schröder maßgeblich an der Ausarbeitung der Agenda 2010 beteiligt. Damit hat seine Partei den größten Niedriglohnsektor Europas geschaffen – und sich selbst von einst 40 auf unter 20 Prozent in den Umfragen geworfen. Zur Bundestagswahl versprach Scholz nun “Respekt”, “zwölf Euro Mindestlohn” und “faire Mieten”. Mit diesen Themen hat es die SPD geschafft, doch noch als Siegerin aus der Wahl zu gehen und auf 25,7 Prozent zu kommen. Würde ein Kanzler Scholz tatsächlich eine linkere Politik machen?

Eine Reform der Agenda 2010. Keine Abkehr

Schauen wir zunächst, was die Umsetzung des Wahlprogramms bedeuten würde: Bei einem Lohn von zwölf Euro kämen Vollzeit-Beschäftigte je nach Bundesland auf circa 1.480 Euro monatlich netto (bei Steuerklasse 1, nicht in der Kirche). Für zehn Millionen Menschen wäre das eine Verbesserung, die schon mal 100 bis 200 Euro ausmachen könnte. Es wäre eine wichtige Gehaltssteigerung, allerdings von einem äußerst geringen Niveau ausgehend. Auch mit zwölf Euro Stundenlohn lässt sich in einer Großstadt wie München keine Wohnung bezahlen.

Und es käme eine Rente von knapp 900 Euro raus, also Altersarmut. Daran würde auch die zuletzt von der GroKo eingeführte Grundrente nicht viel ändern. Diese wird ohnehin erst nach 35 Jahren Berufstätigkeit ausgezahlt. Vor allem Frauen, die jahrelang ohne Bezahlung Kinder großgezogen oder Angehörige gepflegt haben, fallen aus der Grundrente raus. Das Rentenniveau soll bei 48 Prozent bleiben. Zum Vergleich: 1997 waren es noch 70 Prozent.

Hartz IV will die SPD durch ein Bürgergeld ersetzen. Das Arbeitslosengeld soll länger gezahlt und Kinder besser gestellt werden. Zudem will die Partei mehr Möglichkeiten zur Weiterbildung und Umschulung schaffen. Grundsätzlich will die SPD aber wie bei Hartz eine „Mitwirkung“ von den Empfänger:innen des Bürgergeldes verlangen – damit müssen Arbeitslose auch weiterhin schlechte Jobs annehmen, um keine Strafen zu riskieren.

Zudem will die SPD Jobs fördern, die zum Tarif bezahlt werden. In der Altenpflege sollen Tarifverträge Standard werden. In ihrer rot-rot-grünen Landesregierung in Berlin hat die SPD sogar im Koalitionsvertrag 2016 versprochen, in landeseigenen Unternehmen den Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes einzuführen. Fünf Jahre später hat sie dies trotz zahlreicher Streiks immer noch nicht umgesetzt.

Um die Mieten zu begrenzen verspricht die SPD den Bau von 100.000 Sozialwohnungen jährlich – nachdem sich ihre Zahl in den letzten 15 Jahren von über zwei Millionen halbiert hat. Enteignungen wie zuletzt beim Volksentscheid “Deutsche Wohnen und Co. enteignen” in Berlin lehnt sie ab. In Regionen mit angespanntem Wohnungsmarkt will die Partei einen vorübergehenden Mietendeckel einführen, in Berlin wurde ihr Mietendeckel aber vom Bundesverfassungsgericht gekippt, ohne dass die SPD dagegen Widerstand organisiert hätte.

Das Programm der SPD verspricht damit einige Korrekturen der schlimmsten Auswüchse der Agenda 2010. Es ist aber keine prinzipielle Abkehr von dem Niedriglohn-System. Befristungen, Leiharbeit, Outsourcing und damit die Unterwanderung von Tariflöhnen, unbezahlte Praktika, geringe Ausbildungsvergütungen, Mini- und Teilzeitjobs würden weiterhin große Teile der Arbeitswelt prägen. Altersarmut und Zwangsräumungen wären nach wie vor Alltag in Deutschland.

Echte Verbesserungen oder Lügen im Wahlkampf?

Nun mag man einwerfen, dass diese versprochenen Reformen zwar unzureichend sind, aber trotzdem besser als das, was Union und FDP anbieten, die von einer Anhebung des Mindestlohnes nichts wissen wollen und dafür mit einem höheren Renteneintrittsalter liebäugeln.

Würde die SPD ihre Versprechen wirklich einhalten? 1998 war Gerhard Schröder damit in den Wahlkampf gegangen, Kohls Rentenkürzung von 70 auf 64 Prozent zurücknehmen und die Vermögenssteuer wieder einführen zu wollen. Stattdessen kamen Hartz IV und die Kriege im Kosovo und Afghanistan.

Es gibt keine Garantie, dass Scholz nicht bei den ersten “wirtschaftlichen Notwendigkeiten” soziale Angriffe starten wird. Er war jahrelang der Finanzminister der Schwarzen Null. Erst seit der Corona-Pandemie sitzt ihm das Geld lockerer, aber vor allem für das Großkapital. Hunderte Milliarden gab seine Regierung aus, um die Konzerne zu subventionieren. So wie die Lufthansa, die neun Milliarden Unterstützung und Bürgschaften erhielt und trotzdem zehntausende Beschäftigte entließ. Währenddessen mussten kleine Soloselbstständige um jeden Euro an Corona-Hilfen betteln.

In den Koalitionsverhandlungen werden ohnehin einige Versprechen geopfert werden. Die FDP wird sich vehement gegen eine Anhebung des Mindestlohnes wehren. Doch selbst wenn sich die SPD durchsetzen sollte: Es wäre eher unwahrscheinlich, dass eine neue Regierung die Vereinbarungen der Mindestlohnkommission vorwegnehmen würde. Denn diese hat ohnehin ab Juli 2022 eine Anhebung auf 10,45 Euro geplant. Zwölf Euro dürften damit frühestens Ende 2022 kommen. Je länger sich die neue Regierung mit der Anhebung des Mindestlohnes Zeit ließe, umso stärker würde das Plus von der Inflation aufgefressen.

Die Teuerung beträgt derzeit vier Prozent, der höchste Wert seit 30 Jahren. Mit der Anhebung der CO2-Steuer dürfte sie auch weiter auf einem hohen Niveau bleiben. Olaf Scholz weiß genau, dass das Leben in Zukunft teurer werden wird, vor allem auch wegen der Umstellung der Industrie. Er nennt den Umbau zu einer klimaneutralen Wirtschaft “den größten industriellen Umbau den das Land seit weit über 100 Jahren vor sich hat”. Doch soll Deutschland nach seinen Vorstellungen erst 2045 CO2-neutral sein – viel zu spät, um noch größere Umweltkatastrophen abzuwenden. Scholz hat die Dringlichkeit der heranrückenden Klimakatastrophe immer noch nicht begriffen, oder ignoriert sie einfach.

Das Programm der SPD ist trotz mancher Versprechungen keines, das die Situation von Millionen Menschen grundlegend verbessern wird. Es dient vor allem dazu, den Arbeitsmarkt so zu gestalten, dass er den Ansprüchen des industriellen Umbaus genügt. Dazu werden auch größere Entlassungen gehören, die sich heute in der Autoindustrie bereits abzeichnen.

Scholz hat in keinster Weise vor, etwas dagegen zu unternehmen – im Gegenteil hält er die Umstrukturierungen für notwendig. Seine Antwort liegt nicht darin, die Industrie zum Erhalt aller Jobs zu zwingen. Sondern er will mit einer längeren Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes einen langsamen Übergang für die Beschäftigten schaffen. Vor allem für Ältere dürfte das aber aufs Abstellgleis führen.

Die leichten Korrekturen im Niedriglohnsektor mögen aus Sicht von Scholz nötig sein, um die Renten- und Sozialkassen stabil zu halten. Denn an die Profite der Konzerne will er nicht rangehen. Sein Vorschlag einer Vermögenssteuer von ein bis zwei Prozent würde kaum die Geschenke wieder reinholen, die seine Regierung in der Pandemie dem Großkapital gemacht hat. Zudem wird sich auch hier die FDP vehement dagegen stellen, die lieber Steuersenkungen für die Wirtschaft sähe.

Scholz wird uns nichts schenken

Mit der neoliberalen FDP werden soziale Verbesserungen kaum zu machen sein. Aber Scholz kommt das womöglich auch ganz gelegen – geplatzte Wahlversprechen kann er so auf die Koalitionspartner schieben. Gewiss muss er seiner Basis Gründe liefern, warum sie eine Ampel-Koalition eingehen sollte. Ein paar kosmetische Korrekturen der Agenda 2010 dürften dabei schon rauskommen. Aber grundsätzliche Verbesserungen für die Lebensbedingungen der Massen sind nicht zu erwarten.

Denn Scholz Fokus wird darauf liegen, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in der internationalen Konkurrenz zu stärken. China und die USA sind in einigen technologischen Feldern weit voraus. Scholz Industrieprogramm zielt darauf ab, diesen Rückstand aufzuholen. Dazu wird auch gehören, in manchen Sektoren wie Stahl, Energie, Elektronik und Automobil harte Umbrüche zu gestalten und die Produktivität zu erhöhen auf Kosten der Beschäftigten.

Scholz wird keine Wohltaten verteilen – ganz gleich ob mit oder ohne FDP. Im Wahlkampf hatte DIE LINKE auf eine rot-rot-grüne Regierung gesetzt und behauptet, ein soziales Korrektiv sein zu können. Aber wäre die Regierungsbeteiligung Realität geworden, hätte sie sich vollständig der Koalitionsdisziplin unterordnen müssen. Sie hätte endgültig jede Möglichkeit verloren, bei Entlassungen, sozialen Angriffen und sogar bei Auslandseinsätzen Widerstand in der Opposition zu formieren.

Die 2020er Jahre werden neue Krisen bringen und auch größere Klassenkämpfe – selbst in Deutschland. Scholz hat als Hamburger Oberbürgermeister bereits bei den G20-Protesten bewiesen, dass er bereit ist, antikapitalistische Mobilisierungen mit dem Knüppel zu beantworten. Er steht für mehr Polizei – den rechten Terror will er ausgerechnet mit einer Stärkung der Sicherheitsapparate beantworten, die eng mit den Nazis verknüpft sind.

Nein, Scholz wäre kein linker Kanzler. Er ist der Skandal-Politiker, der bei Wirecard und Cum-Ex die Finanzmafia gewähren ließ. Der in der Corona-Pandemie in der GroKo als Vize-Kanzler die Grundrechte mit außer Kraft setzte, aber gleichzeitig die Produktion laufen ließ und damit 100.000 Tote in Kauf nahm. Der mit der Agenda 2010 den größten Niedriglohnsektor Europas geschaffen hat. 20 Jahre lang hat er in den höchsten Ämtern der deutschen Politik die Interessen des Großkapitals durchgesetzt und wird dies auch in den kommenden Jahren tun. Die versprochenen zwölf Euro wird er erst liefern, wenn die Inflation die Erhöhung wertlos gemacht hat.

Heute behaupten die Parteispitzen von SPD, Grüne und FDP ein “modernes Deutschland” bauen zu wollen. Doch trotz aller sozialer und ökologischer Rhetorik wird es auch in den kommenden Jahren ein Land voller sozialer Gegensätze, Umweltzerstörung und rechtsradikaler Umtriebe sein. Die kapitalistischen Rezepte von Scholz, Baerbock und Lindner sind von gestern. Der Volksentscheid von “Deutsche Wohnen und Co. enteignen” hat hingegen gezeigt, dass Millionen von Menschen offen sind für eine radikale antikapitalistische Alternative. Wir wollen ein besseres Leben, aber Scholz wird es uns nicht schenken. Holen wir es uns selbst! Lasst uns auf die Straße gehen, streiken und uns revolutionär organisieren.

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