Union is Power – wie Arbeiterinnen das industrielle Zentrum der USA lahmlegten

14.04.2017, Lesezeit 9 Min.
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Die Entwicklung des Kapitalismus in den USA verlief nicht ohne Widerstand. Schon im frühen neunzehnten Jahrhundert kam es immer wieder zu Streiks. Während die meisten verloren gingen, boten in den 1830er Jahren die Textilarbeiterinnen von Lowell in Massachusetts ihren Bossen erfolgreich die Stirn.

Neuengland war in den 1820er Jahren zu einem ersten Zentrum der Industrialisierung in den Vereinigten Staaten geworden. Besonders die erst 1826 gegründete Stadt Lowell in Massachusetts, das „Manchester Amerikas“, bot mit dem schnell fließenden Fluss Merrimack ideale Voraussetzungen, um Textilfabriken mit Wasserkraft zu betreiben. Den hohen Bedarf an Arbeitskraft versuchten die Bosse zu decken, indem sie Mädchen und junge Frauen aus den bäuerlichen Familien Neuenglands anwarben. Diese mill girls machten den den Großteil der Beschäftigten der Stadt aus. Untergebracht wurden sie in unternehmenseigenen Wohnhäusern in unmittelbarer Nähe zu den Fabrikhallen.

Gekommen, um mit der Lohnarbeit den patriarchalen Verhältnissen des heimischen Hofes zu entgehen, und angezogen von den vielen lobenden Berichten über gute Löhne und ein vergleichsweise breites kulturelles Angebot (vor allem Büchereien und Zimmermusik), waren die Arbeiterinnen im nicht weniger patriarchalen Lowell jedoch an strenge Regeln und Moralkodizes gebunden. Um diese „Moral“ zu gewährleisten, drohte bei Verstößen die unehrenhafte Entlassung, die mit einem Eintrag in eine schwarze Liste einherging. Einmal dort vermerkt, fanden die Frauen in Lowell keine Arbeit mehr. Die Arbeitszeiten überschritten im Sommer nicht selten vierzehn Stunden täglich auch für die jüngsten Mädchen von nur zehn Jahren. Die Arbeiterinnen verdienten in Lowell zwar mehr als anderswo, doch während die Männer in den Fabriken rund einen Dollar am Tag bekamen, waren es für die Frauen im Schnitt nur 60 Cent.

Auflehnung gegen die Bosse war dennoch die absolute Ausnahme. Die Frauen blieben in der Regel nur einige Monate bis wenige Jahren dort, um danach zu heiraten. Falls die Situation nicht auszuhalten war, blieb ihnen der Weg zurück auf die heimische Farm. Die Fluktuation war beträchtlich. Doch es waren diese jungen Arbeiterinnen im industriellen Zentrum der USA, die innerhalb von zwei Jahren zweimal entschlossen streikten und Erfolge feiern konnten.

Die „Amazonen“ treten in den Streik

Auslöser des ersten Streiks (im zeitgenössischen Sprachgebrauch war von turn-outs die Rede) war eine Senkung der Stücklöhne um 15 Prozent, die am 1. März 1834 in Kraft treten sollte. Dies betraf ausschließlich die Arbeiterinnen, weil die wenigen männlichen Kollegen Tätigkeiten verrichteten, die mit Stundenlohn bezahlt wurden. Die Fabrikdirektoren in Boston reagierten damit auf einen Rückgang in den Verkäufen, niedrige Preise für Textilien und volle Lager. Sie hatten sogar eine Senkung um 25 Prozent geplant, waren aber von ihren lokalen Vertretern in Lowell vor den potentiell verheerenden Folgen gewarnt worden.

Doch auch so begann Lowell zu brodeln, als die Nachricht über die geplante Lohnkürzung die Runde machte. In den Fabriken wurde lebhaft diskutiert, man verfasste erste Petitionen und organisierte erste Treffen. An einem Freitagmorgen brach der Streik aus. Eine der Unruhestifterinnen wurde in der Hoffnung entlassen, damit die Stimmung unter den Arbeiterinnen zu beruhigen. Als sie jedoch vor der Fabrik stand, winkte sie mit ihrer Kappe und ihre Kolleginnen folgten ihr auf dieses Zeichen hinaus.

Der Boston Evening Transcript vom 17. Februar 1834 berichtete von einer Demonstration von 800 Arbeiterinnen, also rund einem Sechstel der weiblichen Beschäftigen in Lowell:

Uns wurde zugetragen, dass eine der Anführerinnen einen Baumstumpf bestieg und im Stile von Mary Wollstonecraft eine flammende Rede über Frauenrechte und die Ungerechtigkeiten der ‚Geldaristokratie‘ hielt, die einen mächtigen Effekt auf ihre Zuhörer hatte, und sie trafen die Entscheidung sich durchzusetzen, auch wenn sie dabei stürben.

Allen Beteiligten war klar, dass die Arbeiterinnen gegen alle Rollenerwartungen verstießen. Die Zeitungen und die Bosse sprachen von ihnen als „Amazonen“.

Die Frauen organisierten ihren Protest selbst, maßgeblich indem sie Petitionen verbreiteten. Diese dienten wohl dazu, sich über die eigenen Zahlen bewusst zu werden, aber auch um den Bossen ihre Entschlossenheit zu demonstrieren. Unter der Überschrift „Union is Power“ bezogen sich die Frauen stark auf ein revolutionär-republikanisches Erbe. Sie betrachteten sich „im Geiste ihrer Patriotischen Vorfahren“ als „Töchter freier Männer“, identifizierten sich weniger mit ihrem momentanen Status als Arbeiterinnen, sondern mit ihrer agrarischen Herkunft. Die Lohnkürzung verstanden sie vor allem als Angriff eines „hochmütigen Tyrannen“ und „verkleideter Briten“ auf ihre neu gewonnene Unabhängigkeit. Diese Erzählweise war nicht ungewöhnlich in den Arbeitskämpfen der jungen Vereinigten Staaten. Die jungen Arbeiterinnen bewiesen mit ihrer Aktion dennoch Klassenbewusstsein. Sie bedienten sich zwar einer kleinbürgerlichen Rhetorik, handelten aber kollektiv und solidarisch als Arbeiterinnen.

Trotz der entschlossenen Aktion konnte der Streik innerhalb weniger Tage gebrochen werden. Nicht genug Frauen hatten sich angeschlossen, die Bosse hatten bereits vorgesorgt und Streikbrecherinnen eingestellt. Der wirtschaftliche Schaden war zudem wegen der vollen Lager beschränkt. Einige Tage ohne Produktion konnten die Bosse leicht verkraften.

Doch obwohl der Streik scheiterte, bot er den Arbeiterinnen von Lowell eine wichtige Gelegenheit, ihrer kollektiven Macht bewusst zu werden. Er bereitete damit fortgeschritteneren Kämpfen den Weg.

„Ich kann keine Sklavin sein“

Nur zwei Jahre nach ihrem ersten Streik legten die Arbeiterinnen von Lowell ihre Arbeit im Oktober 1836 erneut nieder. Auch jetzt versuchten die Bosse wieder die Löhne zu drücken. Sie erhöhten die Preise für die Unterbringung in den Fabrikwohnungen um 12½ Cent pro Woche, um mit der Inflation Schritt zu halten. Die Löhne aber stiegen nicht.

Erneut hielten die Frauen öffentliche Kundgebungen ab und demonstrierten singend durch Lowell. In einem ihrer Lieder verliehen sie ihrem Drang nach Freiheit Ausdruck:

Oh! Ist es keine Schande, dass ein so hübsches Mädchen wie ich–
in die Fabrik geschickt werden soll, um dahinzuwelken und zu sterben?
Oh! Ich kann keine Sklavin sein,
Weil ich die Freiheit so liebe,
Dass ich keine Sklavin sein kann.

Die damals zwölfjährige Harriet Robinson erinnerte sich in ihren Memoiren an ihre Teilnahme am Streik:

Als der Tag kam, an dem die Mädchen streiken sollten, begannen diejenigen in den oberen Räumen zuerst, und es gingen so viele von ihnen, dass unsere Fabrik sofort stillgelegt wurde. Dann, als die Mädchen in meinem Raum unentschlossen herumstanden, unsicher, was sie tun sollten, sich fragten, ‚Würdest du?‘ oder ‚Sollen wir streiken?‘ und nicht eine von ihnen den Mut hatte, den ersten Schritt zu machen, begann ich zu denken, sie würden nach all ihrem Gerede nicht hinausgehen, und wurde ungeduldig, schritt vor und sagte mit kindischem Pathos: ‚Es interessiert mich nicht, was ihr macht, aber ich werde streiken, ob es sonst irgendjemand tut oder nicht!“ und ich marschierte hinaus, und die anderen folgten mir.‘

Der zweite Streik unterschied sich allerdings drastisch vom ersten. Die wirtschaftliche Situation war erheblich besser als 1834, Arbeitskraft war dringend gesucht. Dieses Mal nahmen weitaus mehr Arbeiterinnen teil, bis zu 2.000 Frauen beteiligten sich an den Kundgebungen, unterstützt von mehreren Hundert Männern und Jungen. Dies entspricht einem Drittel der weiblichen Arbeiterinnen in Lowell.

Auch die Taktiken der Frauen hatten sich verbessert. Sie konzentrierten ihre Anstrengungen auf einige Schlüsselstellen der Produktion und konnten damit die Fabriken effektiv stillstehen lassen. Der Streik dauerte erheblich länger, wobei schwer zu sagen ist, wann die Letzten an ihre Arbeitsplätze zurückkehrten.

Eine erste Gewerkschaft

Der vielleicht wichtigste Schritt aber war die Gründung der Lowell Factory Girls Association, einer Proto-Gewerkschaft, die rund 2.500 Frauen organisierte. In ihrer Verfassung bezogen sie sich zwar immer noch auf ihr republikanisches Erbe, doch zeigten sie gleichzeitig ein fortgeschritteneres Klassenbewusstsein. Sie attackierten in der Präambel nicht mehr die „Geldaristokratie“ wie noch zwei Jahre zuvor, sondern die „knauserigen, niedrigen und habgierigen Kapitalisten“ und forderten das „unbestreitbare Recht, uns zu verbünden und unsere Macht zu konzentrieren“. Sie handelten nicht mehr als „Töchter freier Männer“, sondern als industrielle Arbeiterinnen.

Ihre Verfassung bestand aus dreizehn Bestimmungen, die den demokratischen Charakter ihrer Organisation verdeutlichen. Besonders sticht der achte Artikel hervor, der einen starken antibürokratischen Impuls offenbart. Er limitiert die Dauer eines jeden Amtes auf ein Jahr bei jederzeitiger Abwählbarkeit „aus gutem Grund“.

Die noch schwache Organisation überlebte den Streik nicht, wobei wir die Gründe hierfür nicht kennen. Es ist aber sicherlich dieser verbesserten Organisierung zu verdanken, dass dieses Mal Zugeständnisse gewonnen werden konnten. So wurden in einigen Firmen die Preiserhöhungen zurückgenommen. In einer Zeit, in der die allermeisten Streiks verloren gingen, ist das eine bemerkenswerte Ausnahme, die auf die Erfahrungen des Streiks von 1834 zurückzuführen sind.

Mit dem Ende des Streiks gaben die Arbeiterinnen von Lowell keineswegs klein bei. Vielmehr waren damit die Grundlagen gelegt für die erste Frauengewerkschaft der USA, die Lowell Female Labor Reform Association, die in den 1840ern eine wichtige Rolle im Kampf für die Vierzigstundenwoche spielte.

Auch für die Frauenbewegung heute können die Streiks der Arbeiterinnen von Lowell inspirierende Beispiele des Widerstandes sein. Im Laufe des vergangen Jahres und am internationalen Frauenkampftag am 8. März haben arbeitende Frauen die Waffe des Streiks wiederaufgenommen. Die Wichtigkeit der Organisation ist nur eine wertvolle Lektion der Kämpfe in Lowell.

Literatur zum Thema

Dublin, Thomas. Women at Work. The Transformation of Work and Community in Lowell, Massachusetts, 1826-1860. New York: Columbia University Press, 1979.

Robinson, Harriet H. Loom and Spindle or Life Among the Early Mill Girls with a Sketch of the “Lowell Offering” and some of its Contributors. New York and Boston: Thomas Y. Crowell & Company, 1898. Online abrufbar.

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