Mein linker, linker Platz ist frei: Querdenken nicht die Opposition überlassen

19.02.2022, Lesezeit 10 Min.
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Foto: maoyunping / shutterstock.com

Vor allem Rechte fallen aktuell auf der Straße auf. Dabei bietet die Gesundheits- und Sozialpolitik der Regierung genügend Gründe für linke Proteste.

Mit Omikron änderte die Regierung ihre Pandemiepolitik und setzt jetzt auf Durchseuchung, besonders über die unsichere Öffnung von Schulen, aber auch über unzureichende Hygienebedingungen in den Betrieben. Als Korrektiv schlägt die Ampel-Regierungskoalition die Impfpflicht vor. Durch sie sollen die Auswirkungen nicht so schlimm werden, nicht so viele Menschen sterben wie ohne Impfung. Dazu erlässt sie Einschränkungen und Repressionen gegen Ungeimpfte. Diese reichen von monatelangen Zugangsbeschränkungen zu Einkauf, Freizeit und Kultur, die erst in den kommenden Wochen langsam aufgehoben werden sollen, bis hin zur Impfpflicht mit Drohung des Arbeitsplatzverlustes ohne ALG-I-Anspruch in der Pflege. Das ist ein zweifelhaftes Angebot an die Bevölkerung.

Währenddessen belässt die Bundesregierung entgegen vorher gemachter Versprechen der Grünen die Impfpatente in privater Hand, nachdem Wirtschaftsminister Habeck sich mit der Pharmaindustrie abgesprochen hat. Damit sabotiert die Regierung die internationale wirkungsvolle Bekämpfung der Pandemie im Profitinteresse der Konzerne. Und auch in Deutschland selbst wird der Kampf sabotiert: Die Ampel ändert nichts an den Bedingungen der Pflege, besonders am Personalnotstand, und betrügt die Beschäftigten noch um ihre Corona-Boni. Selten enttäuschte ein Minister so schnell wie Lauterbach – was angesichts seiner Vergangenheit als Befürworter von Klinikschließungen und der Neoliberalisierung der Gesundheit aber eigentlich keine Überraschung darstellt.

Sichtbar gegen diese absurde Politik und das offensichtliche Versagen der alten und neuen Regierung stellen sich bislang ausgerechnet die Demonstrationen und „Spaziergänge“ von Querdenker:innen und anderen Demonstrant:innen, die unter der Führung der politischen Rechten auf die Straße gehen. In diesem Beitrag unseres Magazins schlagen wir ein linkes Programm vor, um zugleich gegen die falsche Regierungspolitik und das Erstarken einer rechten Bewegung zu mobilisieren. Denn eine der größten Gefahren in der aktuellen Situation besteht darin, dass in die Opposition zu gehen künftig bedeutet, sich der Rechten anzuschließen.

Querdenker:innen: Kleinbürgerliche Interessen, irrationale Ideologie und soziale Demagogie

Schon seit fast zwei Jahren gehen sogenannte Querdenker:innen auf die Straßen und formieren sich in den sozialen Netzwerken, um gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung zu protestieren. Sie haben eigene Publikationen, wie die Zeitung „nicht ohne uns“, die sich mit dem Philosophen Giorgio Agamben brüstet, ohne dass dieser wirklich mit ihr zu tun hätte. Sie kommunizieren in tausenden Telegram- und Facebook-Gruppen, die stark von der organisierten Rechten gesteuert und beeinflusst werden. Die Teilnehmer:innen der Proteste sind aber nicht ausschließlich rechte Rattenfänger:innen, sondern das Phänomen geht zumindest teilweise  aus einer Unzufriedenheit der Bevölkerung hervor, deren Programm diffus, aber nicht zwingend rechts ist. Dieser Teil der Bewegung ist der politisch interessantere und wichtigere.

Dass die Bewegung sich nicht in Esoteriker:innen und Rechten mit antisemitischen Verschwörungsmythen erschöpft, die zweifelsfrei einen großen Einfluss haben und an vielen Orten führend sind, zeigt sich an der Größe und der flächendeckenden Verbreitung der „Spaziergänge“. Im Januar beteiligten sich wöchentlich bis zu 380.000 Teilnehmer:innen, besonders in vielen mittleren und kleineren Orten. Ihr materieller Ausgangspunkt ist ein Aufbegehren von Teilen des Kleinbürger:innentums, wie kleiner Laden-Inhaber:innen, die sich zum Teil in seiner Existenz bedroht sehen, deshalb für die Öffnung plädieren und bereit sind, dafür Menschenleben zu opfern. Durch die ebenso unnötige wie repressive Impfpflicht, aber auch den endlosen Zickzack und die falschen Versprechungen der Regierung, geht die Bewegung inzwischen weit über diese Basis hinaus.

Im November 2020 führte ein Team um Oliver Nachtwey an der Universität Basel die Studie „Politische Soziologie der Corona-Proteste“ durch. Auch wenn diese Studie schon über ein Jahr alt ist, gibt sie Anhaltspunkte, um welche Menschen es sich in der Basis der Querdenker:innen in Deutschland, Österreich und der Schweiz handelt. Die Ergebnisse der quantitativen Untersuchung weisen auf eine Rechtsentwicklung der Teilnehmer:innen der Demos und „Spaziergänge“ während der Pandemie hin. Gefragt nach ihrem ehemaligen und zukünftig erwartbaren Wahlverhalten bei den Bundestagswahlen zeigt sich, dass die Personen zwar ursprünglich eher links eingestellt waren (18 Prozent wählten in der letzten Bundestagswahl DIE LINKE und 23 Prozent die Grünen), aber nun nach rechts rückten. Statt 15 Prozent der Befragten gaben 27 Prozent an, bei der nächsten Bundestagswahl die AfD zu wählen.

Die Bewegung verdankt ihren Erfolg aber nicht dem überzeugenden Programm der Rechten, die Öffnungs-Interessen des Kleinbürger:innentums mit irrationalen esoterischen Gedanken und reaktionären Mythen mischt. Sondern sie ist erfolgreich, weil sie beansprucht, eine Opposition gegen die irrationale und repressive Regierungspolitik zu sein. Diesen Platz lässt die politische Linke leer. Trotz allem findet die größte Durchseuchung aktuell nicht durch Querdenker:innen statt, sondern durch die Regierung selbst, wie die Hebamme Charlotte Ruga auf einer Gegenkundgebung zu den Querdenker:innen in München feststellte.

Die Regierungsparteien und ihre Jugendorganisationen verteidigen ihre eigene Politik und machen die angeblich impfunwillige Bevölkerung und Querdenken für das eigene Versagen verantwortlich, während sie nicht willens sind, Profite im Gesundheits- und Pharmawesen sowie in der Industrie im Interesse der Gesundheit einzuschränken. Und auch die im Bund oppositionelle Partei DIE LINKE stellt sich weitgehend hinter die Ampel und setzt die verfrühte Durchseuchungspolitik selbst mit um. Der Vorstoß für die Zugangsbeschränkung von PCR-Tests kam aus dem von der LINKEN mitregierten Berlin. Auch ein klares Bekenntnis gegen Repressionen, wie Entlassungen durch eine Impfpflicht in der Pflege, sucht man von DIE LINKE vergebens – ganz zu schweigen von Mobilisierungen gegen die Regierungspolitik.

Ein linkes Gegenangebot und eine strategische Frage zur Regierung

Innerhalb der politischen Linken gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen, wie die Bewegung der „Spaziergänge“ zu charakterisieren ist, und damit auch darüber, wie der politische Umgang mit ihr sein sollte. Die Online-Zeitung Soziale Politik und Demokratie (ein linkes Netzwerk innerhalb der Sozialdemokratie) sieht die Querdenker:innen als Ausdruck eines Volkswiderstands, einer Volksbewegung, in den „politisch und gewerkschaftlich Engagierte der Arbeiterbewegung“ eingreifen können. Diese Vorstellung halten wir für falsch und naiv, denn sie ignoriert die Führung von rechts. Auch wenn nicht alle dort Protestierenden Rechte sind und auch wenn hinter dem irrationalen Querdenken zum Teil eine berechtigte Wut gegen die Regierungspolitik stecken mag. Wer das übersieht, fällt auf rechte Demagogie herein.

Ein Beispiel für diese Demagogie ist eine Forderung von „Spaziergänger:innen“ in München: Sie forderten eine Verdopplung des Lohns in der Pflege. Dass nicht viel dahinter steckt, zeigten die Pflegestreiks letztes Jahr. Obwohl die Querdenken-Bewegung zu dem Zeitpunkt schon sichtbar war, beteiligte sie sich nicht an den Kämpfen der Pfleger:innen. Auch optisch versuchen sich die Rechten mit der Pflege anzubiedern. Doch auch vereinzelte Pfleger:innen und Spaziergänger:innen mit Krankenhauskitteln ändern das gewerschafts- und arbeiter:innenfeindliche Programm der Rechten nicht. Sobald es wieder zu Streiks kommt – wie bei der anstehenden Tarifrunde –, wird sich zeigen, dass die Linken auf Seite der Pflege-Arbeiter:innen stehen werden und die Rechten nicht. Wenn die Streiks der Krankenhausbeschäftigten über ihren Sektor hinaus eine Bewegung gegen die kapitalistische Regierungspolitik insgesamt anführen, werden sie auch die Rechten zurückdrängen.

Aber soziale Demagogien können dennoch bei einem Teil der Bevölkerung verfangen, wenn die institutionelle Linke – die Partei DIE LINKE, aber auch zahlreiche NGOs und linke Teile der Gewerkschaftsbürokratien – die Regierungspolitik der Ampel (und die eigene Regierungspolitik in den Ländern) verteidigt, statt sie anzugreifen, und selbst kein eigenständiges Programm im Interesse der Arbeiter:innen und der Mehrheit der Bevölkerung aufstellt. Ein solches Programm muss sowohl gegen sämtliche repressiven Pandemie-Maßnahmen als auch für die notwendigen sozialen Maßnahmen gegen die Auswirkungen der Pandemie kämpfen: 100-prozentige Lohnfortzahlung im Krankheits- und Quarantänefall oder im Fall nötiger Kinderbetreuung, Soforthilfen für Arbeitslose, kostenlose Kredite und Förderungen für Kleinunternehmen und ähnliches. Dazu gehört auch ein Programm für eine völlige Umgestaltung des Gesundheitssystems, begonnen mit einer massiven Einstellungskampagne in der Pflege, die mit einer Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich einhergeht, bis hin zur Vergesellschaftung des Pharma- und Gesundheitsbereichs unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten.

Solche Forderungen werden hart gesottene Rechte und Esoteriker:innen aus der Impfleugner:innen-Szene nicht überzeugen, aber darum geht es auch nicht. Es geht um Menschen, die weder prinzipiell gegen gesundheitliche Maßnahmen noch per se rechts sind, sondern die das kapitalistische Zickzack der Regierung nicht mehr mitmachen wollen. Sie erreichen wir als Linke nicht durch ständiges Wiederholen des nur moralischen Appells „Man spaziert nicht mit Nazis“, ohne ein Gegenangebot zu machen.

Dass die Gegenproteste zu Querdenken so klein sind, liegt vor allem an ihrem politischen Programm: Wie mobilisierend ist der Aufruf zur Impfung für ein Zielpublikum, das ohnehin mehrheitlich geimpft ist? Deswegen müssen die Forderungen breiter werden und wirkungsvoll gegen die Pandemie und ihre sozialen Auswirkungen vorgehen. So gibt es im Bündnis „München solidarisch“ auf unsere Initiative hin inzwischen mehr Proteste für die Freigabe der Patente. Auch das Bündnis „Gesundheit statt Profite“ in Berlin macht sich diese Forderung richtigerweise zu eigen:

marx21, eine Strömung innerhalb der Partei DIE LINKE mit revolutionärem Selbstbild, aus der die heutige Parteivorsitzende Janine Wissler stammt, schreibt richtig, dass eine linke Debatte über Ziele und Methoden der Gegenproteste notwendig ist. Sie schlussfolgern:

Sie können jedoch helfen, die schweigende Mehrheit, die im Impfen einen Akt der Solidarität (…)  sieht (…), einzubeziehen und zu gewinnen für notwendige Massenproteste. Hier ist die Linke gefragt, Gegenproteste mitzuorganisieren bzw. selbst Bündnisse für Gegenproteste zu initiieren.  (…) DIE LINKE fordert die sofortige Freigabe der Patentrechte auf die Impfmittel, eine aufsuchende Impfkampagne und einen massiven Ausbau eines staatlichen Gesundheitswesens. Gesundheit darf keine Ware sein.

Die Forderung nach Freigabe der Impfpatente ist voll zu unterstützen, ebenso die zum Ausbau des Gesundheitswesens. Das Problem ist, was marx21 nicht sagt. Sie unterschlagen, dass es nicht nur um die Fortsetzung und Ausweitung der Gegenproteste geht, sondern dass es auch eine strategische Frage ist, einen Pol gegen die Regierung aufzubauen. Es ist gerade ein „Verdienst“ der LINKEN in der Regierung, dass sie jegliche linken Proteste verunmöglichen, wie beispielsweise der Verrat am Volksentscheid zur Enteignung großer Immobilienkonzerne in Berlin zeigt. Denn DIE LINKE auf Länderebene vertritt eben genau die Regierungspolitik, gegen die es sich zu organisieren gilt. Es ist also nicht möglich, ohne Konfrontation der LINKEN eine solche Bewegung aufzubauen, die die von marx21 genannten Forderungen erkämpft, die zum Beispiel auch gegen die linke Berliner Regierung zu erkämpfen sind.

Hier verläuft eine strategische Trennlinie: Wie ist eine linke Opposition aufzubauen? marx21 meint: mit der „linken“ Regierung; wir meinen: gegen sie. Denn das Problem verschärft sich mit der Etablierung einer reformistischen Regierung: Obwohl es diese Regierung der SPD und Grünen ist, die weiterhin die Freigabe der Patente verhindert, die Testmöglichkeiten immer weiter einschränkt, über die Möglichkeit einer „Arbeitsquarantäne“ von infizierten Beschäftigten diskutiert, gibt es gerade mit dem Erstarken der Rechten auf der Straße einen wachsenden Druck, die Regierung und ihre Restriktionen als kleineres Übel und als Lösung für die Pandemie zu unterstützen. Wir wollen zum Aufbau einer Bewegung beitragen, an deren Spitze die kommenden Streiks im Gesundheitswesen um den Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes (TVöD) stehen werden. Unabdingbar dafür ist der Kampf von Arbeiter:innen um ihre Gewerkschaften als Kampforgane anstatt als bürokratische Organisationen, um die Mehrheit der Bevölkerung mit ihrem Kampf für ein nicht profitorientiertes Gesundheitssystem und soziale Verbesserungen anzuführen.

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