Kshama Sawant positioniert sich gegen Polizeigewerkschaften – was machen ihre deutschen Genoss*innen der SAV?

19.06.2020, Lesezeit 15 Min.
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Millionen von Menschen aus der Arbeiter*innenklasse wenden sich gegen die Polizei und ihre sogenannten "Gewerkschaften". Gestern stimmte in Seattle der Martin Luther King Arbeitsrat (Martin Luther King County Labor Council) für den Rauswurf von Polizist*innen. Das sozialistische Stadtratsmitglied Kshama Sawant von Seattle, das eine unglückliche Geschichte der Unterstützung von Polizeigewerkschaften spielt, konnte sich fast durchsetzen. Damit ist sie weiter gegangen als ihre deutschen Genoss*innen von der Sozialistischen Alternative (SAV). Diese fordern immer noch nicht den Rauswurf der Polizeigewerkschaft aus dem DGB.

Vor drei Wochen wurde George Floyd kaltblütig von einem Beamten der Polizei von Minneapolis ermordet. Derek Chauvin hatte zuvor schon einmal getötet, aber er wurde von seiner Gewerkschaft, der Minneapolis Police Federation, geschützt und durfte deshalb erneut töten. Da Millionen von Menschen auf die Straße gegangen sind, um gegen rassistische Polizeigewalt zu protestieren, hat sich der Hass auf Polizeigewerkschaften weit verbreitet, und selbst Liberale diskutieren über die Notwendigkeit, ihnen ein Ende zu setzen.

Ein Zusammenschuss von Gewerkschaften – darunter die Vereinigung von Flugbegleiter*innen (Association of Flight Attendants-CWA) und die Schriftstellervereinigung von Amerika, Ost (Writers Guild of America, East) – haben dazu aufgerufen, Polizeigewerkschaften aus allen Gewerkschaftsverbänden auszuschließen. In Seattle haben Arbeiter*innen für den Ausschluss der Polizei aus dem King County Labor Council protestiert – und am Mittwoch wurden die Polizist*innen rausgeworfen. Beschäftigte des Gesundheitswesens haben eine Petition gestartet, in der sie einen Bruch mit der Polizei fordern.

Dies ist eine Forderung, die Sozialist*innen schon immer erhoben haben: Schmeißt die Bullen aus unseren Gewerkschaften raus! Die Polizei ist kaum mehr als eine staatlich sanktionierte Sondereinheit bewaffneter Menschen, die die Interessen der herrschenden Klasse verteidigen. Ihre „Gewerkschaften“ sind nichts anderes als Vereinigungen zum Schutz der bewaffneten Schläger*innen des Kapitals. Die Polizei ist ein wichtiger Mechanismus zum Streikbrechen und zur Unterdrückung der Arbeiter*innenklasse und der armen Menschen. Der amerikanische Kapitalismus wurde auf der Grundlage der Sklaverei aufgebaut, und so ist die Arbeit seiner Polizei von tief verwurzeltem Rassismus geprägt.

Die sozialistische Forderung nach Abschaffung der Polizei ist populärer denn je. Kshama Sawant, Stadtratsmitglied von Seattle und Mitglied der Sozialistischen Alternative, hat die Ausweisung der Polizeibeamtengilde von Seattle gefeiert. Dies ist eine wichtige Wende für Sawant, die kein Mitglied der Demokratischen Partei und daher eine der wichtigsten unabhängigen Sozialist*innen in den Vereinigten Staaten ist.

In dieser Zeit des so weit verbreiteten Hasses gegen die Polizei hat Sawant eine enorme Verantwortung, die sozialistische Position zu erklären. Nämlich, dass Polizist*innen keine Arbeiter*innen sind, sondern vielmehr Agent*innen der Repression, deren Aufgabe es ist, die arbeitenden Menschen in Schach zu halten und die Interessen der Kapitalist*innen zu schützen. Die Polizei ist die erste Verteidigungslinie in einem gewalttätigen rassistischen System. Unglücklicherweise hat die Sozialistische Alternative und Sawant selbst in der Frage der Polizei einige Wendungen hingelegt – manchmal verteidigten sie und ihre Organisation ausdrücklich Polizeigewerkschaften, während sie zu anderen Zeiten ihre Reform forderten.

Sawant und die Polizei

Da sich die Arbeiter*innenklasse scharf gegen die Polizei und ihre Berufsverbände wendet, hat Sawant eine 50-prozentige Kürzung der Mittel für das Seattle Police Department (SPD) vorgeschlagen. Mit 409 Millionen Dollar, die im laufenden Finanzjahr an das SPD gehen, schlägt Sawant vor, dass eine zutiefst rassistische und weithin verachtete Institution 204,5 Millionen Dollar pro Jahr behält.

Sawant hat sich gegen Aufrufe zur vollständigen Entschärfung, Abschaffung oder Auflösung der Polizei ausgesprochen. Wie auf Twitter und in der Seattle-Wochenzeitung The Stranger berichtet, sagte Sawant: „Ihr werdet keinen Scheiß von mir bekommen. Jede*r Politiker*in, der sagt, dass die Polizei unter dem kapitalistischen System aufgelöst werden kann, verarscht euch“.

Und in gewisser Weise hat sie Recht: Die Abschaffung der Polizei bedeutet die Abschaffung des Kapitalismus. Kapitalismus bedeutet, dass eine unglaublich winzige Minderheit den gesamten Reichtum der Gesellschaft kontrolliert. Natürlich könnte ein solches System ohne riesige Apparate von schwer bewaffneten Personen zum Schutz dieser Minderheit niemals funktionieren.

Doch anstatt diese Gelegenheit zu nutzen, um die populäre Forderung nach Abschaffung der Polizei mit einem sozialistischen Programm zu verbinden, kommt Sawant zu dem Schluss, das Gegenteil zu tun und die Forderung abzulehnen.

Leider hat Sawant die Polizei lange Zeit unterstützt. Selbst als sie 2018 gegen den Vertrag der Stadt mit der Polizeibeamtengilde stimmte, betonte sie ihre grundsätzliche Solidarität mit der Polizei:

„Ich bin Mitglied der Basis einer Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes und möchte klarstellen, dass ich das Recht aller Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, über Lohnerhöhungen zu verhandeln, einschließlich der Polizei, unterstütze. […] Ich möchte auch klarstellen, dass ich das Recht der Polizei auf ihre Gewerkschaft und auf Tarifverhandlungen unterstütze.“

Für eine*n Sozialist*in ist das eine besonders schlechte Einstellung, denn Fakten zeigen, dass Polizeigewerkschaften sehr effektiv sind in dem, was sie tun: Sie schützen Mörder in Uniform, wenn sie Mitglieder unterdrückter Gruppen im ganzen Land angreifen.

Im selben Jahr, in dem sie sich für die Rechte der Polizist*innen einsetzte, stimmte Sawant für die Ernennung der Polizeichefin des Seattle Police Department. Ihre Rechtfertigung war, dass Carmen Best von „Führern der schwarzen Gemeinde“ unterstützt wurde, die die Polizeibehörde unter schwarzer Führung haben wollten. Aber Sozialist*innen haben immer gesagt: „Keine einzige Person und kein einziger Penny“ für die repressiven Kräfte des kapitalistischen Staates.

Schon vorher hatte es Sawant versäumt, sich auf rassistische Polizeigewalt in Seattle zu konzentrieren. Im Juni 2014 wurde ein junger Immigrant ohne Papiere namens Oscar Perez-Giron von Malcolm Elliott, einem Beamten des King County Sheriffs Department, erschossen, der Giron wegen Schwarzfahrens festgenommen hatte. Die Sozialistische Alternative und Kshama Sawant schwiegen auffallend still und sprachen sich nie öffentlich gegen die Tötung aus.

Sawant und die Sozialistische Alternative behaupten, Teil der trotzkistischen Tradition zu sein. Aber Trotzki selbst war sich in der Frage, ob die Polizei Mitglieder des Proletariats sei oder nicht, schriftlich klar: „Die Arbeiter*innen, die Polizisten im Dienst des kapitalistischen Staates geworden sind, sind bürgerliche Polizist*innen und nicht Arbeiter*innen.“

Wichtige Fragen im Kampf gegen Rassismus werden untergeordnet

Während die arbeitenden Menschen im ganzen Land gegen den Polizei-Rassismus aufstehen, sehen wir keine Perspektive einer Politik innerhalb der Polizeigewerkschaften. Absolut keine. Und das ist kein Zufall: Aufgrund ihrer grundlegenden Natur als Verteidiger eines rassistischen Staates stellen die Polizeikräfte die solideste Bastion des Rassismus in den Vereinigten Staaten dar.

Als Reaktion auf die wachsende Kampagne, in der der Ausschluss der Polizei aus den Gewerkschaftsverbänden gefordert wurde, gab die Ortsgruppe der Sozialistischen Alternative in Minnesota eine lange Erklärung heraus, die versucht, zu bremsen. Sie schreiben:

„Keine Polizeigewerkschaft sollte in Gewerkschaftsgremien vertreten sein, solange sie nicht gegen eine rassistische Polizeipolitik sowie gegen die Rolle der Polizei bei der Niederschlagung von Streiks und anderen Aufständen Stellung bezieht. Aktivist*innen der Bewegung, die sich zu sehr darauf konzentrieren, ob Polizeigewerkschaften lokalen, regionalen oder nationalen Gewerkschaftsorganen angeschlossen sind oder nicht, vermeiden jedoch die tieferen Fragen der Entwicklung einer echten Strategie zur Bekämpfung von Rassismus sowohl in der Gewerkschaftsbewegung als auch in der breiteren Gesellschaft. Und damit sind die Politiker der Demokratischen Partei und die konservative Führung der meisten Gewerkschaften aus dem Schneider.“

Bullen aus unseren Gewerkschaften rauszuwerfen zieht klare Klassengrenzen zwischen uns und ihnen – zwischen Arbeiter*innen und denen, die existieren, um uns zu unterdrücken. Die Sozialistische Alternative versäumt es, diese Grenze zu ziehen – die Erklärung führt tatsächlich neue Illusionen in die Polizist*innen ein, was impliziert, dass Polizeigewerkschaften reformiert werden können. Wenn die Mitglieder der Sozialistischen Alternative schreiben, dass sie „mehr als bereit sind, gegen die Reaktionäre, die die meisten Polizeigewerkschaften in den USA führen, Stellung zu beziehen“, dann stellen sie fest, dass sie nichts gegen die Existenz dieser Institutionen selbst haben, sondern nur gegen die (meisten?) Führer, die sie gegenwärtig kontrollieren, als ob eine Art „nicht-reaktionäre“ Führung möglich wäre.

Während die Kampagne von Tag zu Tag an Schwung gewinnt, schreibt die Sozialistische Alternative, dass „wir die Auswirkungen der Entfremdung nüchtern betrachten sollten“. Anstatt Polizist*innen aus der Arbeiterbewegung auszuschließen, fordert diese Gruppe die Polizist*innen auf, „eine echte Herausforderung für die reaktionären Führungen zu organisieren, die die Polizeigewerkschaften im ganzen Land dominieren“.

Aber während die Sozialistische Alternative ihre Hoffnungen auf den unmöglichen Anschein fortschrittlicher, antirassistischer, vielleicht sogar sozialistischer Polizist*innen setzt, stellen sie sich gegen die Kampagne, die gerade jetzt läuft, und stellen sich gegen diese Forderungen. Eine echte Strategie im Kampf gegen den Rassismus erfordert eine Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse gegen die Kapitalisten und die sie verteidigenden Institutionen. Wie könnte das möglich sein, ohne sich der Polizei zu stellen?

Sozialist*innen, die sich positiv auf Karl Marx und Friedrich Engels beziehen, haben immer gesagt, dass die Arbeiter*innenklasse nicht einfach die bestehende Staatsmaschinerie übernehmen kann, die den Interessen der Kapitalist*innen dient. Dieser Staat, so wie er ist, muss zerschlagen und durch eine demokratische Planwirtschaft ersetzt werden. Doch die Sozialistische Alternative lehnt diese revolutionäre Perspektive ab und fordert stattdessen eine „Säuberung der Polizeikräfte im ganzen Land von oben nach unten“ – ähnlich wie die Liberalen scheint die Sozialistische Alternative zu glauben, dass die Polizei den Interessen der Werktätigen dienen kann, wenn wir nur die „faulen Äpfel“ loswerden.

In einem Artikel, der am selben Tag wie der Ausschluss der Polizisten aus dem Arbeitsrat von Seattle veröffentlicht wurde, argumentiert die Sozialistische Alternative erneut, dass die Polizei keine durch und durch reaktionäre Institution sei, sondern eher eine mit „tiefen Spaltungen“. Wir alle haben gesehen, wie Polizist*innen in den USA schreckliche Gewalt gegen Demonstrant*innen anwendeten. Aber die Sozialistische Alternative ist sicher, dass es da draußen Polizist*innen geben muss, die nur darauf warten, genau das Gegenteil zu tun. Der einzige Beweis, den sie anbieten – ein Brief, in dem 14 Polizeibeamte aus Minneapolis Derek Chauvin „von ganzem Herzen verurteilen“ – ist nicht sehr überzeugend. Man braucht einen landesweiten Aufstand, um eine Handvoll Polizist*innen dazu zu bringen, sich von einem der ihren zu distanzieren, der auf Video einen Mord begeht? Dieses Beispiel dient nur dazu, eine Beobachtung zu unterstreichen, die Marxist*innen in den letzten 150 Jahren immer wieder gemacht haben: Während Soldat*innen (und insbesondere Reservist*innen) während einer Revolution oft die Seiten wechseln, hat die Polizei dies noch nie getan. Die Hoffnungen, die die Sozialistische Alternative in nicht existierende „fortschrittliche Bullen“ setzt, können die Arbeiter*innenklasse und die Protestbewegung nur von den konkreten Forderungen ablenken, Selbstverteidigung zu entwickeln, um die Polizei der Bosse zu schlagen.

Ein internationaler Fehler

Diese Pro-Polizei-Position ist nicht vom Himmel gefallen. Die Sozialistische Alternative, die Teil der Internationalen Sozialistischen Alternative (ISA) ist, geht in ihren politischen Ursprüngen auf den britischen Trotzkisten Ted Grant zurück. Während Grant behauptete, die Kontinuität des revolutionären Marxismus nach dem Zweiten Weltkrieg zu repräsentieren, passte er das Programm des Trotzkismus an, so dass er auf unbestimmte Zeit in reformistischen Parteien arbeiten konnte. Dazu gehörte eine Revision der marxistischen Staatstheorie, welche zur Folge hat, dass Sozialist*innen Gewerkschaften von Polizei und Justizvollzugsbeamten unterstützen sollten. Grant stellte somit die konservativste Abweichung der trotzkistischen Bewegung dar. Die Sozialistische Partei von England und Wales, die bis vor kurzem die Schwesterorganisation der Sozialistischen Alternative war, hat tiefe Verbindungen zu den „Arbeiter*innen“ der Vereinigung der Strafvollzugsbeamten. Erst im September 2018 interviewte die Partei in ihrer Publikation den Generalsekretär der POA aus Solidarität mit einem Protest für mehr Arbeitsplätze für Gefängniswärter.

Auch in Deutschland verteidigte die deutsche Sektion SAV die Linie von Sawant ohne ein Wort der politischen Kritik an ihrem Kurs zu formulieren. Hierzulande ist die Gewerkschaft der Polizei genauso Teil des Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) wie in den USA. Sie haben die Sprecher*innen dieser Pseudogewerkschaft zwar mehrmals auf ihrer Website zitiert, aber nie ihren wahren Charakter herausgearbeitet und den Rauswurf aus dem DGB gefordert. Wir rufen die SAV dazu auf, ihre Position aufzugeben und – gerne auch zusammen –  für den Rauswurf der Mörderpolizist*innen und ihre „Gewerkschaften“ im DGB zu kämpfen.

Heute halten mehrere politische Strömungen, die auf Grant zurück gehen, in unterschiedlichem Maße an diesem pro-polizeilichen Erbe fest. Dies hat eine gewisse Ironie, da Grant immer ein Programm vorlegen wollte, das für das seiner Meinung nach durchschnittliche – nicht das fortschrittlichste – Bewusstsein der Arbeiter*innenklasse akzeptabel war. Seine Anhänger*innen haben oft behauptet, die meisten Arbeiter*innen könnten die traditionelle sozialistische Feindseligkeit gegenüber der Polizei nicht verstehen. Aber jetzt, da sich Massen von Arbeiter*innen auf der ganzen Welt gegen die Polizei wenden, schwimmen diese Zentrist*innen endlich „gegen den Strom“ – wenn auch nach rechts.

Die Sozialist*innen, insbesondere diejenigen in prominenten öffentlichen Positionen wie Kshama Sawant, haben eine riesige Chance, das Wesen der Polizei weiter zu entlarven und die irrige Idee zu widerlegen, dass eine „Polizeireform“ das Leben nicht-weißer Menschen vor staatlicher Gewalt retten kann. Die Polizei kann nicht reformiert werden, und Forderungen nach einer sehr begrenzten Kürzung der Mittel sind eine Sackgasse. Jetzt ist es an der Zeit, einen mutigen revolutionären Aufruf zur Abschaffung der Polizei und zur Abschaffung des Kapitalismus aufzugreifen. Wir befinden uns in einem Moment, in dem diese Forderungen von den Zehn- und Hunderttausenden von jungen Menschen aufgegriffen werden können, die heldenhaft auf der Straße kämpfen. Dies kann dazu beitragen, eine große, revolutionäre, sozialistische Partei in den Vereinigten Staaten aufzubauen.

Dieser Artikel erschien zuerst bei LeftVoice am 18.06.2020.

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