Gesundheits­system ohne Profite: Utopie oder Notwendigkeit?

19.12.2020, Lesezeit 25 Min.
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Infizierte Patientin, Foto: Halfpoint, Shutterstock.com

Mit Corona geht das Gesundheitssystem endgültig in die Knie. Doch ein Zurück zu "guten alten Zeiten" ist weder möglich noch ausreichend.

Das Jahr 2020 geht in Deutschland mit einer zweiten Welle der Corona-Pandemie zu Ende, die sich noch weit ins kommende Jahr fortsetzen wird. Trotz “hartem Lockdown” bleiben viele Betriebe und Fabriken offen, anstatt die Wirtschaft vollständig auf ein absolut notwendiges Minimum herunterzufahren. Inzwischen sterben hierzulande jeden Tag zwischen 500 und 1000 Menschen, nachdem die Neuinfektionen wochenlang auf einem viel zu hohen Niveau stagnierten.

Das Gesundheitssystem geht in die Knie und zeigt heute so deutlich wie nie, dass in dieser kapitalistischen Gesellschaft Profite wichtiger sind als Menschenleben. Krankenhausbeschäftigte riskieren seit fast einem Jahr an vorderster Front gegen die Pandemie ihr Leben. Doch die Regierung weigert sich, die strukturellen Probleme zu beantworten, die schon lange bestehen und seit Jahren von Krankenhausbeschäftigten angeprangert werden. Mit dem Beginn der Krise kam zwar eine allgemeine Solidarität mit Krankenhausarbeiter:innen auf und es gab die leise Hoffnung auf ein “Aufwachen” der bürgerlichen Politiker:innen und eine Verbesserung der Bedingungen im Krankenhaus. Doch diese Hoffnungen wurden nicht erfüllt.

Erst vor wenigen Wochen wurde ein neuer Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) abgeschlossen. Zwar wurde die Tatsache, dass es überhaupt zu einem Abschluss kam, auf die erhöhte Wertschätzung für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst und ganz besonders im Gesundheitswesen geschoben. Doch das Ergebnis der Tarifrunde blieb mit durchschnittlich 8,7 Prozent Lohnerhöhung für Pflegepersonal, gestreckt auf 28 Monate, weit hinter den Forderungen zurück – obwohl die Beschäftigten im Gesundheitswesen besser wegkamen als andere Teile des öffentlichen Dienstes. Die Forderungen waren bereits vor der Pandemie aufgestellt worden und leisten nun kaum mehr als einen Inflationsausgleich. Auch die Corona-bedingten Einmalzahlungen waren für viele Arbeiter:innen kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Besonders schwer wiegt jedoch vor allem, dass Kernthemen wie der Personalmangel überhaupt nicht angetastet wurden. Dabei sind die Missstände kein Geheimnis.

Doch woher kommen diese Zustände und warum werden sie nicht angegangen? Offenkundig ist, dass sie eine Folge der Privatisierung immer größerer Teile des Gesundheitswesens und dem damit einhergehenden “Kostendruck” auch auf die öffentlichen Einrichtungen sind. Dieser Druck ist allerdings kein unabwendbares Naturgesetz, sondern von der Politik gewollt. Die Einführung des Fallpauschalen-Systems (Diagnosis Related Groups, DRG) zur Abrechnung von Kosten medizinischer Behandlungen im Jahr 2003 war dabei einer der offensichtlichsten Schritte.

Mit Fallpauschalen gegen die Gesundheit

Das Fallpauschalen-System war schon vor seiner Einführung umstritten. Im Kern handelt es sich dabei um ein Werkzeug, um Kosten für die Behandlungen zu senken: Ein Krankenhaus erhält für einzelne Behandlungen nun Pauschalen, die nicht nach dem individuellen medizinischen und pflegerischen Bedarf der Patient:innen bestimmt sind.

Das zentrale Problem daran ist offenkundig. Erhält ein Krankenhaus bei einer bestimmten Behandlung einen fixen Betrag, sind durch Einsparungen höhere Gewinne zu erzielen. Am einfachsten ist dies durch die Senkung der Lohnkosten zu erreichen. Das wirtschaftliche Kalkül diktiert also Löhne zu drücken oder gleich Personal einzusparen. Das Fallpauschalensystem schafft die akute Personalnot also selbst.

Dass das System keiner Pandemie stand halten kann, gaben sogar bürgerliche Akteur:innen zu. So forderten die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die AOK beispielsweise in der Pandemie eine Aussetzung des Systems bis zum Jahresende. Nicht nur deswegen ist die Abschaffung der Fallpauschalen eine Forderung, die viele Aktivist:innen und Kritiker:innen des aktuellen Gesundheitssystems vereint. Aber auch darüber hinausgehende Forderungen, wie die Ablehnung jeglicher Profitorientierung in der Gesundheitsversorgung, sind weit verbreitet. Der Aufruf “Die Corona-Krise muss Konsequenzen haben” der Initiative “Krankenhaus statt Fabrik” fordert neben besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen auch die Abschaffung des DRG-Systems und wurde von einem breiten politischen und zivilgesellschaftlichen Spektrum von der Sozialdemokratie und der Partei Die Linke über diverse Pflegebündnisse bis hin zur Gewerkschaft ver.di unterzeichnet.

Auch im Rest der Gesellschaft ist die Unterstützung groß: Einer Forsa-Umfrage zufolge sind 96 Prozent der Bundesbürger:innen der Meinung, die Patient:innenversorgung müsse Vorrang vor der Wirtschaftlichkeit von Krankenhäusern haben.

War es denn überhaupt schon einmal wirklich besser? Von der falschen Idee eines “Wirtschafts­wunders” und einer “guten alten Zeit”

Wie kann es also sein, dass die Frage nach der Wirtschaftlichkeit noch immer so stark Behandlungen und Arbeitsbedingungen im Gesundheitsbereich bestimmt? Wie sind Entscheidungsträger:innen nicht nur auf die Idee gekommen, das Gesundheitssystem für den Profit zu öffnen, sondern halten auch trotz aller deutlich sichtbaren Probleme weiter daran fest?

Erstens müssen wir festhalten, dass die Situation im Gesundheitssystem nur ein besonders markantes Beispiel für eine Entwicklung ist, die im gesamten Öffentlichen Dienst vor sich geht. Und zweitens, dass die aktuelle Krise eng mit der Krise des Kapitalismus und des bürgerlichen Gesellschaftsmodells verbunden ist. Sehen wir uns das genauer an.

Die Hoffnung auf ein Gesundheitssystem ohne Profite richtet sich oft zumindest implizit auf eine Zeit vor der Neoliberalisierung und damit auf die “alte” Bundesrepublik und die soziale Marktwirtschaft. Auf eine Zeit, in der die SPD das S im Namen scheinbar noch verdient hatte, und es Sektoren gab, die einfach nicht in private Hände gehörten.

Tatsächlich war der Zerstörung des Zweiten Weltkrieges ein starkes Wirtschaftswachstum gefolgt. Auch für viele Arbeiter:innen führte dies zu einer Zeit des Wohlstands, besonders im Vergleich zu den Entbehrungen während des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegsjahre. Dieser äußerte sich z.B. durch steigende Reallöhne oder den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur. Diese Zugeständnisse wurden nicht nur möglich, sondern auch nötig, denn die nicht-kapitalistischen Gesellschaftsmodelle des “Ostblocks” stellten eine direkte Konkurrenz dar.

Ein “Wirtschaftswunder”, also ein Aufstehen der deutschen Wirtschaft nach dem Krieg entgegen aller Widrigkeiten, gab es nicht, denn wundersam war diese wirtschaftliche Erholung nicht. Zwar herrschte in der unmittelbaren Nachkriegszeit akuter materieller Mangel, der sich in wütenden Protesten und Streiks ausdrückte, und die Wirtschaft war weitgehend desorganisiert. Am Boden lag sie jedoch nicht. Die Industriekapazität auf dem Gebiet der späteren BRD war selbst 1945 noch die größte Europas.

Und auch die “soziale Marktwirtschaft”, die ebenso als Schlagwort für die Nachkriegsjahrzehnte steht, war kein kohärentes Programm, wie es etwa die Union seit Ludwig Erhard bis heute behauptet. Wie der Historiker Uwe Fuhrmann herausgearbeitet hat, war sie vielmehr die diskursive Anpassung der zuvor proklamierten “freien Marktwirtschaft” als Reaktion auf eine breite Protestbewegung inklusive eines “torsohaften Generalstreiks” im November 19481. Das heißt, der ursprünglich geplanten freien Marktwirtschaft gab man vorerst nur einen sozialeren und arbeiter:innenfreundlicheren Anstrich, um die Proteste auszubremsen. Gleichzeitig bedeutete die “soziale Marktwirtschaft” auch harte Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse, z.B. mit der Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes 1952, das die Betriebsräte zur vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den Bossen verpflichtete, und dem De-Facto-Verbot von politischen Streiks, das im Nachgang der Streiks gegen eben jenes Gesetz richterlich beschlossen wurde.

Und auch bis im Gesundheitswesen nach dem Krieg geordnete Verhältnisse herrschten, dauerte es. Die Situation war vor allem von einem großen Bettenmangel und der unzureichenden Finanzierung der Krankenhäuser geprägt. Erst 1972 wurde unter der sozialliberalen Koalition Willy Brandts eine echte Selbstkostendeckung in der Krankenhausfinanzierung eingeführt. Jährlich rechneten die Krankenhäuser nun ihre Kosten mit den Krankenkassen ab. Gewinne mussten abgeführt werden, Verluste wurden ausgeglichen. Dennoch war die Gesundheitsversorgung auch schon in der alten Bundesrepublik durch ihren kapitalistischen Rahmen geprägt. Es gab trotz Selbstkostendeckung den Druck, aus Sicht des Staates “wirtschaftlich” zu sein und keine zu hohen Kosten zu verursachen. So gab es beispielsweise auch in den 1980ern schon Selbstkostenanteile für Medikamente, Krankenhausaufenthalte oder Hilfsmittel wie Brillen2.

Aus nicht gut wird schlecht: Die Neoliberalisierung des Gesundheitswesens

Lange hielt dieses System nicht. Bereits 1985 formierte die schwarz-gelbe Koalition unter Bundeskanzler Helmut Kohl den „Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen“. Der Rat veröffentlichte wissenschaftliche Arbeiten, die die Unterwerfung des Gesundheitswesens unter die Gesetze des Marktes rechtfertigen sollten. Die Einführung von Fallpauschalen, wie sie 2003/04 erfolgen sollte, forderte dieses vermeintliche Expert:innengremium schon 1990. Während der folgenden Jahre wurden nach und nach Schritte unternommen, um das Selbstkostendeckungsprinzip aufzuweichen. So wurde beispielsweise durch sogenannte Sonderentgelte – pauschale Vergütungen bestimmter Leistungen im Krankenhaus – die Preislogik der Fallpauschalen im System verankert, noch bevor diese endgültig eingeführt wurden.

Versuche der Privatisierung gab es schon vorher, doch nach 1991 schwappte eine Welle von Krankenhausprivatisierungen durch das wiedervereinigte Deutschland. Mit der Wiedereinführung des Kapitalismus nach dem Zusammenbruch der DDR gerieten in den neuen Bundesländern viele ehemals staatliche Einrichtungen in private Hand. Doch auch in Westdeutschland wurde fleißig privatisiert: Waren 1991 noch 15,2 Prozent der Krankenhäuser privat, lag ihr Anteil 2017 bereits bei 36,5 Prozent.

Der Vorstoß hin zur Marktorientierung des deutschen Gesundheitswesens war kein isolierter Angriff. Mitte der 1980er Jahre war die Ideologie des Neoliberalismus auch international auf dem Vormarsch. Die Phase revolutionärer Erhebungen, die 1968 mit dem Pariser Mai begonnen hatte, war zurückgeschlagen. Die Sowjetunion hatte längst zu bröckeln begonnen. Reagan in den USA und Thatcher in Großbritannien fügten der Arbeiter:innenklasse herbe Niederlagen zu und brachen die Kraft der Gewerkschaften.3

Mehr und mehr zog sich auch in Deutschland der Staat aus der öffentlichen Versorgung zurück und öffnete immer neue Sektoren für den Markt. Zwischen 1989 und 1995 entstanden aus der ehemaligen Staatsbehörde Deutschen Bundespost die Deutsche Post AG, die Deutsche Telekom und die Postbank. Aus der Bundesbahn wurde 1994 ein bundeseigener Konzern.

Im Gesundheitswesen fand diese Entwicklung Anfang der 2000er Jahre mit der Einführung der DRG unter Rot-Grün ihren vorläufigen Höhepunkt.

Doch das DRG-System ist nur ein Element der anhaltenden Krise im Gesundheitswesen. Hinzu kommen auch die systematische Unterfinanzierung der Krankenhäuser durch den Bund, die einen enormen Investitionsstau erzeugt hat, oder die Konkurrenzsituation, in der sich private und öffentliche Krankenhäuser befinden. Private Häuser haben etwa die Wahl, nach der DRG-Berechnung lukrativere Fälle aufzunehmen und Patient:innen, die sich nicht “rechnen” würden, an Hochschulkliniken oder öffentliche Großkrankenhäuser zu überweisen. Auch bei der Senkung der Lohnkosten erweisen sich private Häuser in der Regel als kreativer und erreichen so sehr viel höhere Gewinnmargen als ihre staatlichen Konkurrentinnen.

Die allgemeine Maßgabe, dass jedes einzelne Krankenhaus profitabel wirtschaften muss, hat zur Schließung zahlreicher kleiner Einrichtungen besonders im ländlichen Raum und damit zu Versorgungsengpässen geführt. Diese Entwicklung spiegelt die allgemeine Tendenz zur Monopolisierung im Kapitalismus wider. Gleichzeitig läuft sie aber der Notwendigkeit einer flächendeckenden Versorgung direkt zuwider, deren eminente Bedeutung in der Pandemie, auch jetzt in der zweiten Welle, überdeutlich wurde.

Woher kommt der Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen?

Dass ein privater Krankenhauskonzern wie Helios oder Asklepios ein großes Interesse daran hat, seine Lohnkosten niedrig zu halten, leuchtet ein. Schließlich muss er seine Dienstleistungen möglichst kostengünstig anbieten, um Gewinn zu erwirtschaften. Es liegt also in seinem unmittelbaren wirtschaftlichen Interesse, niedrige Löhne zu zahlen. Ob die Qualität der medizinischen Behandlung darunter leidet, ist dabei zweitrangig, solange weiterhin Patient:innen in die Klinik kommen.

In staatlichen Kliniken, wie auch im Öffentlichen Dienst insgesamt, ist der Druck auf die Löhne und Personalausstattung etwas weniger offensichtlich: Schließlich wird in erster Linie eine für den Staat notwendige Grundversorgung gewährleistet. Im Fall von Krankenhäusern geht es um den Erhalt der Arbeitskraft der Bevölkerung. Um das in ausreichender Qualität zu gewährleisten, müssen staatliche Einrichtungen qualifiziertes Personal an sich binden. Die Arbeitsbedingungen und Löhne können also nicht beliebig verschlechtert werden. Da kein unmittelbares Profitinteresse besteht, sollten sich die Löhne bei naiver Betrachtung eigentlich daran ausrichten, welches und wie viel Personal für eine gute Versorgung notwendig ist. Allerdings unterhalten auch staatliche Einrichtungen Tochterunternehmen, die selbst ein unmittelbares Profitinteresse verfolgen. Eine strikte Trennung zwischen öffentlich und privat existiert deshalb ohnehin nicht.

Der Staat handelt aber nicht einfach als neutraler Akteur. Er ist eben kein neutraler Schiedsrichter, der versucht, den “für alle” besten Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit zu finden. Stattdessen ist seine oberste Aufgabe der Schutz des Privateigentums an Produktionsmitteln wie Fabriken, Infrastruktur und eben auch Krankenhäusern. Denn der bürgerliche Staat ist ein Klassenstaat – ein Instrument, um die Herrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter:innenklasse zu gewährleisten. Aus dieser Perspektive wird klar, dass er kein Interesse daran hat, durch öffentliche Arbeitsplätze eine starke Lohnkonkurrenz für den privaten Sektor zu schaffen. Denn die Löhne der Millionen Beschäftigten im Öffentlichen Dienst haben durchaus einen Einfluss darauf, was als angemessener Lohn auch im privaten Sektor angesehen wird.

Darüber hinaus braucht der Staat Rücklagen, um in Krisenzeiten die Unternehmen unterstützen zu können. Deswegen sollen Staatsausgaben tendenziell niedrig gehalten werden. Dieser Effekt wird in der Corona-Pandemie überdeutlich: Während Länder und Kommunen mit leeren Kassen argumentieren, um Lohnerhöhungen im TVöD zu verhindern, werden Milliardenhilfen für die private Wirtschaft ausgezahlt. Die Politik der Schwarzen Null richtet sich an genau dieser Logik aus: Sie gilt zu Zeiten normaler Konjunktur als alternativlos und wird auch dann nicht aufgeweicht, wenn im Gesundheitssektor massive Probleme auftreten oder Schulen unter Personalmangel und schlechter Ausstattung leiden. Aber jetzt, wo Milliardenhilfen an große Unternehmen als wirtschaftliche Notwendigkeit gelten, hat der Bundestag einen Haushalt mit knapp 180 Milliarden Euro Neuverschuldung verabschiedet.

Die Corona-Krise ist ein beschleunigendes Element innerhalb der kapitalistischen Krise, die aber auch ohne eine Pandemie voranschreiten würde. Die weltweiten Wachstumsraten sinken seit den Siebziger Jahren und verringern stetig den Spielraum für Zugeständnisse an Arbeiter:innen. Gleichzeitig steht Deutschland vor der Herausforderung, sich im Gefüge der imperialistischen Weltmächte neu aufzustellen [„Aufstieg oder Fall: Europas Ambitionen nach den US-Wahlen“ KgK Magazin 12/20 #0]. Mit der Autoindustrie wackelt zudem einer der wichtigsten Pfeiler der Wirtschaft. Die Umstrukturierung der Industrie von Verbrennungsmotoren auf zukunftsträchtige Alternativen soll zu möglichst geringen Kosten für die Bourgeoisie vonstattengehen. Also einerseits direkt auf dem Rücken der Beschäftigten – mittels Entlassungen und Lohnkürzungen. Und andererseits indirekt zu Lasten der ganzen Klasse, die durch Einsparungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge und mit Steuergeldern für Unternehmenssubventionen zahlen soll. Die Angriffe in der Industrie und im öffentlichen Sektor sind also miteinander verbunden – und ebenso muss der Widerstand dagegen zusammengedacht werden.

Welche Rolle spielen die Gewerkschaften?

Die Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse nehmen seit Jahrzehnten zu. Doch anstatt sich ihnen konsequent zu widersetzen, haben die Führungen der deutschen Massengewerkschaften diesen Prozess höchstens mitverwaltet – was seit den Neunzigern in massivem Mitgliederschwund resultierte.

Die erwähnte Privatisierung der Bundespost und die Umstrukturierung der Deutschen Bahn zu einer Aktiengesellschaft waren Meilensteine auf diesem Weg. Mit der Übernahme der DDR wurde zudem der Osten Deutschlands dauerhaft zu einer Niedriglohn-Zone. Bis heute sind in vielen Flächentarifverträgen unterschiedliche Löhne für Beschäftigte in Ost und West festgeschrieben. Unter Führung der Gewerkschaftsbürokratie gab es in 30 Jahren nie den vereinten Versuch, eine Angleichung zu erkämpfen. Nachdem es teilweise eine Angleichung der Stundenlöhne gab, ist für den Gesundheitssektor im neuesten TVöD-Abschluss erstmals auch eine Senkung der Arbeitszeit auf Westniveau festgeschrieben -–allerdings erst für das Jahr 2023.

Auch in anderen Bereichen wurde eine Spaltung der Belegschaften und damit einhergehend eine Schwächung kollektiver Kämpfe zugelassen: So ließ sich die ver.di-Bürokratie 2005 bei der Neuverhandlung der Tarifverträge für den Öffentlichen Dienst (bis dahin Bundes-Angestelltentarifvertrag, BAT) unter anderem auf separate Tarifverträge für Bund und Kommunen (TVöD) und Länder (TV-L) ein.

Ähnlich verhält es sich mit der Spaltung durch Privatisierung und Outsourcing. Damit sie die sozialdemokratischen Regierungen nicht in Schwierigkeiten bringen, verzichten sie darauf, größere Streikbewegungen gegen Outsourcing in staatlichen Krankenhäusern zu organisieren. Offiziell darf für die Wiederverstaatlichung von Betrieben oder die Wiedereingliederung ausgelagerter Belegschaften nicht gestreikt werden. Abseits von Lippenbekenntnissen gibt es keine Anstrengungen der Gewerkschaftsführungen, das Verbot des politischen Streiks in Frage zu stellen. Stattdessen dient es als Feigenblatt für die eigene Zurückhaltung.

Trotz allem gab es in den vergangenen Jahren immer wieder auch im Gesundheitssystem nennenswerte Kämpfe – vor allem aufgrund der ausdauernden Arbeit von aktiven Gewerkschafter:innen in den Häusern und Betrieben selbst, die die Bürokratie von unten unter Druck gesetzt haben.

Ein Beispiel ist der Kampf an der Berliner Charité. in dem Krankenhaus wurde 2011 der erste Vollstreik der Pflegekräfte durchgeführt, eine Woche lang, gemeinsam mit dem ausgelagerten Servicepersonal. In den vergangenen Jahren wurde dort mittels “Bettenstreik” eine der Hürden überwunden, die Streiks im Gesundheitssektor schwieriger machen. Um eine Gefährdung von Patient:innen zu verhindern, wurde die Versorgung zunächst aufrechterhalten und dann nach der Entlassung von Patient:innen, und damit dem Freiwerden der Betten, nach und nach Betten gesperrt, bis hin zu ganzen Stationen. Mit diesem Mittel wurde erfolgreich eine schrittweise Angleichung an den TVöD erkämpft – allerdings gestreckt über fünf Jahre und nicht für die outgesourcten Arbeiter:innen.

Besonders ab 2016 spielten die Klinikbelegschaften im Saarland eine besondere Rolle, die eine Kampagne für einen “Tarifvertrag Entlastung” starteten. Dabei ging es erstmals in einer Streikbewegung um die Frage der Personalausstattung, die für viele Beschäftigte noch wichtiger ist als die Höhe der Löhne. Diese Kampagne weitete sich auch auf Kliniken in anderen Bundesländern aus. So sehr, dass die ZEIT Anfang 2017 spekulierte, es könne zu einem bundesweiten Großstreik der Krankenhausbeschäftigten kommen. Und tatsächlich gab es eine große Bereitschaft für gemeinsame Streiks unter den Belegschaften zahlreicher Kliniken im ganzen Land. Bevor es dazu kam, lenkte die ver.di-Bürokratie die Wut der Beschäftigten jedoch an den Verhandlungstisch. Sobald  einige Klinikleitungen Bereitschaft zur Verhandlung zeigten, wurden Streikvorbereitungen unterbrochen und teils bestehende Streikaufrufe kurzfristig wieder zurückgezogen.

Da die Verhandlungen nicht direkt zu Ergebnissen führten, wurden in den Folgemonaten auch noch Warnstreiks organisiert, darunter auch an der Charité, wo ein Tarifvertrag zur Personalbemessung erreicht wurde. Der Streik fand aber relativ isoliert statt. Etwa eine Handvoll anderer Kliniken streikte auch in konzertierten Aktionen. Insgesamt blieb die Tarifbewegung aber hinter den (angekündigten) Möglichkeiten zurück. Die Enttäuschung einiger aktiver Belegschaften, die bereits streikbereit in den Startlöchern standen, aber dann zurückgepfiffen wurden, wie beim Hamburger Asklepios-Klinikum, deutet auf das verschenkte Potenzial hin. Statt die vorhandene Mobilisierung für starke gleichzeitige Streiks an vielen Kliniken bundesweit zu nutzen, wurde diese in symbolische Aktionen und Streiks an einzelnen Häusern umgelenkt.

Doch woran liegt das? Schließlich sind die Gewerkschaften historisch eines der wichtigsten Werkzeuge der Arbeiter:innenklasse. Etliche große Erfolge wie der Acht-Stunden-Tag wurden mit und durch die Gewerkschaften erkämpft, und reaktionäre Angriffe äußern sich nicht selten in Verboten oder Einschränkungen der Gewerkschaften.

Diesem scheinbaren Widerspruch liegt die materielle Position der bürokratischen Führungen der Gewerkschaften zu Grunde: Ihre Daseinsberechtigung im kapitalistischen System kommt aus einer vermittelnden Position zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen. Um diese Position ausfüllen zu können, erhalten sie hauptamtliche Posten, die (im Vergleich zu einem durchschnittlichen Arbeiter:innenlohn) absurd gut bezahlt sind.

Diese Position setzt ein Vertrauen der Bourgeoisie und ihrer Regierungen voraus. Die Funktionär:innen müssen es zuverlässig schaffen, die Kämpfe zu einem “guten” Abschluss zu bringen: also einem Abschluss, der nicht die Eigentumsverhältnisse an sich in Frage stellt, der auf einzelne Sektoren beschränkt bleibt und damit die Spaltung aufrecht erhält. Ein Abschluss, der der Bourgeoisie nicht “zu viel” abverlangt. Die Gewerkschaftsbürokratie zieht also gerade ihre Existenzberechtigung als “Verhandlungspartnerin” für Bourgeoisie und Regierung daraus, Kämpfe eben nicht unter Ausschöpfung aller vorhandenen Mittel bis zum Ende zu führen.

Dieser Mechanismus zeigt sich aktuell wieder deutlich in der Pandemie: Anstatt im Rahmen der TVÖD-Tarifrunde einen Kampfplan gegen die Auswirkungen der Pandemie aufzustellen und damit das Leben ihrer Mitglieder zu schützen – besonders im Krankenhaus –, wurde von Seiten der ver.di-Führung lediglich eine moderate Lohnerhöhung vereinbart und zentrale Fragen wie Schutzmaßnahmen, Personalmangel und Verstaatlichung des Gesundheitssystems völlig ausgeklammert.

Ganz aus der Affäre ziehen kann und will die Bürokratie sich dann aber doch nicht. Viele Funktionär:innen wollen ja durchaus kleinere Verbesserungen für die Arbeiter:innen erzielen. Aber vor allem besteht für sie die Notwendigkeit, Mobilisierungen und Streiks durchzuführen, um neue Mitglieder zu gewinnen, alte zu halten und genug Druck aufzubauen, um mit einer besseren Position in Tarifverhandlungen zu gehen. Insbesondere unter dem Druck der Basis werden immer wieder Kämpfe geführt, und auch oft erfolgreich, oder zumindest mit Teilerfolgen.

Wie oben erklärt, zeigt sich in der Corona-Krise einerseits die Notwendigkeit des Kampfes gegen die Krise in Perspektive der Verstaatlichung des Gesundheitssystem und der gesamten Produktion. Zugleich zeigt sich andererseits besonders deutlich die Tendenz der Bürokratie, Streiks abzubrechen oder gar nicht erst stattfinden zu lassen und im Sinne eines Burgfriedens mit der Regierung, wie ihn auch die Linkspartei vorlebt, zu schnellen Einigungen zu kommen. Als in Berlin Anfang März der erste Corona-Patient gemeldet wurde, brach die Gewerkschaftsführung unmittelbar den Streik der ausgelagerten CFM-Beschäftigten gegen deren Willen ab. Die IG Metall nahm eine Nullrunde in Kauf und auch der TVöD-Abschluss passt in diese Reihe. Streiks gegen Massenentlassungen wurden mit Verweis auf die Pandemie abgeblasen und Schließungen wie bei Voith oder bei Galeria Karstadt Kaufhof sogar noch als Verhandlungserfolg verkauft.

Für eine revolutionäre Organisierung in den Gewerkschaften!

Wollen wir wirklich ein Gesundheitssystem ohne Profite erkämpfen – ein System, das der Krise standhalten kann – können wir also nicht zurück blicken. Im Gegenteil ist dessen Umsetzung nur durch die Vergesellschaftung des gesamten Gesundheitssektors und der Industrie unter der Kontrolle der Arbeiter:innen möglich. So geht die Forderung nach einer Rückkehr zur Selbstkostendeckung, die von vielen Pflege-Initiativen gefordert wird, zwar in die richtige Richtung, und ihre vollständige Umsetzung würde sicherlich eine merkliche Verbesserung für Beschäftigte und Patient:innen bedeuten. Doch es stellen sich zwei Probleme:

Erst einmal haben wir in den vorherigen Kapiteln hergeleitet, warum eine “Rückkehr” zu einer idealisierten, besseren, alten Sozialdemokratie, die Reformen von oben durchsetzt, nicht möglich ist. Wir sehen in der Praxis viele Arbeiter:innen und Aktivist:innen, die sich dennoch auf diese Perspektive stützen – eine Perspektive, die sie ausbremst und davon abhält, eine echte und erfolgreiche Antwort auf die Krise zu finden. Keine der in den Regierungen dieses Landes vertretenen Parteien, auch nicht SPD oder Die Linke, kann sich über die finanziellen Zwänge hinwegsetzen, die ihnen der Kapitalismus heute auferlegt. Oft genug haben sie das in der Vergangenheit bewiesen. Leo Trotzki bezeichnet dieses Phänomen als “Reformismus ohne Reformen”.

In den Gewerkschaften stellen die Bürokratien, wie im vorherigen Kapitel erklärt, eine Hürde dar. Doch die Massengewerkschaften sind weiterhin notwendige Werkzeuge im Kampf der Arbeiter:innen, denn nach wie vor organisieren sie Millionen Arbeiter:innen, halten wichtige Stellungen in den Betrieben und verfügen über gewaltige Ressourcen. Doch damit die Gewerkschaften zu Organen werden können, die diesen Kampf vorantreiben, ist es notwendig, in ihnen eine Strömung aufzubauen, die sich aktiv gegen die Bürokratie stellt, sie letztlich aus unseren Gewerkschaften rauswirft und die Gewerkschaften als Kampforgane der Arbeiter:innenklasse zurückgewinnt.

Im Kampf für den Aufbau einer solchen revolutionären Strömung in den Gewerkschaften kommt der Entwicklung von Organen der Selbstorganisation – wie Streikversammlungen und Koordinationsgremien der Gewerkschaftsbasis zwischen unterschiedlichen Sektoren – eine besondere Rolle zu. Einerseits sind sie notwendig, damit die Beschäftigten ihre Forderungen und Streiks selbst bestimmen und eine Gegenmacht zu dem bürokratischen Apparat aufbauen können. Im Kampf gegen die Rentenreform in Frankreich wurden solche Organe im Eisenbahnsektor von Seiten von Revolutionär:innen aufgebaut, die einen Einfluss auf den Generalstreik nehmen konnten und den Kampf gegen den Willen der Gewerkschaftsbürokratie fortführten.

Jedoch andererseits ist die Entwicklung solcher Organe auf einer strategischen Ebene notwendig, damit die Arbeiter:innenklasse in ihren alltäglichen Kämpfen Erfahrungen mit einer politischen Selbstorganisierung machen und Strukturen aufbauen kann. In Zeiten von Massenprotesten und vorrevolutionären Situationen können diese zu politischen Machtorganen der Arbeiter:innenklasse werden, die über die einzelnen Sektoren der Arbeiter:innenklasse hinausgehen und die gesamte gesellschaftliche Produktion und Reproduktion unter ihre eigene Kontrolle bringen können.

Um das erreichen zu können, müssen wir in den Gewerkschaften das aufbauen, was wir einen “revolutionären Pol” nennen. Also ein harter Kern an organisierten Arbeiter:innen, die immer und immer wieder den Kampf vorantreiben, über die aktuellen Forderungen heraus gehen – zum Beispiel indem sie eine Verbindung mehrerer Sektoren einfordern – und dafür einstehen, dass Kämpfe nicht mit faulen Kompromissen beendet werden. Indem sie antirassistische oder feministische Aspekte der Kämpfe aufgreifen, wie dieses Jahr im Kampf der Charité Facility Management, und genau wissen, wer ihre Verbündeten sind: die Arbeiter:innen, und nicht die Bosse oder ihre Handlanger:innen in den reformistischen Parteien oder Gewerkschaftsbürokratien!

Wir haben die Möglichkeit, eine Lösung der kompletten Krise zu erkämpfen. Wir müssen uns nicht mit den Krümeln zufrieden geben, denn wir Arbeiter:innen sind es, die dieses System am Laufen halten, die Profite überhaupt erst ermöglichen. Forderungen wie die Verstaatlichung des Gesundheitssektors und der Industrie unter der Kontrolle der Arbeiter:innen gegen die gesundheitliche und wirtschaftliche Krise, die Umstellung der Produktion auf lebensnotwendige Güter, vollständige Bezahlung der Auswirkungen des Lockdowns und der Krise seitens der Kapitalist:innen durch Enteignungen und massive Vermögenssteuer, massive Investitionen in die Gesundheit, die von Reichen finanziert werden, sowie ein Entlassungsverbot und die Abschaffung der Schuldenbremse entsprechen den akuten Interessen der Arbeiter:innenklasse in der Krise.

Die reformistischen Führungen der Arbeiter:innenklasse wie SPD, Die Linke und Gewerkschaftsbürokratien weigern sich, einen Kampfplan gegen die Auswirkungen der Pandemie und der gesamten Krise aufzustellen. Das zeigt deutlich, dass sie nicht nur langfristig eine Hürde für den Kampf der Arbeiter:innenklasse darstellen, sondern auch unfähig – und unwillens – sind, die heute akut notwendigen Forderungen zu erkämpfen.

Die einzig realistische Perspektive für ein Gesundheitssystem ohne Profite ist es, die Interessen des Kapitals direkt anzugreifen, das heißt das Privateigentum herauszufordern. Die Perspektive der Verstaatlichung verweist auf die Notwendigkeit einer sozialistischen Planwirtschaft, alle Produktions- und Reproduktionsmittel von Arbeiter:innen und Nutzer:innen demokratisch in Komitees und Räten kontrolliert werden. Doch diese Maßnahmen können nicht von einer bürgerlichen Regierung durchgesetzt werden, sondern nur von einer antikapitalistischen Regierung der Arbeiter:innen selbst, die sich auf die Organe der proletarischen Selbstorganisierung in den Betrieben und Sektoren stützt.

Kämpfen wir gemeinsam in diesem Sinne nicht nur für ein Gesundheitssystem, in dem Leben und Gesundheit über den Profiten stehen, sondern auch gegen die anderen Auswirkungen der kapitalistischen Krise wie die Hochschulreform in Bayern [„Was tun gegen den neoliberalen Angriff auf die Universität?“ KgK Magazin 12/20 #0], oder die zahlreichen Betriebsschließungen und Massenentlassungen! Eine solche Perspektive, die einen Aufbau eines revolutionären Pols in den Gewerkschaften beinhaltet, ist im Angesicht der Krise nicht etwa utopisch, sondern eine dringende Notwendigkeit. Wir laden daher alle klassenkämpferischen Aktivist:innen, Gewerkschaftler:innen und sozialistischen Gruppen dazu ein, darüber zu diskutieren, was die Aufgaben und Voraussetzungen eines solchen Pols heute sind.

Fußnoten

1 Fuhrmann, Uwe (2017): Die Entstehung der „Sozialen Marktwirtschaft“ 1948/49. Eine historische Dispositivanalyse. Konstanz/München: UVK.

2 Beschlossen wurde dies beispielsweise 1982 im Haushaltsbegleitgesetz und 1983 mit dem Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz.

3 Unter Ronald Reagan wurden z.B. Sozialleistungen massiv gekürzt, sowie der Spitzensteuersatz halbiert. Unter Margaret Thatcher wurden etliche Unternehmen privatisiert und der Widerstand der Arbeiter:innen brutal niedergeschlagen.

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