Ein heißer Herbst gegen das postfaschistische Streikrecht?

03.08.2021, Lesezeit 9 Min.
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Foto: Simon Zamora Martin

Immer wieder betonen Arbeitgeber:innen, aber auch Gewerkschaftssekretär:innen, dass wilde und politische Streiks in Deutschland illegal seien. Im Wesentlichen stützen sie sich auf Urteile eines Nazi-Richters aus den 50er Jahren. Doch im bevorstehenden heißen Streik-Herbst besteht die Möglichkeit, das Recht auf Streik auszuweiten.

Wiederholt beschwerte sich in den letzten Wochen Gorillas über die „illegalen“ Streiks, mit denen Beschäftigte gegen schlechte Arbeitsbedingungen und fehlerhafte Lohnabrechnungen protestierten. Illegal nur deshalb, weil es „wilde“ Streiks waren – ohne Aufruf einer Gewerkschaft. In Deutschland ist das Streikrecht im Wesentlichen Richterrecht. Das heißt, es gibt kein Gesetz, welches Arbeitskampfmaßnahmen regelt. Selbst das Grundgesetz räumt den Arbeiter*innen nicht das Recht auf Streik ein. Wenn Gorillas über „illegale“ Streiks spricht, beziehen sie sich auf Urteile eines Nazi-Richters aus den 50er Jahren, die ausschließlich Gewerkschaften das Recht zusprechen, Streiks zu führen. Und das auch nur für Forderungen, die sich in einen Tarifvertrag mit den Arbeitgeber:innen einbauen lassen. Nicht für Forderungen, die die heilige Freiheit der Arbeitgeber:innen infragestellt, oder sich gegen die Regierung richten.

Die Kontinuität der NS-Justiz in der BRD

Diese Einschränkungen des Streikrechts in der jungen Bundesrepublik betrachtet Rechtsanwalt Benedikt Hopmann als einen großen Paradigmenwechsel in der deutschen Rechtsgeschichte. „In der Weimarer Republik und selbst im Kaiserreich war das Streikrecht nicht abhängig von einem Gewerkschaftsverband“, erklärte er vergangenen Freitag auf einer Veranstaltung. Das änderte sich mit dem Richter Hans Carl Nipperdey. Den Durchbruch in seiner Karriere erzielte Nipperdey unter den Nazis als Autor der nationalsozialistischen Arbeitsgesetzgebung. In seinem Arbeitsordnungsgesetz wurde das Führerprinzip in Betrieben durchgesetzt. Vorgesetzten wurde eine absolute Befehlsgewalt zugesprochen und Arbeiter:innen – die in besagtem Gesetz „Gefolgschaft“ genannt werden – zum unbedingten Gehorsam verpflichtet. Doch seine Arbeit für die Nazis tat Nipperdeys Karriere nach Kriegsende keinen Abbruch, sondern qualifizierte ihn offenbar für Höheres: Er wurde zum ersten Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts ernannt. In dieser Funktion legte der Nazi mit seinen Urteilen bis heute gültige Grundpfeiler des Streikrechts, wie etwa das Verbot von „wilden“ Streiks. Es bräuchte eine Stelle, die gewährleistet, dass Streiks nur in einem „vertretbaren Rahmen“ eingesetzt werden, argumentierte Nipperdey. Das könnten keine freien Zusammenschlüsse von Arbeiter*innen, sondern nur die Gewerkschaftsbürokratie für tarifierbare Forderungen. Forderungen, die nach Ansicht der Gerichte in einem Tarifvertrag zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeber:innen vereinbart werden können. Bei „illegalen“ Streiks sind die Beschäftigten oder unterstützenden Gewerkschaften zu Entschädigungen in Millionenhöhe verpflichtet. Seitdem gelten „wilde“ Streiks, die auch besser als verbandsfreie Streiks bezeichnet werden können, in Deutschland als illegal.

„Nipperdey empfahl sich für den Posten als Präsident des Bundesarbeitsgerichts mit einem Gutachten, das er 1953 für die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) über die Zeitungsstreiks von 1952 schrieb“, erklärte Hopmann. Damals legten in der BRD die Drucker:innen aus Protest gegen das neue Betriebsverfassungsgesetz für zwei Tage die Arbeit nieder. Doch der halbherzig geführte Kampf, der hauptsächlich auf Demonstrationen statt Streiks setzte, ging verloren. Um mit Bundeskanzler Adenauer zu verhandeln, brach der DGB die Proteste ab und nahm diese auch nicht wieder auf, als erkannt wurde, dass, ungeachtet der Verhandlungen, die CDU-Regierung das Betriebsrätegesetz in unveränderter Form weiter voranbrachte. Der Kampf von 1952 hat wenig zu tun mit den Streiks und Demonstrationen gegen das Betriebsrätegesetz von 1920, die die SPD in Blut ertränkte. Doch wie damals bildeten die Proteste Anlass für umfangreiche Angriffe auf die Arbeiter:innen. Die Zeitungsverlage verklagten die Drucker:innengewerkschaft auf Schadensersatz. Im Auftrag des BDA lieferte Nipperdey in seinem Gutachten eine Argumentation, warum politische Streiks illegal wären. Die meisten Landesarbeitsgerichte – zu diesem Zeitpunkt gab es noch kein Bundesarbeitsgericht (BAG) – übernahmen seine Argumentation und verdonnerten die Gewerkschaft zu einer Millionenstrafe. Eine Entscheidung vom BAG oder Verfassungsgericht zum politischen Streik gibt es bis heute nicht.

„Wilde Streiks“ gibt es immer wieder

Während es seitdem politische Streiks nur in einem sehr beschränkten Rahmen in der BRD gibt, ziehen sich verbandsfreie Streiks jedoch ziemlich kontinuierlich durch die Geschichte: In den Septemberstreiks von 1969, die Gastarbeiterstreiks von 1973, die Aufstände gegen die Kürzung der Entgeldfortzahlungen im Krankheitsfall 1996, gegen Leiharbeit und Werkverträge 2014 bei Mercedes Bremen und jetzt bei Gorillas. Dass die Unternehmen nur sehr zurückhaltend mit juristischen Mitteln gegen die wilden Streiks vorgingen, hat hauptsächlich einen Grund: „das Verbot von verbandsfreien und politischen Streiks verstößt gegen die Europäische Sozialcharta“, erzählte Hopmann. In dieser wird den Arbeitnehmer:innen ein Streikrecht zugestanden, nicht den Gewerkschaften. Mehrfach wäre Deutschland in den letzten 60 Jahren bereits von dem Gremium gerügt worden, welches die Einhaltung der Sozialcharta einfordert. Aber ohne dass Deutschland den Verstoß gegen das Völkerrecht korrigierte. Auch die UN-Organisation ILO forderte Deutschland mehrfach auf, das Verbot von politischen Proteststreiks aufzuheben.

Hopmann ist sich sicher, dass das völkerrechtswidrige Verbot von politischen und verbandsfreien Streiks juristisch gekippt werden kann. Spätestens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Doch dazu bräuchte es einen Präzedenzfall. Einen nach aktueller Rechtsprechung „illegalen“ Streik, bei dem die Arbeitgeber:innen juristische Schritte einleiten oder Sanktionen gegen die Streikenden verhängen. Um diesen Präzedenzfall nicht zu schaffen, käme es jedoch gerade bei verbandsfreien Streiks und politischen Arbeitsniederlegungen – wie vergangenes Jahr gegen den Nazi-Terroranschlag in Hanau oder im Kontext des Klimastreiks – zu auffällig wenig Repressionen, oder sogar zu einer „Legalisierung“ durch die Arbeitgeber*innen. Nachdem beispielsweise der Botanische Garten in Berlin zu Arbeitsniederlegungen aufrief, um an der „Fridays for Future“-Demo teilzunehmen, setzte die Freie Universität kurzerhand die Kernarbeitszeiten für diesen Tag aus.

Eine juristische Feststellung, dass die Einschränkungen im deutschen Streikrecht völkerrechtswidrig sind, ist laut Hopmann wichtig, um besser für solche Streiks mobilisieren zu können. Angesichts des tief verankerten Legalismus in der deutschen Arbeiter:innenbewegung sicher ein richtiger Punkt. Doch Hopmann geht noch einen Schritt weiter, wenn er meint, auch die Gewerkschaftsbürokratie hätte ein eigenes Interesse, das Verbot von politischen und verbandsfreien Streiks zu kippen. Er stützt sein Argument auf ein internes Dokument der IG-Metall, welche den Verrat an den Gastarbeiterstreiks von 1973 kritisiert. Doch gerade das Verbot von verbandsfreien Streiks zementiert die Macht der Gewerkschaftsapparate und kann als wichtiger Baustein der deutschen Sozialpartnerschaft gesehen werden: Sichert das Verbot ihnen doch exklusiv das wichtigste Werkzeug der Arbeiter:innenbewegung. Dass die Gewerkschaftsbürokratie sich teilweise sogar über eine Einschränkung von Streik- und Gewerkschaftsrechten freut, zeigte sich beispielsweise auch an dem Applaus über das Tarifeinheitsgesetz, welches nur der größten Gewerkschaft in einem Betrieb das Recht gibt, Tarifverhandlungen zu führen. In Kombination mit der deutschen Rechtsprechung, dass nur für Tarifverträge gestreikt werden darf, stellt es eine Ausweitung des Arbeitskampfverbotes dar. Aber über die vielleicht noch wichtigere Einschränkung des Streikrechtes wird nie ein Gericht entscheiden können. Sie liegt in den Statuten der DGB-Gewerkschaften, die die Entscheidung über Streiks den Arbeiter:innen entzieht und in die Hände der Bundesvorstände legt. Eine Handvoll gut bezahlter hauptamtlicher Gewerkschaftsbürokrat:innen entscheidet über jeden einzelnen Streik. Und wenn er gerade nicht in ihren politischen Plan passt, haben sie die Macht den Streik abzubrechen, wie beispielsweise letztes Jahr bei der Charité-Tochter CFM. Bei ver.di muss der Antrag auf Genehmigung von Streiktagen von den verantwortlichen Sekretären geschrieben werden. Funktionäre, die nicht gewählt werden und es des Öfteren einfach „vergessen“, den Antrag fristgerecht bei der Bundesgeschäftsführung einzureichen, wenn sie keine Lust auf Streik haben.

Ein Kampf um die Macht

Der Kampf gegen das restriktive deutsche Streikrecht findet also nicht nur vor Gerichten, sondern auch innerhalb der Gewerkschaften statt – aber vor allem auf der Straße. Die DGB-Gewerkschaften können nur demokratisiert werden, wenn sich eine demokratische Streikkultur entwickelt, die Streikversammlungen als höchstes Gremium eines Arbeitskampfes etabliert. Und um einen Präzedenzfall zu schaffen, der das Verbot von politischen und verbandsfreien Streiks kippt, braucht es politische und wilde Streiks.

Wir stehen vor einem heißen Herbst, der möglicherweise auch zu einer Ausweitung des Streikrechtes führen könnte. Der wilde und immer politischer werdende Arbeitskampf von Gorillas ist noch lange nicht befriedet und fordert auch zunehmend die Gewerkschaften ver.di und NGG heraus. In Berlin wird es wahrscheinlich vor den Wahlen im September zu Streiks in den Krankenhäusern kommen und auch die Eisenbahner:innen-Gewerkschaft GDL bereitet einen Erzwingungsstreik noch vor den Bundestagswahlen vor. Gut möglich ist, dass der Bahnvorstand den Streik mit Hilfe des Tarifeinheitsgesetzes verbieten möchte.

Hopmann bezeichnet richtigerweise Rechtspositionen als Machtpositionen. In einem gewissen Rahmen gibt der bürgerliche Staat dem Druck des Klassenkampfes nach. Besonders international gibt es einige Beispiele, in denen politischen Streiks erfolgreich waren: In Chile konnten Streiks der Hafenarbeiter:innen verbunden mit einer enormen Solidarität aus der Bevölkerung im April dieses Jahres die Auszahlung von Rentenfonds-Anteilen an Arbeiter:innen gegen den Willen von Präsident Pinera erkämpfen, der vor dem Verfassungsgericht dagegen klagte. Und auch der französische Präsident Macron hat in den letzten Jahren die Macht der Arbeiter:innen kennengelernt. Schon die Gelben Westen haben es geschafft größere Angriffe, wie die geplante Öko-Steuer, zu verhindern. Spätere wichtige Ansätze zu wirklichen Generalstreiks, angeführt vor allem von den Eisenbahner:innen der RATP und der SNCF, die teilweise über eine Millionen Menschen gegen die Regierung mobilisiert haben, wurden von den Gewerkschaftsführungen blockiert. Das Besondere an diesen beiden Beispielen ist in erster Linie, dass in diesen Bewegungen Arbeiter:innen selbst Strukturen aufgebaut haben, um eine wirkliche Selbstorganisierung gegen die großen Bürokratien zu ermöglichen. Ohne eine solche Offensive werden sich die Machtpositionen nicht verschieben lassen. Eine große gemeinsame Streikbewegung von Bahn, Krankenhäusern, Einzelhandel und Gorillas vor der Wahlen, die auch politische Forderungen aufstellt, könnte die Kräfteverhältnisse im Klassenkampf und damit auch Machtpositionen wirklich ein Stück weit verschieben.

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