Die Iden des Merz: Vom komischen Versuch, nach Merkel Kanzler zu werden

07.11.2018, Lesezeit 10 Min.
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Bierdeckel und Leitkultur: So blieb Friedrich Merz in Erinnerung. Jetzt kriecht mit dem BlackRock-Aufsichtsrat und Schäuble-Liebling eine ganze Riege Ausrangierter ans Tageslicht. Ein Kommentar über den komischen Versuch, nach Merkel Kanzler zu werden.

Nach dem großen Konrad Adenauer, der nach der zweiten deutschen Totalniederlage den zunächst diskreditierten Kapitalismus im Frontstaat BRD wieder konsolidierte, kam Ludwig Erhard. Ihm wird heute zugeschrieben, Vater des Wirtschaftswunders zu sein. Tatsächlich war Erhard nicht nur Motto eines berühmten Zigarrenbilds, sondern erbitterter Feind der Sozialpartnerschaft und bildete als Wirtschaftsminister eine rechtsliberale Opposition gegen den Urvater aus Köln. Schließlich, als dessen Zeit politisch gekommen war, konnte er „Conny“ beerben – blieb aber ein schwacher, erfolgloser Kanzler. Auf ihn folgte eine erste Große Koalition, die das Ende der Nachkriegs-Ära einläutete. Friedrich Merz könnte Erhards Geschichte auf drollige Weise wiederholen – als Thronkandidat für die Nachfolge der großen Merkel.

Bekannt ist Friedrich Merz den älteren Leser*innen als Autor des Bierdeckels, auf dem man seine Steuererklärung machen sollte – er steht für Liberalisierung und Kürzung als Fortsetzung der von ihm gelobpreisten Agenda 2010. Vor zehn Jahren hielt Merz 132 Euro Hartz IV für „genug“. Außerdem nervte er mit ausländer*innenfeindlichem Leitkultur-Genöle – er steht also auch für den Rechtsruck, noch bevor dieser seit 2015 den ganzen Staat und alle Parteien tiefer erfasste. Und dafür wird jetzt ohne besondere Ironie über ihn gesagt, er könne als einziger die AfD stoppen, weil er eben fast so rechts ist wie sie. Dagegen steht, dass der aktuelle AfD-Führer Alex Gauland „langfristig“ eine Zusammenarbeit mit Merz (oder dem angesichts Merz in den Schatten getretenen Spahn) für möglich hält und so einem Szenario „eher Vorteile“ für die AfD zuschreibt.

Ausrangierte Merkel-Hasser…

Wer also will eigentlich Friedrich Merz haben? BlackRock, der US-Anlageriese, der nun in aller Munde ist, eigentlich nicht unbedingt. Der Abgang Richtung großer Politik war anscheinend gar nicht abgesprochen und man versucht dort jetzt, mit ihm „ohne Gesichtsverlust auseinanderzugehen“.

Stattdessen stehen da eine ganze Menge Figuren, die wie Merz selbst – meist von Merkel – ausrangiert wurden. Zum Beispiel Günther Oettinger, der oberkorrupte Gewinner des Goldenen EU-Fallschirms 2010, Grundsteinleger von Stuttgart 21 und ein Freund von Atomkraft (passé), deutscher Auto-Industrie, Privatisierung von Staatseigentum, Burschenschaften sowie der Verklärung von Alt-Nazis. Oettinger war einer der vielen Parteirechten, die Merkel auf dem Kerbholz hatte, weil sie zu frech wurden, und kommt nach deren Abdanken aus dem EU-Vorruhestand zurück, um dem rechten Waffenbruder Merz seine Treue zu erklären.

Als einen wie Oettinger könnte man auch Norbert Röttgen nennen, der schon vor ihrem Abtritt gegen Merkel schoss. Zur natürlichen Basis eines Merz gesellen sich auch Abgehalfterte wie Wolfgang Bosbach, ein rechtsradikaler Anti-Merkelist und Posterboy der Jungen Union (JU), welche als Vorreiterin der Reaktion wohl auch zum Rechtsaußen Merz tendieren wird. Oder unbekannte Rechte wie Alexander Mitsch, Vorsitzender eines Verbands mit dem geschmeidigen Namen „konservative Werteunion in der Union“. Soweit ist es eine Koalition der Verlierer des Merkelismus.

…und ein unfreiwilliger Pate

Der einzige seriöse Unterstützer Merzens dürfte Wolfgang Schäuble sein, der ihm laut SPIEGEL auch eben die Infrastruktur zur Kandidatur zur Verfügung stellte, die der Bankier nicht mehr hatte. Die Süddeutsche Zeitung nennt ihn in dieser Rolle gar einen „Paten, der keiner sein will“. Bei einem Schäuble als Fürsprecher muss bedenken, dass er nicht nur der Unterwerfer Griechenlands, sondern auch der Pionier des Überwachungsstaats im Krieg gegen den Terror war: zwei vorbildhafte Eigenschaften eines alt-neoliberalen Messias, für die Merz von der kleinbürgerlichen Basis in der Partei begrüßt wird, Ausländerfeindlichkeit und Austeritätspolitik. Merz als Kanzler, als der er wegen der voraussichtlichen Instabilität einer Machttrennung in CDU und Kanzleramt mit der „lame duck“ Merkel bereits gehandelt wird, könnte eine Vereinigung der Eigenschaften des Innen- und des Finanzministers Schäuble werden: Anti-Terror-Pakete und Spardiktate. Bemerkenswerterweise forderte eben dieser Schäuble vor wenigen Jahren auch mehr Bundeswehr im Inneren.

Das wird auch die wachsende bonapartistische Basis in den Sicherheitsapparaten erfreuen. Dazu die Mittelständler mit ihrer Sparfixierung, deren Interessenvertretung in der Union ebenfalls Pro-Merz ist. Der Widerspruch besteht jedoch darin, dass Merz ohne Not noch mehr als bisher den kapitalistischen Frieden der Sozialpartnerschaft im Inneren und des Ausgleichs zwischen China und den USA im Äußeren angreifen wird. So forderte Merz schon 2003 in einem Spiegel-Interview, dass die Gewerkschaften „Macht und Einfluss abgeben (müssen), wenn die Reform des Arbeitsmarkts gelingen soll.“ Sicher: Das Ganze ist 15 Jahre her. Seine neoliberale Agenda hat Merz seitdem aber nie abgelegt. Was Beschäftigte von Merz also erwarten könnten, wären Angriffe auf gewerkschaftliche Rechte, Lockerungen im Kündigungsschutz und ein weiterer Rückgang der Tarifbindung durch Privatisierungen und Outsourcing. Merz‘ Kanzlerschaft wäre so etwas wie ein Vorgeschmack auf größere Wirtschaftskrisen, in denen die Sozialpartnerschaft für das deutsche Kapital nicht mehr von Nutzen ist. Aber damit eben auch eine Art Experiment.

Ein Teil des Kapitals wird eine solche Trumpisierung ablehnen, da die Folgen einer solchen Politik, besonders gegenüber Russland und China, noch unabsehbar sind. Sie hätte sicher das Potential, nicht nur die Union zu spalten, sondern auch das deutsche Kapital. Merz müsste also erst recht die Randständigen sammeln, um sein Projekt voranzutreiben, und das stößt auch in der Bourgeoisie auf Skepsis. Denn ein richtiger Schäuble im Ausland ist etwas anderes als dessen schrille Version zuhause. So könnte Merz als ersten Schritt nach seiner Wahl die Groko vorzeitig beenden, möglicherweise als Kanzler von Jamaika, einfach um die Würfel neu zu werfen und den stillen Niedergang der Groko zu beenden.

Wer bändigt Trump?

Was in der Wirtschaftswoche als Kritik gemeint war, könnte auch ein Empfehlungsschreiben für Finanzkreise sein, die nach dem angekündigten Merz-„Comeback“ bereits höhere Kurse verzeichneten: „Ein Aktionär, der mehrere Beteiligungen in einer Industrie hat, den interessiert das Wohl der Industrie und nicht unbedingt das Wohl des einzelnen Unternehmens.“

Merz ist der Kandidat des Mittelstands, weil er eine Spar- und Niedrigsteuerpolitik machen wird. Doch er ist auch für das Finanzkapital interessant, nicht nur weil er von Deutscher Börse bis Commerzbank ihre Aufsichtsräte von innen kennt, von wo aus er Kontakte in die Politik herstellte – was sich vom Kanzlersessel aus auf dem kurzen Dienstweg erledigen ließe. Sondern auch, weil er global anbietet, auf entschlossenerer Grundlage die Sackgasse der Merkel’schen Balance zu verlassen und mit den USA zusammen gegen China vorzugehen. Nach innen wird er eine Anpassung Richtung AfD durchführen, die die Optionen der Zusammenarbeit für die Zukunft offen hält. Er könnte damit die CDU spalten, aber das Großkapital hat inzwischen auch die Grünen als Joker, das wäre also möglicherweise gar nicht so schlimm.

Das Handelsblatt sieht in Merz bereits einen „Trump-Bändiger“, das heißt einen Anwärter für künftige Wirtschaftskriege gegen China, der das Bündnis mit den USA erneuert. Darauf verweisen seine Mitgliedschaft bei der Transatlantik-Brücke und die anzunehmenden Beziehungen, die ihm von BlackRock bleiben. Ob es dazu kommt, steht in den Sternen. „AKK“ (Annegret Kramp-Karrenbauer) ist als rechte Merkel wohl immer noch die wahrscheinlichere Option und die „Iden des Merz“ könnten sich als Hype herausstellen, wenn dem frechen Auftritt keine Deckung in der Partei und im Kapital folgt. Ein Teil der liberalen EU-orientierten und der auf Russland und China orientierten Export-Bourgeoisie Deutschlands wird Merz ablehnend gegenüber stehen. Alle wichtigen Player in der Partei außer Schäuble halten sich noch zurück, viele könnten ihre Aufgabe gegenüber Merkel mit einem Rechtsruck der Partei erledigt sehen und keine Neuwahl riskieren wollen, die ihnen selbst den Sitz kosten könnte.

Die SPD wird indes versuchen, die Erneuerung der Parteiführungen als eine Erneuerung der Parteien und der Groko zu verkaufen, wofür sie den von Juso-Seite geforderten vorgezogenen Parteitag bereits abschmetterte. Das wird letztlich vor den Augen der Bevölkerung scheitern, aber bringt der Groko und damit dem moderaten CDU-Flügel Zeit zur Re-Konsolidierung unter Kramp-Karrenbauer. Die unausgesprochene Option – ein Bündnis mit Christian Lindner einzugehen, der nur Merkel und nicht die Regierungsbeteiligung an sich ablehnte – erscheint noch weniger verlässlich als eine schwache SPD, die alles mitmacht.

Es gibt keinen Weg zurück

Es bleiben Fragen, die größer sind als Merz oder Kramp-Karrenbauer. Um zum Vergleich vom Anfang zurückzukommen: Der erste deutsche Kanzler Adenauer musste nicht nur abdanken, weil er den Kleinbürger*innen der FDP unangenehm worden war, sondern weil seine historische Zeit zu Ende ging: die Konsolidierung des Nachkriegsaufschwungs unter US-Aufsicht. Etwas ähnliches geschah unter anderen Vorzeichen mit Merkel, deren Projekt der Verwaltung der kapitalistischen Restauration der DDR und Osteuropas, der Niederwerfung Südeuropas und des Ausbaus der Agenda-Politik ihres Vorgängers zwar erfolgreich war, die aber auf die Multipolarität der Weltordnung wenige Antworten hat. Interessanterweise hatte damals Erhard auch keine Antwort und musste selbst bald den Hut nehmen – ein Szenario, das auch für die Merkel-Nachfolge nicht unwahrscheinlich scheint.

So lässt sich auch mit Merz gar nicht von einem radikalen Bruch sprechen, sondern von einem Übergang – und zwar wahrscheinlich unter einer schwachen Figur. Der „Schäublismus“ Merzens war immer ein Teil des Merkelismus, wenn auch nicht der einzige. Es ist angesichts der kapitalistischen Orientierungskrise in der Welt wahrscheinlich, dass wir wie nach Adenauer vor einer Periode schwacher Regierungen stehen. Die Personalisierung dieser Debatten auf Merz drückt die vorhandenen Widersprüche aus. Doch auch eine (am Ende des Tages realistischere) Kramp-Karrenbauer wird mit der Frage der US-China-Balance, der der Militarisierung und dem Niedergang der politischen Sozialpartnerschaft mit der SPD umgehen müssen.

Ebenso wie auch Hillary Clinton bei einem Wahlsieg gegen Trump im Jahr 2016 keine Phase der Ruhe und Stabilität in die USA hätte bringen können, wenn sie auch selbst nicht die Personifizierung der Krise gewesen wäre, wird ein rechterer Merkel-Ersatz einfach weitermachen und Stabilität erwarten können. Um es mit dem russischen Revolutionär (und späteren Renegaten) Georgi Plechanow zu sagen, der selbst mit seinem Leben für die seltsame Verwobenheit der Person mit der Geschichte stand: „(Selbst) auf dem Gipfel seiner Macht hätte Bismarck Deutschland nicht zur Naturalwirtschaft zurückführen können“. Und so wird niemand Deutschland in die Nachkriegs-Jalta-Ordnung oder die Zeit vor der Weltwirtschaftskrise 2008 zurückführen können, in der sich gemütlich im US-Windschatten Auslandsüberschüsse machen lassen, ohne dass es jemanden stört. Wir stehen also vor interessanten Zeiten.

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