Der fragile türkische Bonapartismus

27.03.2017, Lesezeit 10 Min.
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Sultan, Diktator oder Tyrann: Über den repressiven Charakter Erdoğans gibt es seitens seiner Kritiker*innen unterschiedliche Beschreibungen. Doch sie beinhalten über den Grad der Gewalt hinaus nichts Konkretes über die Tendenzen und Widersprüche seines Regimes. In einem zweiteiligen Artikel nehmen wir uns vor, eine marxistische Auseinandersetzung mit dem türkischen Bonapartismus zu führen.

Als Erdoğan am 10. August 2014 die Staatspräsidentschaftswahl gewann, eröffnete sich eine neue Periode des türkischen Regimes: Im Gegensatz zu seinen Vorgängern nutzte Erdoğan die breiten Möglichkeiten des Amtes, um die gesamte Exekutive unter seine Kontrolle zu bringen, das heißt um die Regierung zu regieren. Im Anschluss schlussfolgerte er: „Das politische System hat sich faktisch ohnehin geändert, jetzt muss die Verfassung angepasst werden.“

Seitdem befindet sich das türkische Regime in einem neuen Prozess der Bonapartisierung. Die politische Landschaft änderte sich grundlegend und die davor erkennbaren bonapartistischen Tendenzen verfestigten sich: Die schon im Dezember 2013 endgültig gebrochene Koalition mit der Gülen-Bewegung, die Vertiefung der Transformation der Militärbürokratie und die Repression gegen die restlichen widerständigen außerparlamentarischen Oppositionellen, die dem Linkskemalismus zuzuordnen sind, beschleunigte die Verselbständigung der Exekutive im Sinne Erdoğans. Allerdings war das Verhältnis von Erdoğan gegenüber der kurdischen Bewegung zu dem Zeitpunkt noch nicht ganz geklärt: Der „Friedensprozess“ mit Vertreter*innen der HDP schürte die Illusion der Demokratisierung des Regimes. Denn die kurdische Frage ist die wichtigste politische Frage des Landes. Für Erdoğan war aber der Friedensprozess nur ein pragmatischer Schachzug auf dem Weg zum Bonapartismus. In all seinen populistischen Manövern in der Innen- und Außenpolitik nutzte er die Karte des „Friedens mit den Kurd*innen“. Besonders die bürgerliche Fraktion innerhalb der HDP drängte zur Kollaboration mit Erdoğan in seinen existenziellen Krisenzeiten, wie beim Gezi-Aufstand und dem Korruptionsskandal vom 17. Dezember 2013. Ähnlich wie Erdoğan definierte der inhaftierte Anführer der PKK, Abdullah Öcalan, den Korruptionsskandal als einen Putschversuch gegen Erdoğan. Besonders in der Zeit konzentrierte sich die kurdische Bewegung auf die „Friedensgespräche“ und die Verteidigung von Rojava.

Nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli letzten Jahres fand ein qualitativer Sprung in diesem Prozess statt, den Erdoğan nun durch eine Verfassungsänderung zu seinem bisherigen Höhepunkt bringen will: Am 16. April wird in der Türkei in einem Referendum über ein neues Präsidialsystem abgestimmt. Jedoch ist alles andere als klar, dass dieses Referendum für Erdoğan erfolgreich sein wird. Im Gegenteil: Nach aktuellen Umfragen liegt das „Nein“ deutlich vorn.

Nach dem Entwurf zur Verfassungsänderung wird es zukünftig kaum möglich sein, den Präsidenten abzusetzen. Im Gegenteil wird der Präsident in der Lage sein, das Parlament aufzulösen oder die Gesetze des Parlaments abzulehnen, das Ministerkabinett und Justizgremien allein zu bestimmen. Bei dem Referendum geht es darum, dem momentanen Ausnahmezustand des Regimes, das ständig per Dekret regiert, eine Konsolidierung zu ermöglichen. Die Entwicklung geht in eine Richtung, die einen parlamentarischen Machtwechsel in einer bürgerlichen Demokratie praktisch verunmöglicht.

Was ist der Hintergrund dieses Prozesses? Woher kommen die bonapartistischen Tendenzen und welche Grenzen haben sie?

Der faule und abhängige Charakter der türkischen Bourgeoisie

Die türkische Bourgeoisie hat eine räuberische Geschichte. Ihr Reichtum und Privateigentum entspringt dem Genozid an den Armenier*innen sowie der blutigen Konfiszierung armenischen, pontusgriechischen, assyrischen, aramäischen und kurdischen Eigentums. Der moderne türkische Staat enteignete per Dekret die christlichen Konkurrent*innen der türkischen Bourgeoisie, modernisierte das Land autoritär. Zwar konnte die türkische Bourgeoisie davon profitieren, aber das schloss gleichzeitig aus, dass die türkische Bourgeoisie eine eigenständige Rolle spielen konnte. Gleichzeitig blieben die demokratischen Fragen ungelöst und das Militär wurde allmächtig.

Die türkische Bourgeoisie besaß niemals die eigenständige Kraft, die politische Situation des Landes zu allein zu bestimmen. Bis 1980 war die wirtschaftliche Lage geprägt vom Etatismus und der Verschuldung bei den US-amerikanischen Banken und dem IWF. Besonders in der Frage der wirtschaftlichen Fortschritte war ihr Schicksal daher von den imperialistischen Bourgeoisien abhängig. Später begann zwischen 1983 un 1993 unter Turgut Özal die grundlegende Privatisierungswelle im Interesse des ausländischen Kapitals. Infolgedessen geriet der Großteil der zentralen Produktionsmittel in die Hände westlicher Imperialismen. Die politische Abhängigkeit der türkischen Bourgeoisie vom Bonapartismus ist in diesem Ursprung und ihrer Entwicklung begründet.

Alle Demokratisierungsversuche in der Türkei endeten mit Genozid und Massakern, da die Bourgeoisie nicht gewillt und fähig war, die demokratischen Forderungen konsequent durchzusetzen. Die Arbeiter*innenklasse hingegen war politisch nicht stark genug, die Bourgeoisie zu entmachten, um die demokratischen Aufgaben selbst zu lösen. So endete die bürgerliche Revolution von 1908 mit der Beteiligung am Ersten Weltkrieg und dem Genozid an Armenier*innen. Der Gründung der türkischen Republik (mit einigen Rechten auf dem Papier) folgte die Ausweisung der Griech*innen aus der Türkei und die Ermordung hunderttausender Kurd*innen.

In Krisensituationen war die türkische Bourgeoisie immer wieder auf die Interventionen des allmächtigen Militärs angewiesen: Das Militär übernahm in den Jahren 1960 und 1980 die Regierung und in den Jahren 1971 und 1997 drängte es die Regierungen zum Rücktritt. Zwar ermöglichte dieser Kurs der türkischen Bourgeoisie eine gewisse Kollaboration mit den imperialistischen Bourgeoisien und die Funktion als Regionalmacht, als Ansprechpartnerin und Brücke imperialistischer Ambitionen. Sie öffnete sich stärker der Weltwirtschaft und insbesondere der EU-Wirtschaft. So trat die Türkei 1996 der Europäischen Zollunion bei und die Annäherung an die Europäische Union war ihr zentrales Projekt.

Die AKP kam 2002 an die Macht, um ein wirtschaftlich ruiniertes Land, dessen staatliche Apparate vom Krieg gegen die kurdische Bewegung ausgezehrt waren, zu rehabilitieren. Die säkularen und islamischen Fraktionen der türkischen Bourgeoisie und die bekanntesten liberalen Intellektuellen unterstützten die AKP in ihrem Kurs, weil sie unfähig waren, die Krise selbst zu lösen. Um die Abhängigkeit und den faulen Charakter der türkischen Bourgeoisie zu verstehen, hilft uns das Zitat von Trotzki in Bezug auf die indische Bourgeoisie:

Sie ist eng mit dem britischen Kapitalismus verbunden und von ihm abhängig. Sie zittert um ihr Eigentum. (…) Sie sucht den Kompromiss mit dem britischen Imperialismus um jeden Preis und versucht die indischen Massen mit der Hoffnung auf Reformen von oben einzulullen.

Heute ist die Wirtschaftsstruktur des Landes nicht mehr allein vom Agrarsektor und der Textilindustrie geprägt, denn der größte Anteil des BIP stammt heute aus der Elektro- und Automobilindustrie, selbstverständlich unter Kontrolle von imperialistischen Konzernen. Über eine Million Autos und Lkws werden jährlich in der Türkei produziert, auch deutsche Hersteller von Nutzfahrzeugen wie MAN und Daimler lassen hier fertigen. Auch Toyota, Ford, Fiat und Renault lassen in der Türkei produzieren. Die Türkei hat sich überregional als Markt etabliert. Sie ist somit eine Regionalmacht, die in großen Maße direkt von der Gnade der imperialistischen Mächte abhängt.

Die ökonomischen Veränderungen und die Rolle der Türkei als verlängerter Arm imperialistischer Interessen befreite die türkische Bourgeoisie von der Notwendigkeit, dem Militär eine allmächtige Rolle zu gewährleisten. Das allmächtige Militär wurde stattdessen zur Last und musste in Frage gestellt werden. Besonders wichtig dabei war auch die Rolle des kurdische Aufstands: Das türkische Militär konnte ihn trotz hoher Militärausgaben nicht liquidieren. Auch die Versuche, die kurdische parlamentarische Repräsentation zu verhindern, konnten dem türkischen Staat nur provisorisch gelingen. Die kurdische Bewegung stand wieder auf und kämpfte heroisch weiter. Die „Demokratisierung des Staates“, was unweigerlich die Beschneidung der weitgehenden Rechte des Militärs implizierte, wurde zu einer der politischen Forderungen der türkischen Bourgeoisie.

In Zeiten der organischen Krise erstarken die bonapartistischen Tendenzen

Jedoch verlief dieser Prozess alles andere als geradlinig, und der Bankrott der türkischen Regionalmachtbestrebungen, die wir im zweiten Teil dieses Artikels genauer unter die Lupe nehmen werden, setzte den Liberalisierungsprozessen in der Türkei ein jähes Ende.

Heute – nach der Wahl Erdoğans zum Staatspräsidenten 2014 und besonders seit dem gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016 – brechen die Konflikte innerhalb der türkischen Bourgeoisie mit aller Gewalt wieder auf. Der Prozess der extremen Verselbständigung der Exekutive unter Erdoğan basiert darauf, dass das verdorbene parlamentarische System nicht fähig ist, die Risse innerhalb der Bourgeoisie und des Staates selbst zu überwinden. Erdoğan gelingt es nicht, einen Konsens auf Grundlage der Vereinigung der bürgerlichen Fraktionen zu finden. Er versucht mit der bonapartistischen Verfassungsreform, die staatlichen Einrichtungen den Zielen der Regierung anzupassen.

Diese Entwicklung ist Ausdruck einer „organischen Krise“ (Antonio Gramsci) in der Türkei, die eingebettet ist in die weltweiten Tendenzen zur organischen Krise seit Beginn der Weltwirtschaftskrise 2008.

Die organische Krise untergräbt die Grundlagen der neoliberalen Ordnung. Nach Antonio Gramsci unterscheidet sich diese Krise von konjunkturellen und temporären Veränderungen und Krisen. Vielmehr geht es um eine Krise des gesamten Regimes auf wirtschaftlicher, sozialer und politischer Ebene. Diese Krise legt die grundlegenden und unheilbaren Widersprüche des Systems offen. Die herrschende Klasse beziehungsweise das Establishment sind nicht in der Lage, diese Widersprüche durch gewöhnliche Methoden aufzuheben.

Es beginnt also eine Periode von Infragestellungen und Denkweisen, die sich in einer Krise der etablierten Parteien und einer Repräsentations- und Legitimationskrise ausdrückt. Die organische Krise steht nicht unmittelbar in Verbindung zum revolutionären Machtwechsel. Vielmehr geht es darum, dass die Arbeiter*innenklasse nicht in der Lage ist, die Macht zu erobern, aber gleichzeitig der Bourgeoisie das Rezept fehlt, die Krise zu überwinden. Es ist also, wie Gramsci beschreibt, eine Situation, in der „das Alte nicht stirbt und das Neue nicht geboren wird“.

In seinem Vortrag über die Schule der revolutionären Strategie auf dem dritten Kongress der Kommunistischen Internationale argumentierte Trotzki ähnlich:

Die Gesellschaftsklasse, die in der alten Gesellschaft dominiert und reaktionär geworden ist, muss von einer neuen Gesellschaftsklasse abgelöst werden, die (…) den Bedürfnissen der Entwicklung der Produktivkräfte entspricht (…). Aber es ist keineswegs immer so. (…) Im Gegenteil, in der Geschichte geschah es mehr als einmal, dass die alte Gesellschaft sich erschöpft hatte, (…) aber in dieser Gesellschaft, die sich überlebt hatte, es keine Klasse gab, um zu stürzen. (…) Auf diese Weise bewegte sich die menschliche Gesellschaft nicht immer von unten nach oben, in aufsteigender Linie. Nein, es gab lange Perioden der Stagnation, Rückfälle in die Barbarei kamen vor.

Wir befinden uns weltweit „in einer Etappe scharfer Wendungen“, wie wir im letzten Jahr schrieben, „in der sowohl bonapartistische Auswege als auch neue Prozesse des Klassenkampfes und der politischen Radikalisierung an der Tagesordnung sind.“

Friedrich Engels schrieb im Jahr 1890 in der Zeit der Großen Depression an Adolph Sorge: „Du siehst, wie alles heutige Fürstenpack nolens volens bonapartistisch wird.“ (MEW 37, S.381) Es wäre alles andere als eine Übertreibung zu behaupten, dass die bonapartistischen Tendenzen in der momentanen Periode der organischen Krise erstarken.

Bei der Analyse des Bonapartismus ist es wichtig zu betonen, dass nicht allein der repressive Grad eines Regimes der Schlüsselmoment für die begriffliche Bestimmung sind. Vielmehr geht es darum, wie der*die Bonaparte*in gegenüber der Bourgeoisie, dem Kleinbürger*innentum und dem Proletariat handelt, mit der Unterstützung welcher Institutionen und Apparate er*sie das Verhältnis zwischen den Klassen ausnutzt. Anders gesagt; wie weitgreifend der*die Bonaparte*in seine*ihre politische Unabhängigkeit von den Hauptklassen bewahrt und wie er*sie dazu beiträgt, die Interessenvermittlung zwischen den Klassen und Klassenfraktionen zu erreichen.

Unter Bonapartismus verstehen wir ein Regime, wo die ökonomisch herrschende Klasse, zu demokratischen Regierungsmethoden nicht mehr imstande, sich im Interesse der Erhaltung ihres Eigentums gezwungen sieht, das unkontrollierte Kommando des Militär- und Polizeiapparats, mit einem ‚Retter an der Spitze‘ über sich zu dulden. (Trotzki, Nochmals zur Frage des Bonapartismus)

Der Bonapartismus Erdoğans unterscheidet sich jedoch außerordentlich von dem Bonapartismus der 1930er Jahre, den Trotzki analysierte und zu dem beispielsweise die Regierungen der Weimarer Republik (Brüning, von Papen und von Schleicher) gehören. Der türkische Bonapartismus stützt sich nicht auf eine solche Schiedsrichterrolle in einer Pattsituation des verschärften Klassenkampfes zwischen den zwei feindlichen Hauptklassen, sondern – wie oben erwähnt – auf die Unfähigkeit des türkischen Parlamentarismus, die Risse innerhalb der Bourgeoisie und des Staates zu lösen. Aktuell geht die Entwicklung in eine Richtung, die einen parlamentarischen Machtwechsel in einer bürgerlichen Demokratie praktisch verunmöglichen wird. Das bedeutet, dass es im Wesentlichen zwei Ausstiegsmöglichkeiten aus diesem Bonapartismus geben wird: Entweder werden wie in Ägypten und Tunesien im Zuge des „arabischen Frühlings“ Aufstände dem jeweiligen Bonaparte sein Ende bereiten, oder er wird von einem noch reaktionäreren Regime abgelöst.

Die Kunst Erdogans besteht darin, in jeder Wende durch sich abwechselnde Koalition seine Macht zu bewahren und eventuell auszubauen. Heute ist die ultranationalistische Partei MHP die Machtstütze Erdogans.

Was die Grenzen des türkischen Bonapartismus sind, die sich in einer scheiternden Außenpolitik und einer innenpolitischen Terrorherrschaft äußern, werden wir im zweiten Teil dieses Artikels genauer untersuchen.

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