Das kurdische Referendum im Schatten der kolonialistischen Aggression

23.09.2017, Lesezeit 10 Min.
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Am 25. September 2017 findet in der Autonomen Region Kurdistan ein Referendum zur Unabhängigkeit der kurdischen Region im Irak statt. Sowohl die imperialistischen Staaten als auch die irakischen, türkischen und iranischen Besatzerstaaten lehnen das Recht auf Selbstbestimmung ab und drohen mit Sanktionen und militärischer Intervention. Was bedeutet das kurdische Referendum und welche Position muss vertreten werden?

Die aktuelle Phase der kapitalistischen Krise, die zu Tendenzen der organischen Krise geführt hat, bringt nicht nur bonapartistische oder rechtspopulistische bzw. protektionistische Phänomene besonders in den imperialistischen Zentren hervor. Auch die nationale Frage ist in Katalonien, Schottland und Kurdistan im Aufschwung.

In solchen Krisenzeiten werden in den zentralen Ländern demokratische Rechte beschnitten und neoliberale Angriffe durchgeführt. Die bürgerlich-demokratische Form der Herrschaft des Kapitals wird durch autokratische Formen ersetzt. Das Establishment schafft es nicht, die Krise mit gewöhnlichen Methoden zu lösen. Die Staaten beginnen, ihre Macht durch die nackte Gewalt und brutale Repressionen zu verteidigen. Zielscheibe dieser Attacken sind nicht nur die arbeitenden Massen in der Innenpolitik: Die imperialistischen Staaten und die Regionalmächte beginnen in der Außenpolitik die halbkolonialen und kolonialen Länder noch stärker auszuplündern, um ihre Krise zu bewältigen. Die ökonomische und soziale Benachteiligung der unterdrückten Völker und ihrer Gebiete ist eine bewusste politische Entscheidung, um die idealen Bedingungen der Ausbeutung im Form billiger Arbeitskraft und der freien Verfügbarkeit über die natürlichen Ressourcen zu schaffen. Zudem wollen die Bourgeoisien der unterdrückenden Nationen das Aufkommen möglicher konkurrierender Bourgeoisien verhindern.

Währenddessen nimmt die einheimische Bourgeoisie der unterdrückten Nation die Forderung nach Unabhängigkeit auf, um die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Dies geht nur durch die Mobilisierung der Massen. Um das Ziel zu verwirklichen, müssen ihre Forderungen unter den Massen beliebt und bekannt werden. Besonders nach der imperialistischen Invasion im Irak von 2003 spitzte sich die ständige Konfrontation zwischen der Autonomen Region Kurdistans und der irakischen Zentralregierung um die Fragen des Budgets, der Verwaltung und Finanzierung der Ölquellen und der Kontrolle über die Erdölhauptstadt Kirkuk, die für die Kurd*innen in Irak eine besondere historisch Bedeutung hat, zu. Zudem hatte schon die Arabisierungspolitik Saddams verbunden mit Massakern zu einer massiven Vertreibungswelle geführt.

Die geopolitische Bedeutung des Referendums

Die politische und wirtschaftliche Instabilität des Landes und der Konfessionskrieg innerhalb der arabischen Bevölkerung sind weitere Beweggründe, welche Masud Barzani, Präsident der Autonomen Region Kurdistan dazu bewegt haben, ein Referendum einzuberufen.

Laut der Resolution des kurdischen Parlaments werden die irakischen Kurd*innen am 25. September über ihre Unabhängigkeit abstimmen. Das ruft eine neue politische Situation hervor, die die Karten im Nahen Osten neu mischt: Die westlichen Imperialismen befürworten die „Einheit gegen den IS“ und die Bewahrung der Kontrolle über die Region und möchten daher jegliche Ablenkung von dieser Zielsetzung vermeiden. Deshalb treten sie als Verfechter der demokratischen Rechte im Irak und als Befürworter der Einheit des Iraks auf.

Die bürgerliche Presse berichtet erst jetzt über die undemokratische Situation unter der Regierung von Barzani, obwohl dieser schon lange enger Verbündeter der imperialistischen Mächte ist. Der Spiegel schreibt: „Die Amtszeit des Kurdenpräsidenten war bereits vor mehr als einem Jahr ausgelaufen. Seitdem ist die Politik des Landes blockiert. Das Parlament tagt nicht mehr. Die Kurdengebiete leiden seit Monaten unter einer schweren Wirtschaftskrise. Die Autonomieregierung musste die Gehälter ihrer Angestellten kürzen.“

Die Kurd*innen im Irak, in Syrien und in der Türkei kämpfen seit Jahren an erster Front gegen den IS und erzielen wichtige Siege. Der IS ist nicht anders als eine reaktionäre Bewegung des Kleinbürger*innentums und des Lumpenproletariats, die sich gegen jegliche demokratische Struktur in dieser Region richtet. Warum der IS gerade die kurdischen Strukturen und Gebiete angegriffen hat, liegt auf der Hand. Die Kurd*innen verteidigen die Vielvölkerstrukturen der Region mit christlicher und jezidischer Bevölkerung sowie die Frauenrechte. Der IS wollte nicht nur das Öl in Kurdistan haben, sondern jeglichen demokratischen Ansatz zerstören. Die irakische Zentralregierung setzt dem IS-Fanatismus den schiitischen Glauben entgegen und die türkische Regierung unterstützt die islamischen Kräfte in der Region. Für den Imperialismus steht die Möglichkeit, sich neue Märkte zu eröffnen und Unterstützer*innen für die eigene Politik zu bekommen vor der echten Demokratisierung der Region. Daher ist Saudi-Arabien ein wichtiger Partner der Imperialist*innen, während dort die reinste Form des reaktionären Islams herrscht.

Die einzige kräftige Unterstützung bekommt Barzani vom zionistischen Besatzerstaat Israel. Das Motiv der zionistischen Unterstützung basiert aber nicht auf der Demokratisierung des Nahen Ostens und der Verteidigung der kurdischen Befreiungsbewegung. Im Gegenteil: Es geht dem zionistischen Staat darum, Feindschaft unter den Völkern zu sähen und das kurdische Volk von seinen arabischen, iranischen und türkischen Verbündeten zu entfernen.

Die nationale Spaltung der kurdischen Führung

Barzani hat innerhalb Kurdistans eine korrupte Misswirtschaft vorangetrieben. Die kurdischen Arbeiter*innen und Bäuer*innen sind jetzt schon die Verlierer*innen eines bürgerlichen Kurdistans. Es ist offen, ob das Referendum doch noch abgesagt wird oder ob Barzani im Falle eines Referendums das Ergebnis durchsetzten kann oder will. Gerade der Druck der arabischen Besatzung auch in Form des „IS“ drängt die Massen dazu, Barzanis Unabhängigkeitskurs zu unterstützen.

Das kurdische Volk hat sich in den vier besetzten Gebieten (Syrien, Türkei, Irak und Iran) unterschiedlich entwickelt, weil die koloniale Politik zwar im Kern identisch aber von der Methode her unterschiedlich war. Die irakische Politik basierte auf der Trennung der arabischen und kurdischen Bevölkerung und die Kurd*innen wurden vom wichtigen Posten im Staat ferngehalten. Die kurdische Führung im Irak hat sich viel stärker auf die Stämme bezogen als in der Türkei. Die Türkei zielt auf die vollständige Assimilierung und die Vertreibung der Kurd*innen in die türkischen Metropolen, um eine türkische Nation zu kreieren. Der Staatsdienst nahm sehr viele Kurd*innen auf, wenn sie ausreichend „turkisiert“ waren. Die Anführer*innen der heutigen kurdischen Bewegung in der Türkei haben sich in den 60er und 70er Jahren in den türkischen Metropolen unter den sich radikalisierenden Jugendlichen politisiert.

Während die Führung der PKK in der Türkei eine kleinbürgerliche Organisation städtischer Prägung ist, bezieht sich die Führung der südkurdischen Organisation auf die konservativen Stammesführungen. Das hat zur Folge, dass in der Türkei Teile der Intelligenz dem Programm der kurdischen reformistischen Partei HDP unterstützen.

Die HDP ist der Versuch, die Türkei auf kleinbürgerlichem Weg zu demokratisieren, das heißt lokale Strukturen aufzubauen und die staatliche Macht zu dezentralisieren auf der Grundlage demokratischer Forderungen, ohne den Staatsapparat konkret abbauen zu wollen. Es ging so weit, dass die HDP und die PKK daran geglaubt haben, der türkische Staat sei am Verhandlungstisch reformierbar und die nationale Unterdrückung könne ohne Kampf gegen die Bourgeoisieklasse überwunden werden.

Die Folge dieses Illusionismus ist, dass alle kurdischen Strukturen und Forderungen vom türkischen Staat innerhalb kurzer Zeit zerstört wurden und die HDP mittlerweile praktisch lahmgelegt ist, weil der koloniale Charakter der Türkei durch die HDP stark unterschätzt wurde und die materiellen Interessen der türkischen Bourgeoisie für Nord- und Westkurdistan ignoriert worden. DIE HDP reduzierte den Staat nur auf einen ideologischen Apparat, ohne den dahinter stehenden Repressionsapparat aus Polizei, Militär, Justiz und Gefängnissen zu sehen. Die militärische Belagerung der kurdischen Gebiete in der Türkei offenbaren die Unmöglichkeit des reformistisch-kleinbürgerlichen Kurses der PKK.

Barzani distanziert sich von der zentralen Regierung in Bagdad, weil er fast gar kein Interesse an einer Aufrechterhaltung der Zusammenarbeit hat. Er hat nicht nur keine Verbindung zu den arabischen Intellektuellen und Akademiker*innen, sondern auch nicht zu den kurdischen Intellektuellen in Südkurdistan. Der arabische Kolonialismus erscheint daher der südkurdischen Bevölkerung entweder durch die schiitische Zentralregierung in Bagdad oder durch den sunnitischen Fanatismus des IS. Das Referendum in Südkurdistan belastet die Beziehung zwischen Barzani und PKK kurdischen Organisationen, weil die PKK schon längst den Kampf für einen eigenen kurdischen Staat aufgegeben und sich auf die demokratische Umwandlung der Besatzerstaaten fokussiert hat. Währenddessen versucht Barzani, Südkurdistan als Ergebnis der Verhandlungen zu einer internationalen Großmacht voranzutreiben. Er vertritt das neoliberale Wirtschaftsmodell und befürwortet die reibungslose Kollaboration mit den imperialistischen und Regionalmächten. Es stehen zwei Programme gegenüber: Ein kleinbürgerlich-reformistisches Programm der PKK und ein konservativ-bürgerliches Programm der Barzani-Führung eines unterdrückten Volkes. Sie geraten ständig in Interessenkonflikte.

Der Internationalismus: Die Anleitung zur Befreiung aus der nationalen Unterdrückung

Bis zum letzten Moment wird das Referendum höchstwahrscheinlich auf der Kippe stehen. Der imperialistische Druck ist zu hoch und Barzani handelt sehr pragmatisch: „Für uns stehen zwei Optionen: Entweder werden wir am 25. September unser Referendum durchführen oder am selben Tag mit einigen Errungenschaften feiern. Wir werden von diesen beiden Optionen nicht abweichen“ (Barzani)

Es wäre also kein Wunder, wenn Barzani auf geheime Versprechen der westlichen Imperialismen seine Unabhängigkeitsbestrebungen verschiebt. Das Referendum sieht er als taktisches Manöver, um die Interessen seiner Korruptionswirtschaft durchzusetzen.

An der Unterdrückung eines Volkes ist nicht die herrschende Klasse interessiert, sondern auch die Sozialchauvinist*innen, die die Interessen des eigenen Staates nicht in Frage stellen. So haben wir z.B. in der Türkei in nationalistischen Sektoren der Intellektuellen und bei einigen Organisationen den Fall, dass der kurdische Staat als bloßes imperialistisches Projekt betrachtet und die Grenzen des Iraks verteidigt werden. Sie weiten ihre eigene rassistische Politik von der kurdischen Bevölkerung in der Türkei auf die kurdische Bevölkerung in Irak aus. Nicht die Unterdrückung des kurdischen Volkes sei schlimm, sondern die Befreiung des kurdischen Volkes vom kolonialen Joch. Diese Kräfte distanzieren sich von der wichtigen Aufgabe, gegen den eigenen türkischen Staat vorzugehen, um ein vereinigtes sozialistisches Kurdistan zu unterstützen. Gerade die nationale Unterdrückung und die Kriege gegen das kurdische Volk seit der Spaltung 1916 durch Sykes-Picot-Abkommen sorgt dafür, dass die westlichen Mächte dort Einfluss gewinnen können, um ihren Profit zu erhöhen. Während ein wichtiger Teil aus dem reformistisch/zentristischen Lager der Linken in der Türkei durch die HDP-Politik gelähmt ist, übernimmt der stalinistisch/kemalistische Teil kolonialistische Position gegenüber dem Referendum. Hingegen verteidigen die trotzkistischen Organisationen das Recht auf Selbstbestimmung des kurdischen Volkes. Die linken Kräfte im Iran setzen praktisch das demokratische Recht des kurdischen Volkes außer Kraft und argumentieren als sympathisches Gesicht des Kolonialismus für die Einheit des Iraks, ohne zu betonen, dass ein Zusammenleben der Völker nicht von der Zentralregierung erzwungen werden kann und das das unterdrückte Volk mit Gewalt und Drohungen zum Zusammenleben gezwungen wird. Das geschwisterliche Zusammenleben der Völker kann nur auf freiwilliger Basis geschehen. In diesem Kontext bedeutet das Referendum nicht die sofortige Gründung eines kurdischen Staates. Vielmehr geht es darum, das demokratische Recht auf Selbstbestimmung zu haben.

Während die Sozialchauvinist*innen angeblich anti-imperialistisch argumentieren, sind sie ein Teil der kolonialen Unterdrückung. Lenin hat über diesen Punkt geschrieben:

An Stelle des Wortes Selbstbestimmung, das oft zu falschen Auslegungen Anlass bot, setze ich einen ganz präzisen Begriff: „Recht auf freie Lostrennung.“ Gerade, dass die Völker zusammenleben können, ist das Selbstbestimmungsrecht die Garantie dafür, dass das Zusammenleben auf Freiwilligkeit geschieht. Es ist nirgends die Rede, dass wir nur das Selbstbestimmungsrecht der Kolonien anerkennen, sondern die unterdrückten Nationen. Die Sozialisten können ihr großes Ziel nicht erreichen, ohne gegen jede Art von nationaler Unterdrückung zu kämpfen. Sie müssen daher unbedingt fordern, dass die sozialdemokratischen Parteien der unterdrückenden Länder das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nationen anerkennen und verfechten, und zwar ausdrücklich im politischen Sinne des Wortes, d. h. Als Recht auf politische Lostrennung. Ein Sozialist, der einer großstaatlichen oder kolonienbeherrschenden Nation angehört und dieses Recht nicht verteidigt, ist ein Chauvinist.

Die kurdischen Arbeiter*innen und armen Massen brauchen nicht nur die Unterstützung, um das Recht auf die Selbstbestimmung mittels eines Referendums praktizieren zu können. Sie brauchen auch die Solidarität des arabischen und türkischen Proletariats gegen die Bourgeoisie der unterdrückenden Nationen. Das bedeutet: das kurdische Volk soll gegen die Aggression aus Bagdad, Teheran und Ankara verteidigt und gemeinsame Strukturen müssen geschaffen werden. Das ist die Grundlage der Bekämpfung der maroden Staatlichkeit der Besatzerstaaten. Die internationale Arbeiter*innenklasse und unterdrückten Völker können auf freiwilliger Basis und gegenseitigem Vertrauen ein Zusammenleben ermöglichen, indem sie ihre Waffen auf die eigene Bourgeoisie richten. Dieser Kampf ist untrennbar mit dem Kampf für das Ende der imperialistischen Herrschaft über die Region verbunden. Das Ziel des Endes der Ausplünderung und Spaltung der Region kann nur in einer Föderation sozialistischer Republiken des Nahen Ostens einschließlich eines vereinigten sozialistischen Kurdistans erreicht werden.

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