Adolescence: Die Psychologie der antifeministischen Reaktion

22.04.2025, Lesezeit 15 Min.
1
Primer Keir Starmer und der Serienmacher Jack Thorne in 10 Downing Street, Foto: Simon Dawson via Wikimedia Commons

Die britische Netflix-Serie Adolescence ist in aller Munde und das zu Recht. Wie keine Zweite erforscht sie die Abgründe des modernen Antifeminismus. Doch liegt alles nur am Smartphone?

Ein schmächtiger dreizehnjähriger Junge mit Sommersprossen im Gesicht sitzt an einem Tisch. Er ist noch ein Kind und doch bewegt er sich schon wie ein Erwachsener – wie ein Mann. Breitbeinig und betont zurückgelehnt, sitzt er auf dem Stuhl. Er wischt mit der flachen Hand über den Tisch. Einmal, zweimal. Dann nimmt er einen Schluck aus einem Plastikbecher. Gegenüber von ihm sitzt eine Psychologin. Sie ist gekommen, um das Innenleben dieses Jungen zu verstehen. Ihr Gespräch dauert fast 50 Minuten. Langsam, geradezu quälend langsam, wandert die Kamera um die beiden herum. Noch nie war ein Gespräch zwischen zwei Menschen so nervenaufreibend. Immer wieder zerbricht die Maske der Coolness, die der Dreizehnjährige so krampfhaft versucht aufrechtzuerhalten. Er springt auf, schlägt mit den Fäusten auf den Tisch, verteilt sein Getränk über den Boden und schreit die Psychologin mit bebender Stimme an: „You do not tell me when to sit down. You do not control what I do in my life! Don’t signal me like a fucking queen.“ Die Psychologin verlässt erschüttert den Raum. Als sie wiederkommt, sitzt der Junge zusammengesunken da. Er entschuldigt sich. Das Gespräch geht weiter. Es geht um Männlichkeit, den Vater, verzerrte Schönheitsvorstellungen und Sex. Dann wieder ein Ausbruch, er wirft den Stuhl durch den Raum und baut sich drohend vor ihr auf, nur um sofort wieder jämmerlich in sich zusammenzubrechen. Als sie ihm schließlich mitteilt, dass dies ihr letztes Gespräch sei und sie nun gehen müsse, reagiert er verzweifelt: „Why? It doesn’t seem like a proper goodbye? Did you even like me one bit? Because I like you. Not like that, not fancying you. Just as a Person.“ Sie antwortet: „I was here as a professional.“ Das wollte er nicht hören, Wut und Verzweiflung wechseln sich auf seinem Gesicht ab. Der Dreizehnjährige muss schließlich von einem Pfleger aus dem Raum geschleppt werden. Den ganzen Weg zurück in die Zelle hört sie ihn schreien. 

Dieser Junge heißt Jamie Miller, oscarreif gespielt von Owen Cooper (Jahrgang 2009!) und er hat wenige Tage zuvor seine Mitschülerin Katie Leonard ermordet. Sieben Messerstiche in die Brust, in den Hals, ins Bein. Die Serie nimmt die Zuschauer:innen daraufhin mit auf eine Reise, die uns zeigen wird, dass dieser Femizid nicht im Kopf dieses Dreizehnjährigen entstand. Der Täter ist nur die Spitze des Eisberges. Die Gesellschaft, in der Jamie, Katie, ihre Klassenkamerad:innen, ihre Eltern und Lehrer:innen gesetzt werden, die ist es, die ist der wirkliche Protagonist dieser Serie. Dabei möchte die Serie hinter die Fassade schauen, unentwegt, niemals blinzelnd verfolgt die Kamera das Geschehen, fährt mit unter Haut nahe an die Gesichter heran oder filmt über die Schulter mal dieser und jener Figur. Die Zuschauer:innen werden so angehalten, Gesichtsausdrücke und Gesten genau zu beobachten und zu interpretieren. Jede Folge besteht aus einer einzigen, einstündigen Plansequenz, geschnitten wird überhaupt nicht. Ganz abgesehen davon, dass dies geradezu eine technische und schauspielerische Meisterleistung ist, verleiht es der Interaktion der Figuren eine unerreichte Eindringlichkeit, die einem mitunter einen Schauer über den Rücken jagt. 

Jamies Vater ist ein gescheiterter Kleinbürger mit einem kleinen Klempnerunternehmen und er war, wie viele Väter in der Serie, während der Entwicklung seines Sohnes kaum anwesend. Wenn er einmal da war, dann versuchte er, seinen Sohn vom Sport zu überzeugen. Fußball oder Boxen. Doch Jamie war schon immer klein und dünn und er malte lieber, als auf dem Platz zu stehen. Und wenn er ausrutschte oder das Tor verfehlte und zu seinem Vater auf der Tribüne hinüber sah, dann sah dieser in die andere Richtung. So lernte Jamie schon früh, dass (echte) Männer nicht versagen. Später, nachdem er von seinen Eltern einen Computer geschenkt bekam, da sagten ihm auch die Männlichkeitsinfluencer auf Youtube, Andrew Tate und Co., dass Männer nicht versagen. Dass sie Alphas sein müssten, dass sie sich durchsetzen müssten, gegen ihre Konkurrenz und gegen widerspenstige Frauen. Jamie lernt so, was der Codebegriff „80/20“ bedeutet. 80 Prozent der Frauen stünden angeblich auf nur 20 Prozent der Männer. Der Rest gehe leer aus. Der Rest, das seien dann keine Männer, das seien die Betas, die Incels. 

Jamie betrachtet sich als Verlierer. Und objektiv betrachtet, ist er auch einer. Das Unternehmen seines Vaters läuft immer schlechter. Das Geld wird knapp. Die Nachbarn reden schon. Jamie wird in der Schule gemobbt. Ein Schwächling sei er und hässlich. Als er sich doch traut, Katie zu fragen, ob sie mit ihm auf den Prom gehen würde, antwortet sie: „I’m not that desperate.“ Auf Instagram macht sie sich über ihn lustig, bezeichnet ihn als „Incel“. Auch Katie lebt schon in einer „80/20“-Welt. Jamie trägt bald ein Messer in der Tasche und Rachegedanken im Kopf. Erniedrigt von einem Mädchen. Echte Männer können das nicht auf sich sitzen lassen. Eines Abends folgt er ihr und ersticht sie. 

Alles nur wegen des Smartphones?

Der Serienmacher Jack Thorne tourt jetzt durch die Talkshows des Vereinigten Königreichs, trifft sich sogar mit Labour Premier Keir Starmer und fordert ein Smartphoneverbot an Schulen. Die bösen Internetmänner seien das Problem, die würden nur wegen des Geldes unsere Jugend mit giftigen Ideen füttern. Doch ist damit alles gesagt? Hat Jamie einen Femizid begangen, weil Andrew Tate es ihm ins Ohr gefüstert hat? Müsste man nur den bekannten Internetvergewaltiger und seine „Bros“ in eine Zelle ohne Internetzugang sperren und die grassierende Gewalt gegen Frauen wäre aus der Welt? Nein, natürlich nicht und da ist Adolescence auch klüger als ihr Macher. Diese Serie zeigt, in welchen Verhältnissen Jamie lebt. 

Jamies Schule ist ein Spiegelbild der bürgerlichen Gesellschaft. Atomisierte Individuen, totale Entsolidarisierung und Entfremdung, eine gewalttätige Rang- und Hackordnung, als wäre man unter Schimpansen. Die Geschlechter leben streng getrennt. Man achtet auf Kleidung, Schuhe und andere Statussymbole. Alle, die aus der Norm fallen, werden gnadenlos diszipliniert oder von der Gemeinschaft isoliert. Es gibt nur einen Weg, kein Opfer von Mobbing zu werden, selbst der Mobber sein. Soziale Medien wie Instagram versetzen diese Verhältnisse aus dem Klassenraum auch in die Freizeit. Wer folgt wem, wer teilt welche Story und wer schreibt welchen Kommentar unter die Posts? Instagram, Snapchat und TikTok erfinden nichts Neues, doch geben sie dem Verhältnis eine neue Abstraktion und gleichzeitig eine noch nie dagewesene Unmittelbarkeit, sie beschleunigen Prozesse und füllen jetzt Räume, die früher als Fluchtorte, als Ausgleich von der Schule gedient haben. 

Zu Hause ist es nicht besser. Als die Psychologin Jamie fragt, ob sein Vater seinen Job mag, antwortet dieser: „He fixes toilets, what do you think?“ Und in der Tat, der Haussegen hängt zunehmend schief, das Einfamilienhaus, der Van, die Firma, die Familie, sie alle sind bedroht. Die Folgen von Corona, die wirtschaftliche Flaute, die Sparpoltik der Tory- und jetzt der Labour-Regierung, all dies lässt Jamies Vater, den kollektiven britischen Kleinbürger, schwitzen. Die Ehefrau kann nicht mehr ewig Hausfrau sein, dafür bringt der Mann zu wenig Geld nach Hause. Hunderttausende Männer, gestern noch „ihr eigener Chef“, Familienväter und „liebende Ehemänner“, sind heute Bankrotteure, Arbeitslose, Versager, Geschieden.

Doch die Frauen sind heute nicht mehr gezwungen, sich diesem Untergang als treue Ehefrauen anzuschließen und den zerstörerischen Selbsthass ihrer Ehegatten, der sich immer häufiger in patriarchalischer Gewalt äußert, stoisch zu ertragen. Sie können heute ohne die Erlaubnis ihres Ehemannes arbeiten gehen, können sich scheiden lassen, sich unabhängig machen und auf eigenen Beinen stehen. Und das tun sie auch zunehmend. Jede dritte Ehe wird geschieden. 

Was in den Familien der Babyboomer noch schleichend vor sich geht, das spiegelt sich in radikalisierter Form in der Jugend. Junge Männer verlieren immer häufiger den Anschluss. Während junge Frauen gleichzeitig in traditionell männlich dominierte Sphären vordringen: die höhere Schule, das Studium, gut bezahlte Stellen, Managerposten, schließlich die Politik. Im Wintersemester 2021/22 studierten in Deutschland erstmals mehr junge Frauen als Männer. Im Durchschnitt der westlichen Industrienationen haben heute 54 Prozent der jungen Frauen (25- bis 34-Jährige) und nur 41 Prozent der jüngeren Männer mindestens einen Bachelor-Abschluss. Gleichzeitig steigt der Anteil von jungen Männern ohne Ausbildung, ohne Arbeit und ohne Zukunft seit Jahren kontinuierlich an. In Großbritannien, wo Adolescence spielt, gibt es heute zum ersten Mal in der Geschichte mehr junge Männer als Frauen, die außerhalb des Erwerbslebens stehen. Unter ganz jungen Arbeiter:innen (22-29 Jahre)  in Großbritannien hat sich der Gender-Pay-Gap umgekehrt: Dort verdienen junge Frauen, ebenfalls das erste Mal in der Geschichte, mehr als Männer. Geht man mit dem Alter nach oben, so begibt man sich auf eine Reise durch die Zeit: zwischen 30 und 39 Jahren beträgt der Gender-Pay-Gap dort 4.4 Prozent, bei Arbeiter:innen zwischen 40 und 49 Jahren, ist er doppelt so hoch, nämlich 9.1 Prozent.

Die antifeministische Rebellion der überflüssigen Männer

Diese jungen Männer der Arbeiter:innenklasse, vor allem der unteren Schichten und der Arbeitslosen, fürchten die neue Konkurrenz durch die Frau. Sie empfinden es als eine Entthronung. Die Gesellschaft ist nicht länger exklusiv für sie geschaffen, sie stellen nicht mehr automatisch diejenige Gruppe innerhalb der Gesellschaft, die ökonomisch „potent“ ist, die den Lebensunterhalt für sich und ihre Frau erwirtschaften können. Immer häufiger verdienen Frauen in Paarbeziehungen heute mehr als Männer. Gleichzeitig heiraten aber auch die Frauen tendenziell nach oben oder streben dies an. Auch sie haben noch das Klischee vom Mann als „Breadwinner“ vor Augen. Alle diese Tendenzen produzieren eine wachsende Zahl junger Männer, die sich im Konkurrenzkampf von jungen Frauen abgehängt und verschmäht fühlen. Diese jungen Männer sind anfälliger für die immer noch weitverbreiten sexistische Ideen und so richtet sich ihr Hass auf die selbstbewussten, emanzipierten Konkurrentinnen. Paradoxerweise führt das emanzipative Element des Kapitalismus, die Frau schrittweise aus ihrem ökonomischen Gefängnis in der Familie zu befreien, nicht dazu, dass sexistische Ideen abzusterben beginnen, sondern das Gegenteil tritt ein. Die unaufhaltsam fortschreitende ökonomische Emanzipation der Frau führt zu einer sexistischen Gegenoffensive. Dabei wird die Mehrheit der Femizide in Großbritannien (und in Deutschland) von 26-35 Jährigen begangen. Allen Möglichkeiten der ökonomischen Kontrolle beraubt, versuchen diese sexistisch aufgehetzten Männer innerhalb und außerhalb der Familie, die „alten Verhältnisse“ nun mit dem einzigen Mittel, über welches sie noch verfügen, wiederherzustellen: mit Gewalt. Friedrich Engels schrieb über diesen Vorgang bereits vor über 140 Jahren:

[In der Proletarierfamilie] fehlt alles Eigentum, zu dessen Bewahrung und Vererbung ja gerade die Monogamie und die Männerherrschaft geschaffen wurden, und hier fehlt damit auch jeder Antrieb, die Männerherrschaft geltend zu machen. Noch mehr, auch die Mittel fehlen; das bürgerliche Recht, das diese Herrschaft schützt, besteht nur für die Besitzenden und deren Verkehr mit den Proletariern; es kostet Geld und hat deshalb armutshalber keine Geltung für die Stellung des Arbeiters zu seiner Frau. Da entscheiden ganz andere persönliche und gesellschaftliche Verhältnisse. Und vollends seitdem die große Industrie die Frau aus dem Hause auf den Arbeitsmarkt und in die Fabrik versetzt hat und sie oft genug zur Ernährerin der Familie macht, ist dem letzten Rest der Männerherrschaft in der Proletarierwohnung aller Boden entzogen – es sei denn etwa noch ein Stück der seit Einführung der Monogamie eingerissenen Brutalität gegen Frauen.1

Woher kommen Femizide?

Der Femizid ist die höchste Form der kollektiven Bestrafung der Frau dafür, dass sie es gewagt hat, sich ökonomisch vom Mann zu emanzipieren. Solange der Kapitalismus existiert, werden diese Widersprüche nicht aufzulösen sein. Im Kapitalismus wird jede „Vernunft Unsinn, jede Wohlthat Plage“.2 Die fortschreitende und auch prinzipiell unumkehrbare ökonomische Emanzipation der Frau durch ihren vollen Eintritt ins Arbeitsleben, wird auf jedem Schritt durch ideologische, gesetzliche, steuerliche und ökonomische Maßnahmen des Staates behindert. Denn der kapitalistische Staat hat, gerade jetzt, wo er wieder Kriege führen können muss, ein gesteigertes Interesse an der Stabilisierung der zerfallenden Familienverhältnisse in der Proletarierwohnung und an der Produktion neuer Kindersoldaten. Die Folge sind Angriffe auf die reproduktiven Rechte der Frau und damit der Versuch einer stärkeren Hineindrängung der Frau in die noch weitgehend privatisierte Kinderaufzucht und damit in den Haushalt und unter die ökonomische Abhängigkeit der Männer. Diese pronatalistische Offensive und der augenscheinliche Antagonismus zwischen Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt „[…] wird künstlich wachgehalten und gesteigert durch die Presse, die Kanzel, die Witzblätter, kurz, alle den herrschenden Klassen zu Gebot stehenden Mittel.“3

Andrew Tate und seine algorithmusgedopten Internetbros sind also nicht die Ursache für die einreißende Gewalt gegen Frauen, sie sind lediglich ein Sympton der unendlichen Widersprüchlichkeit der Entwicklung der Geschlechterverhältnisse im faulenden Kapitalismus. Alle gesellschaftlichen Freiheiten, die einst erzielt wurden, stehen heute wieder zur Disposition. In Anlehnung an einen Ausspruch Trotzkis könnte man sagen: „All das, was bei ungehinderter Entwicklung der Gesellschaft vom nationalen Organismus als Kulturexkrement ausgeschieden werden mußte [das Patriarchat], kommt jetzt durch den Schlund hoch; die kapitalistische Zivilisation erbricht die unverdaute Barbarei.“4 Das ist die Physionomie des modernen Antifeminismus. Die Antwort auf Jamies Femizid kann also nicht sein, das Smartphone aus der Schule zu verbannen oder das Internet abzustellen. Die Antwort muss eine energische Bekräftigung dessen sein, was Clara Zetkin bereits 1889 ausrief: 

Die Emanzipation der Frau wie die des ganzen Menschengeschlechtes wird ausschließlich das Werk der Emanzipation der Arbeit vom Kapital sein. Nur in der sozialistischen Gesellschaft werden die Frauen wie die Arbeiter in den Vollbesitz ihrer Rechte gelangen. In Erwägung dieser Tatsachen bleibt den Frauen, denen es mit dem Wunsche ihrer Befreiung ernst ist, nichts anderes übrig, als sich der sozialistischen Arbeiterpartei anzuschließen, der einzigen, welche die Emanzipation der Arbeiter anstrebt.5

Fußnoten

  1. 1. Engels, Friedrich: „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ in: Karl Marx/Friedrich Engels – Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 21, 5. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR, S.73f.
  2. 2. Goethe, Johann Wolfgang: Faust, der Tragödie erster Teil, Reclam, Stuttgart 2000, S.55.
  3. 3. Karl Marx An Sigfrid Meyer und August Vogt (9. April 1870), in: Karl Marx, Friedrich Engels: Irland: Insel in Aufruhr, Dietz Verlag Berlin 1975, S. 211–217.
  4. 4. Trotzki, Leo: Portrait des Nationalsozialismus (1933), https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1933/06/natsoz.htm [22.04.2025].
  5. 5. Zetkin, Clara: Für die Befreiung der Frau! Rede auf dem Internationalen Arbeiterkongreß zu Paris (19. Juli 1889), https://www.marxists.org/deutsch/archiv/zetkin/1889/07/frauenbef.htm [21.04.2025].

Mehr zum Thema