Was die NRW-Wahl bedeutet – oder: Warum hat Schulz versagt?

13.05.2017, Lesezeit 8 Min.
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Die Wahl im Kernland der SPD wird über die Bundestagswahl entscheiden. Vieles spricht dafür, dass die SPD ihre Chance mit Schulz verspielt hat. Woran liegt das?

Die SPD ist gut ins Jahr gestartet. Schub bekam der neue Kandidat Martin Schulz – neben der Tatsache, dass er weder Sigmar Gabriel noch Angela Merkel ist – vor allem durch die Amtseinführung Donald Trumps. Als ehemaliger EU-Parlamentspräsident und Mann mit verbal oft „harter Kante“ gegen rechte Populist*innen wie Nigel Farage oder Silvio Berlusconi war er die glaubwürdigste Gegenfigur zu Trump, die die SPD aufbieten konnte. Ein Kandidat gegen die AfD mit einem EU-Profil. Ein Kandidat, der als „jemand von außen“ in einer Zeit der relativen Schwäche Merkels die Führung in der GroKo oder sogar ein anderes SPD-Bündnis für die Bundestagswahlen vorbereiten könnte.

Zwei Landtagswahlen später und der Glanz ist weg. Das Saarland ging mit einer anti-linken Kampagne an Annegret Kramp-Karrenbauer, eine Provinz-Merkel. Schleswig-Holstein ging für die Sozialdemokrat*innen überraschend deutlich verloren. Neben regionalen Gründen lag das auch an der fehlenden Glaubwürdigkeit Martin Schulz‘, ein Erneuerer durch Reformen zu sein, während er für die Politik der Bundesregierung steht.

Nun ist NRW ein besonders Bundesland: Es ist nicht nur das bevölkerungsreichste in Deutschland, sondern vor allem das Kernland der SPD. Wenn die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ihr Amt nicht verteidigen kann, wird das mehr als eine symbolische Niederlage sein. Es wird bedeuten, dass die SPD ihre Basis nicht zur Wahlurne bringen kann, also keine ernst zu nehmende Konkurrentin für Merkel ist. Wenn Kraft ihre Wahl verliert, wird Schulz die Bundestagswahl verlieren – und wir dürfen uns auf vier weitere Jahre Merkel „freuen“.

War Schulz „nur ein Hype“?

Die in der Linken verbreitete These, dass Schulz „nur ein Hype“ war, ist falsch und beruht auf einer falschen Analyse. Klar, alle positiven Erwartungen an den „Gottkanzler“ mussten früher oder später der Ernüchterung weichen – die große, unausweichliche Schulz-Ernüchterung kommt aber früher als erwartet. Bereits zu Anfang der „Schulz Mania“ schrieben wir zwar:

Ein Kanzler Schulz wäre ein Erneuerer des schwarz-roten Bündnis unter anderem Vorzeichen. Einer, der eine Anpassung der veränderten Bedürfnisse des deutschen Kapitals auf internationaler Bühne voranbringt und innenpolitisch die Überdrüssigkeit mit Merkel in geordnete Bahnen lenkt. Um das Umfragehoch zu halten und auszubauen, müsste er die Illusion in einen Politikwechsel weiter schüren, so wie Sanders oder Corbyn.

Doch die vielen Eintritte junger Mitglieder zu Jahresanfang waren echt. Die viel belächelten 100 Prozent auf Schulz‘ Wahlparteitag zeigten einen echten Rückhalt in der Partei. Auch die Umfragen bildeten keine apolitische und inhaltslose „Wendestimmung“ ab, wie es die Wahlumfrageinstitute behaupten. Die bürgerliche Arbeiter*innenpartei, also eine Partei mit kapitalistischem Inhalt und lohnabhängiger Basis vermittels der DGB-Bürokratien, existiert noch. Sie ist groß und sie hat Potential. Sie hat allerdings kein Potential für die Arbeiter*innenklasse, die sie wenn überhaupt nur als Instrument verwendet, um Regierungssitze und Legitimität für ihr kapitalistisches Programm zu bekommen. Für Wahlen könnte es reichen.

Die SPD hat aber ihr Umfrage- und Beitritts-Hoch nicht genutzt, da sie für nichts mobilisierte. Dabei gab es durchaus Mobilisierungsinhalte: Klar will niemand in der SPD-Führung Hartz IV wirklich abschaffen. Die wenigen Reformvorschläge von Schulz, besonders die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung, hätten aber durchaus Leute auf die Straße bringen können. Der rechte Terror in Deutschland bleibt ebenfalls unbeantwortet. Beziehungsweise bestand die Antwort wieder nur in warmen, nationalen Worten. Es sieht nicht so aus, als würden SPD oder DGB-Bürokratien gegen den G20-Gipfel mobilisieren. In Hamburg droht der SPD-Innensenator in einem skurrilen Statement sogar G20-Gegner*innen indirekt mit Erschießung.

Und so kommt es, dass in der neuesten Deutschlandtrend-Umfrage 66 Prozent der Befragten sagen: „Mir ist unklar, welche Politik Martin Schulz umsetzen will.“ Hier äußert sich der Widerspruch eines klassischen Sozialdemokraten: Er will den Arbeiter*innen geben, aber ohne den Kapitalist*innen zu nehmen. Bei Schulz heißt das: Die Auswirkungen der Agenda 2010 sind schlecht, aber die Agenda ist gut, von „ungewollten Auswüchsen“ abgesehen. Das ist den Leuten jedoch nicht genug. Sie wollen echte Antworten auf ihre Probleme: Altersarmut, Leiharbeit und Prekarisierung insgesamt, Gender-Pay-Gap, fehlende Zukunftsperspektive der Jugend. Schulz gibt sie ihnen nicht, sondern spricht stattdessen nur von „sozialer Gerechtigkeit“ als vage Phrase.

Alles in allem sieht sich die Sozialdemokratie trotz der vielfachen Widersprüche in Deutschland und weltweit nicht gedrängt, ihre Sessel zu verlassen und wenigstens für ihre eigenen sozialpartnerschaftlichen Ziele auf der Straße zu werben. Damit macht sie sich langfristig immer irrelevanter, aber das scheint ihr noch lieber zu sein, als die eigene Regierungspolitik zu hinterfragen. Die fehlende Mobilisierung für Kämpfe für Reformen ist der Hauptgrund für die – trotz Mitgliederzuwachs und -verjüngung – in Wahlen versagende SPD.

Warum wir in einer politischen Eiszeit leben

Auch die Polarisierung auf niedrigem Klassenkampfniveau, die wir noch im Dezember prognostiziert hatten, blieb aus. Die BRD erweist sich als noch stabiler als nach Brexit- und Trump-Schock vielfach angenommen – zumal Trump selbst immer wieder an seine Grenzen stößt und mit Emmanuel Macron als Sieger gegen Le Pen in Frankreich vorläufig wieder eine gewisse beruhigende Wirkung für die EU eintritt. All diese Ruhe ist natürlich auf Zeit, bis es die nächste große Krise gibt, die womöglich die EU ganz auseinander reißt. Aber es ist die Zeit, in der wir leben: eine politische Eiszeit.

Die AfD ist an ihre Grenze gestoßen, sie wird in der kurzen Frist keine Spaltungsgefahr für die Unionsparteien darstellen. Mit den „Sicherheits-“ und Asylgesetzverschärfungen hat die Union-SPD-Koalition wichtige Programmpunkte bereits umgesetzt, nicht zuletzt durch die vielfachen Abschiebungen in das Kriegsland Afghanistan.

Eine progressive Dynamik von links konnte sich bisher nicht entwickeln. Sie existierte mit Schulz nur auf dem Papier, da er nie für etwas mobilisierte. Die Linkspartei hatte kein Angebot, außer sich in allem der SPD unterzuordnen. Von Kriegspolitik bis Hartz IV war sie zu Kompromissen bereit. Die Reste von roten Haltelinien gingen verloren. Die tatsächliche schon bestehende RRG-Regierungspolitik in Berlin zeigte wieder keinen wirklichen Unterschied zu den anderen Parteien auf. Und schließlich mobilisierte auch die Linkspartei dieses Jahr niemanden auf die Straße.

Eine unabhängige Bewegung von Arbeiter*innen und Jugendlichen ist bis auf heroische Ausnahmen nicht in Sicht. So können die überbezahlten Berufspolitiker*innen ihr kapitalistisches Programm fortsetzen, das auf Prekarisierung, Spaltung und Chauvinismus beruht. Ohne eine antibürokratische Strömung in den DGB-Gewerkschaften wird es auch hier für die obersten Bürokrat*innen ein leichtes sein, Prekarisierungsprogramme wie Leiharbeit im Interesse des Kapitals weiter auszuführen.

Zu diesen subjektiven Faktoren kommt die relativ gute Konjunktur in Deutschland, die natürlich über Handels- und Kapitalbilanzüberschüsse auf Kosten des „Rests der Welt“ geht, wie der imperialistische Konkurrent Macron aus Frankreich nicht müde wird zu betonen. Als „Verteidiger“ der deutsch-geführten EU ist Schulz vielleicht gar nicht so notwendig, wie er selbst dachte. Einfach weiter verwalten kann Merkel auch, die besonders seit 1998 hundertfach enttäuschten SPD-Wähler*innen lassen sich mit der Option „Fortsetzung der GroKo“ nicht begeistern.

SPD und Union liegen bei den Umfragen in NRW gleichauf. Schulz ist noch nicht beendet, aber eine Abwahl von Rot-Grün wäre eine große Niederlage. Ein Unionssieg würde die Schulz-Kanzleroption beenden und damit auch die Option von Rot-Rot-Grün, auf die sich die Linkspartei momentan voll und ganz stützt. Ob die SPD noch eine Verlängerung bekommt oder nicht: Eine unabhängige Organisierung im Interesse der Arbeiter*innenklasse, der Jugendlichen und Unterdrückten ist jetzt schon nötig.

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