Was kann der “Gottkanzler”?

07.02.2017, Lesezeit 6 Min.
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Seit Tagen nimmt Martin Schulz einen Umfragerekord nach dem nächsten. Kann Schulz Merkel tatsächlich besiegen? Und wenn ja, was würde das für die Arbeiter*innen, die Frauen, die Migrant*innen und die Jugend im Land bedeuten?

Wir zitieren nicht oft den SPIEGEL, doch wo er Recht hat, hat er Recht:

Noch vor Kurzem lag die SPD am Boden. Über Monate steckten die Sozialdemokraten im Umfragetief fest: Werte um die 20 Prozent gehörten zum Alltag. Manch einer fragte sich schon, ab wann man noch von einer Volkspartei sprechen könne.
Dann kam Martin Schulz. Seit sich die Parteispitze auf den früheren EU-Parlamentspräsidenten als Kanzlerkandidaten geeinigt hat, ist eine regelrechte SPD-Euphorie ausgebrochen. Plötzlich erfährt die Partei eine Zustimmung, von der sie lange kaum zu träumen wagte. Jüngstes Beispiel: In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa im Auftrag der “Bild”-Zeitung klettern die Sozialdemokraten auf 31 Prozent – und liegen damit sogar vor der Union.

Martin Schulz als Deus ex machina? Retter der SPD? “Gottkanzler” gar, wie er auf Facebook-Meme-Seiten heißt?

„Erneuerung” der Sozialdemokratie?

Der Hype um Martin Schulz erinnert stark an den Hype, der den Labour-Chef Jeremy Corbyn umgibt, oder an den um Bernie Sanders, bevor er sich hinter Hillary Clinton und kürzlich sogar teilweise hinter Donald Trump einreihte. Und zwar nicht nur, weil es um ältere weiße Männer geht, die in einer vor allem an Jugendliche gerichtete Internetkampagne zu Superhelden stilisiert wurden. Sondern vor allem, weil in diese älteren weißen Männer die Hoffnung gelegt wird, die verknöcherte rechte Sozialdemokratie, die für Sozialkahlschlag und Kriegstreiberei steht, zu erneuern.

Das ist das wirklich Mysteriöse an der ganzen Sache. Denn es ist zwar durchaus einleuchtend, dass nach über elf Jahren Merkel – die Verkörperung der Alternativlosigkeit – eine Wechselstimmung im Land existiert. Eine Wechselstimmung, die nur deshalb bisher keinen anderen Ausdruck – mit Ausnahme des rasanten Aufstiegs der AfD – gefunden hatte, weil es im gesamten bürgerlichen Parteiensystem keine*n andere*n Kandidat*in gab. Als Gabriel sich endlich von der Kanzlerkandidatur zurückzog, war daher das kollektive Aufatmen der SPD zu hören. Doch es ist völlig irrational, zu glauben, dass Schulz die SPD in irgendeiner Weise substanziell verändern würde. Die SPD, die Partei von Hartz IV und Kriegseinsätzen; die Partei, die seit 2013 als Juniorpartnerin in der Großen Koalition ist und Merkels Politik mitträgt; die Partei, die in wenigen Wochen mit dem Kriegstreiber Frank-Walter Steinmeier den neuen Bundespräsidenten stellen wird.

Der Hype um Martin Schulz ist ein Hype um die Vorstellung vom “letzten aufrechten Sozialdemokraten”. Doch bei genauerem Hinschauen ist auch Schulz längst nicht der große Wechselkandidat. Auch Schulz verteidigt die Agenda 2010, trotz aller “Bedenken”.

Der Trump-Effekt

Schulz steht wie kein anderer für das imperialistische Projekt der EU. Insbesondere die jüngere Generation, die es gewohnt ist, sich mobil in Europa zu bewegen und international zu verständigen, ist von den zunehmenden Grenzkontrollen abgeschreckt. Schulz kann ihnen glaubwürdiger als Merkel vorgaukeln, dass unter seiner Kanzlerschaft wieder ein europäischerer Geist wehen würde.

Allerdings steht Schulz keineswegs für ein offenes Europa – er steht für ein deutsches Europa. Das hat er insbesondere in den Austeritätsverhandlungen mit den südeuropäischen Staaten verdeutlicht. Im Spanischen Staat, Italien und Griechenland hat er sich einen Namen als harter Hund gemacht, der rücksichtslos Kürzungen und Privatisierungen durchsetzte. Anders als hierzulande weiß die Arbeiter*innenklasse in den südeuropäischen Staaten ganz genau, wofür Schulz steht.

Der scheinbare Europäer Schulz ist in Wirklichkeit ein knallharter Vertreter deutscher Macht- und Kapitalinteressen. In einer möglichen Kanzlerschaft würde er die EU als deutsches Vehikel in der nationalistischen Konkurrenz mit den USA stärken. Die Wahl von Trump mit der Ankündigung einer protektionistischen Wirtschaftspolitik hat die deutsche Bourgeoisie aufgeschreckt. Sie muss Lösungen finden, um den wichtigsten Absatzmarkt für die gewaltigen deutschen Exportüberschüsse zu halten oder ein teilweises Wegfallen zu kompensieren.

Ironischerweise spielt die Abneigung, die große Teile der deutschen Bevölkerung gegen Trump verspüren, auch hier wieder Schulz in die Karten. Während aus den Reihen der Union die Kommentare zu Trump gemäßigt blieben und Merkel vorsichtig abwartet, schlagen Schulz und die SPD scharfe Töne an. So sagte Schulz am Donnerstag gegenüber dem SPIEGEL: „Wenn Trump mit der Abrissbirne durch unsere Werteordnung läuft, muss man klar sagen: Das ist nicht unsere Politik.“

Schulz geht selbst mit einem nationalistischen Programm auf Stimmenfang gegen Trump. Das Einreiseverbot für Menschen aus sieben, mehrheitlich muslimischen Staaten nannte Schulz „unerträglich“ – als ob die von ihm mit aufgebaute Festung Europa nicht existiere. Die rassistische Abschottungs- und Abschiebungspolitik würde auch unter seiner Kanzlerschaft weiter vertieft werden.

Neuheits-Hype oder Erneuerung?

Sowohl bei einem Sieg von Merkel als auch von Martin Schulz, wäre die erste Option von Union und SPD wohl die Große Koalition. Eine erneute GroKo würde die Fortsetzung der aktuellen Politik mit stabilen Mehrheitsverhältnissen versprechen. Ein Kanzler Schulz wäre ein Erneuerer des schwarz-roten Bündnis unter anderem Vorzeichen. Einer, der eine Anpassung der veränderten Bedürfnisse des deutschen Kapitals auf internationaler Bühne voranbringt und innenpolitisch die Überdrüssigkeit mit Merkel in geordnete Bahnen lenkt.

Um das Umfragehoch zu halten und auszubauen, müsste er die Illusion in einen Politikwechsel weiter schüren, so wie Sanders oder Corbyn. Bisher ist das “Phänomen Schulz” aber längst nicht mit diesen beiden Politikern zu vergleichen. Auch wenn es schon ein paar Tausend Neueintritte in die SPD gab, und ein paar dutzend spaßige Memes durch das Internet fliegen, ist das nicht vergleichbar mit hunderttausenden Neueintritten in die Labour-Partei oder der Massenbewegung, die Bernie Sanders teilweise hinter sich wusste.

Das, was die “Schulz Mania” vor allem ausdrückt, ist der Durst nach irgendeiner glaubwürdigen Alternative. Es ist unwahrscheinlich, dass sich der Hype um Schulz bis zur Bundestagswahl im September halten wird. Doch unabhängig davon ist klar: Es liegt an der bisherigen Unfähigkeit der Linkspartei und der radikalen Linken, gegen das Merkel-Regime eine Alternative der Arbeiter*innen, der Migrant*innen, der Frauen und der Jugend zu erheben. Dass Schulz aktuell die Rolle eines “Erneuerers” spielen kann, ist weder sein Verdienst noch Ausdruck davon, dass die SPD sich ändern könnte. Es ist ein Zeichen, das die Linke in Deutschland wahrnehmen muss: ein Zeichen, dass ein radikaler Bruch mit der unsozialen Politik der Regierung für breite Teile der Bevölkerung erstrebenswert ist. Ein Weckruf zur Tat.

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