SPD-Kanzlerkandidatur: Gabriels Eingeständnis der kommenden Wahlniederlage

25.01.2017, Lesezeit 6 Min.
1

Die Absage an die Kanzlerkandidatur von Sigmar Gabriel ist ein Eingeständnis der Schwäche der Sozialdemokratie insgesamt und seiner Person im Besonderen. Mit dem Gang ins Außenministerium will er sich über die Wahlniederlage hinweg einen Posten sichern, der ihm eine Rückkehr 2021 ermöglicht.

Endlich steht es fest: Martin Schulz wird Kanzlerkandidat der SPD und Parteivorsitzender. Sigmar Gabriel wird dafür von seinem Posten als Parteichef zurücktreten und vom Wirtschafts- ins Außenministerium wechseln. Diese Position wird durch die Übernahme des Bundespräsidentenamts durch Frank-Walter Steinmeier (SPD) frei. Das Wirtschaftsministerium soll die ehemalige Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) besetzen.

Dieses große sozialdemokratische Stühlerücken hat einen lachenden Gewinner: Sigmar Gabriel. Direkt nach seiner Entscheidung zollten ihm Politiker*innen über die Parteigrenzen hinweg Respekt und er wurde dafür gelobt, hinter dem Wohl seiner Partei zurückzutreten. Doch tatsächlich zieht Gabriel einfach nur die Konsequenz aus seiner Unbeliebtheit innerhalb der SPD und darüber hinaus. Er ist als Parteivorsitzender für die schlechten Umfragewerte, die seine Partei bei mageren 20 Prozent sehen, verantwortlich.

Gabriel steht sinnbildlich für die arbeiter*innenfeindliche Politik der SPD, die er seit 2009 anführte. Damals hatte die Verwaltung der Weltwirtschaftskrise zugunsten der Banker*innen und Konzerne gemeinsam mit der CDU in Merkels erster Regierung für die größte SPD-Wahlniederlage in der Nachkriegsgeschichte gesorgt. Gabriel ist genauso wie Steinmeier politischer Ziehsohn des Hartz-IV-Kanzlers Schröder und ist für seine Nähe zu den Konzernbossen bekannt, aus der er keinen Hehl macht.

Doch mit der Benennung Martin Schulz‘ als Kanzlerkandidaten hat die SPD weder einen „Neustart“ oder gar einen „Linksruck“ eingelegt. Sigmar Gabriel rettet sich hingegen zum politisch besten Zeitpunkt vor der sicheren Wahlniederlage – und dem damit verbundenen Karriere-Aus – in die seichten Gewässer des Auswärtigen Amts und sichert sich sogleich den häufig beliebten Außenminister*innenposten, von dem aus er zu gegebener Zeit (2021?) erneut nach dem Kanzleramt greifen kann. Das kommt jedoch dem Eingeständnis der Niederlage bei den kommenden Bundestagswahlen gleich. Eins kann man Gabriel lassen – er weiß, wann er vom sinkenden Schiff zu springen hat.

Martin Schulz hat jetzt die undankbare Aufgabe, der SPD ein akzeptables Wahlergebnis einzubringen. Gestern gab er sich kämpferisch: „Wir wollen einen Wahlkampf führen, der uns (…) mit dem Auftrag ausstattet, dieses Land zu führen“. Viele besonders in der SPD-Linken sehen in Schulz eine Art Messias, der die lahmende Sozialdemokratie aus Brüssel kommend wiederbeleben und zumindest mit der Merkel-CDU konkurrenzfähig machen kann.

Tatsächlich ist Martin Schulz’ Stärke seine Nicht-Präsenz in den innenpolitischen Debatten. Er war weder Kabinettsmitglied einer der vergangenen Regierungen und damit politisch für die neoliberalen Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse, die Jugendlichen und Migrant*innen verantwortlich, noch sind seine eigenen Positionen überhaupt bekannt. Er ist ein unbeschriebenes Blatt in der Bundespolitik – und das ist das beste Argument für ihn.

Wofür Schulz durchaus steht, ist die unter immer größerer Kritik stehende EU-Bürokratie. Das könnte besonders der Alternative für Deutschland (AfD) helfen, die sich den „Kampf“ gegen das Brüsseler Establishment schon seit ihrer Parteigründung auf die Fahne geschrieben hat. Die SPD-Führung möchte jedoch gemeinsam mit den Gewerkschaftsbürokratien in Zeiten des erstarkten Nationalismus auf der Welt (Brexit, Trump) und in Deutschland (Grenzkontrollen, Debatte um Obergrenze, rassistische Gesetze) die angeblichen Vorteile des imperialistischen Staatenblocks EU verteidigen.

Als ehemaliger Präsident des quasi machtlosen EU-Parlaments hat er ähnlich „staatsmännischen“ Charakter wie Angela Merkel in dieser Frage, die durch die brutale Durchsetzung der Spardiktate in Griechenland und Südeuropa international bekannt wurde. Es bleibt abzuwarten, wie viel Begeisterung ein solch „europäistischer“ Wahlkampf in der arbeitenden Bevölkerung auslöst, während die EU von rechts unter Beschuss steht und immer deutlicher als Projekt der deutschen Bourgeoisie wahrgenommen wird, um die eigenen geopolitischen Interessen durchzusetzen.

Innenpolitisch verspricht Schulz jedoch keine Abkehr von der Politik der Großen Koalition, die für prekäre Arbeitsverhältnisse, Ausweitung des Überwachungsstaates, Asylgesetzverschärfungen und außenpolitischem Militarismus steht. Tatsächlich ist er enger Vertrauter von Gabriel und Teil des Seeheimer Kreis der SPD-Rechten. Dem entsprechen auch die von ihm gestern angekündigten Wahlkampfschwerpunkte „soziale Gerechtigkeit und Sicherheit“.

Dass die SPD den Christdemokrat*innen sicherheitspolitisch nichts zu schenken hat, haben die gemeinsamen Gesetzesprojekte von Innenminister Thomas de Maizière (CDU) und Justizminister Heiko Maas (SPD) nach dem Anschlag in Berlin deutlich gemacht. Zusammen stehen sie für Fußfesseln für „Gefährder“, Ausweitung der Abschiebehaft und massive Abschiebewelle und die verstärkte Überwachung öffentlicher Plätze.

Wie sich die SPD „soziale Gerechtigkeit“ vorstellt, konnte man schon in den vergangenen Jahren gut sehen: „Mini-Mindestlohn“, Beibehalten der neoliberalen Agenda 2010, löchrige und unfähige Mietpreisgrenze und die „Rente mit 63“, die jedoch durch kommende Angriffe auf die Rente ausgeglichen wird. Diese Punkte brachte sie in der von rechts als „sozialdemokratisiert“ beschimpften GroKo durch – auch nach September dieses Jahres die wahrscheinlichste Machtoption sowohl für SPD als auch für CDU.

Doch auch wenn es entgegen aller Vorhersagen für eine Koalition links der Mitte – also das „Berliner Modell“ einer rot-rot-grünen Koalition – reichen sollte (und auch der politische Wille besteht), ist eine Wende hin zu sozialer Politik nicht zu erwarten. Gerade macht die R2G-Koalition von Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD) in Berlin deutlich, dass die SPD auch ohne CDU eine Politik betreiben kann, die im Interesse der Großunternehmer*innen und Immobilienhaie ist. Auf den vereinten Druck von Baumafia und konservativer Opposition im Abgeordnetenhaus wurde der kritische Stadtsoziologe und Staatssekretär Andrej Holm abgesägt und damit klar gemacht, dass auch von der neuen Regierung keine Politik für die Mieter*innen zu erwarten ist.

Auch wenn Schulz möglicherweise ein weniger blamables Ergebnis für die Sozialdemokratie einfahren kann, ändert sich an dem politischen Projekt dahinter – Verteidigung des deutschen Imperialismus und der dafür erforderlichen Sparmaßnahmen gegen die Arbeiter*innenklasse – nichts. Gabriel verlässt den Parteivorsitz und gesteht damit die sichere Wahlniederlage im September ein – eine Kampfansage sieht anders aus.

Mehr zum Thema