Wahlrechtsreform: Ampel will kleine Parteien endgültig aus dem Bundestag werfen

17.03.2023, Lesezeit 6 Min.
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Die Ampel will die bürgerliche Demokratie weiter einschränken, die 5-Prozent-Hürde verschärfen und den Bundestag reformieren. Was dahintersteckt und wie eine radikale Demokratie funktionieren kann, erklären wir im Artikel.

Zur Zeit arbeitet die Ampelregierung an einer Reform des Bundestages. Auch wenn es auf den ersten Blick sinnvoll erscheint, dass es weniger überbezahlte Mandatsträger gibt – schließlich werden für den Bundestag im aktuellen Haushalt Kosten von 1,14 Milliarden Euro veranschlagt – lohnt es sich, die Inhalte der Reform genauer zu betrachten. Der Bundestag soll zukünftig auf 630 Abgeordnete festgelegt werden. Das soll mit zwei zentralen Punkten erreicht werden:

Zum einen fallen die Überhangs- und Ausgleichsmandate weg. Überhangmandate erhalten Parteien, die gemeinsam mit gewonnen Wahlkreisen mehr Mandate erhalten würden, als ihnen eigentlich durch Zweitstimmen zustehen würden. Um das durch Überhangmandate gekippte Verhältnis aufrechtzuerhalten, erhalten die anderen Parteien entsprechende Ausgleichsmandate. Über diesen Wegfall beschwert sich besonders die CDU/CSU – da sie bisher am deutlichsten von dieser Regelung profitiert haben – und droht sogar mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht.

Der zweite Teil der Reform besteht darin, die Grundmandatsklausel abzuschaffen. Diese Klausel sorgt bisher dafür, dass Parteien, die mindestens drei Direktmandate erhalten, mit ihrem Zweitstimmenergebnis in den Bundestag einziehen, auch wenn sie weniger als 5% der Zweitstimmen erhalten haben. Nach 1957 hat davon nur 1994 die PDS und 2021 ihre Nachfolgepartei DIE LINKE profitiert.

Es ist kein Zufall, dass nachdem eine linke Partei durch ein solches Schlupfloch wie der Grundmandatsklausel die 5 Prozent Hürde umgehen konnte, diese Möglichkeit gestrichen werden soll. Die Bundestagsreform würde zwar die Kosten für den Bundestag senken, ihn aber noch undemokratischer gestalten als bisher und gleichzeitig die Regierung stärken.

Es ist selbstverständlich wichtig, gegen eine weitere Entdemokratisierung des Bundestags einzustehen und damit gegen die Bundestagsreform. Es ist jedoch genauso wichtig, nicht dort stehen zu bleiben, sondern den Klassencharakter des bürgerlichen Parlaments offenzulegen und ihm eine radikal andere Vision einer Demokratie der Arbeiter:innenklasse entgegenzusetzen. Denn während ein Döner mittlerweile weit über fünf Euro kostet, wir nicht wissen, wie wir unsere nächste Energierechnung bezahlen und die Inflation für viele von uns existenzgefährdend ist, machen sich Bundestagsabgeordnete von ihren 10.323,29 Euro, die sie monatlich erhalten, ein schönes Leben. Dass Abgeordnete in eine Lebensrealität gehoben werden, die für den absoluten Großteil der Menschen materiell unerreichbar ist, ist kein Zufall. Um die Herrschaft der Kapitalisten durchzusetzen, braucht es „Volksvertreter:innen“, die eigentlich dieselben materiellen Interessen wie die Bourgeoisie haben, die aber gleichzeitig dadurch, dass sie gewählt werden, den Anschein erwecken, sie würden diejenigen, die sie gewählt haben wirklich vertreten. Aber auch die Wahl selbst ist eine Farce: Es ist offensichtlich, dass eine alle vier Jahre stattfindende Wahl – während eine reale Kontrolle in der Zwischenzeit unmöglich ist, weil die Abgeordneten während ihrer Legislaturperiode nicht zur Rechenschaft gezogen werden können – keine echte demokratische Vertretung schaffen kann. Unabhängig davon sind aber auch rund 12% der in Deutschland lebenden Menschen gar nicht erst wahlberechtigt, da sie keine Staatsbürger:innenrechte besitzen. Von denjenigen, die wählen dürfen, wird ein relevanter Teil der Stimmen nicht berücksichtigt, weil die 5% Hürde gehörig aussortiert, bei der letzten Wahl 8,6% der Stimmen, um dem Bürgertum eine stabile Herrschaft zu garantieren.

Gerade jetzt, wo der Bundestag 100 Milliarden für die Bundeswehr beschlossen hat, und dies im direkten Gegensatz zu den Interessen derjeniger steht, die er vorgibt zu vertreten und 100 Milliarden in Bildung. Pflege und Erziehung so dringend benötigen, ist es umso wichtiger die Bundestagsreform abzulehnen und ein Programm wirklicher Demokratisierung vorzulegen. Einige Elemente davon müssen sein: Um das Parlament von den Interessen von Rheinmetall, Thyssenkrupp und Volkswagen zu lösen und den Interessen der Massen zu verpflichten ist es nötig, dass die Abgeordneten nicht mehr im völlig von der Gesellschaft entkoppeltem Reichtum leben sondern einen einfachen Arbeiter:innenlohn verdienen. Zusätzlich sollten sie einer wirklichen demokratischen Kontrolle unterliegen und deshalb ständig wählbar und abwählbar sein. Auch das Wahlrecht muss so gestaltet werden, dass tatsächlich jede Stimme zählt, und nicht aufgrund von Staatsbürger:innenschaft oder aufgrund einer Minderheitenmeinung einfach ignoriert wird. Das bedeutet, dass alle Menschen, die in Deutschland leben, auch wählen dürfen – nicht erst ab 18 Jahren, sondern schon ab 15 Jahren –, und die undemokratische 5% Hürde abgeschafft wird. Undemokratische Institutionen wie das Präsidentenamt müssen abgeschafft werden.

Diese Perspektive geht weit über das Verständnis von “Demokratie” in der bürgerlichen Gesellschaft hinaus. Dennoch vollenden sie nicht die Arbeiter:innendemokratie. Denn in der bürgerlichen Gesellschaft hört die Demokratie „am Fabriktor“ auf. Dabei ist es gerade die Überwindung der Trennung zwischen Politik und Ökonomie, zwischen Öffentlichem und (angeblich) Privatem, die eine Voraussetzung für eine radikale Demokratie der Arbeiter:innen sein muss. Dafür ist es notwendig, dass sich sämtliche Arbeiter:innen in Deutschland und weltweit selbst organisieren, und in Versammlungen und Räten über ihre Arbeit und über alle gesellschaftlichen Angelegenheiten, die sie betreffen, selbst bestimmen.

Die Pariser Kommune war ein erstes geschichtliches Vorbild für eine solche radikale Demokratie der Arbeiter:innen, welche später in den Sowjets (Räten) der Russischen Revolution ihren höchsten Ausdruck fand. Sie beseitigte die größte aller bürgerlichen Illusionen: die Gewaltenteilung als demokratische Garantie. Im Gegenteil sorgt die Trennung in Exekutive, Legislative und Judikative für die Unmöglichkeit der vollständigen Kontrolle der Arbeiter:innen und der Massen über alle politischen Prozesse. In der Vision der Pariser Kommune und der Rätedemokratie hingegen sollten die legislativen und exekutiven Prozesse in einer einheitlichen „arbeitenden Körperschaft“ zusammengefasst werden – jederzeit wähl- und abwählbar, mit einem durchschnittlichen Arbeiter:innenlohn, die über alle Geschicke der Gesellschaft entscheidet.

Die Bundestagsreform steht am entgegengesetzten Ende des Spektrums: Sie geht nicht einmal einen kleinen Schritt in Richtung einer größeren demokratischen Repräsentation, sondern zementiert die antidemokratische 5%-Hürde.

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