Spiegel schießt mit: Hetze in deutschen Medien nach pro-palästinensischer Kundgebung an der FU Berlin

27.02.2024, Lesezeit 20 Min.
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Foto: @pruppettiimelangiani

„Proteste gegen Juden: Nahostkonflikt an der Freien Universität Berlin“ titelt Spiegel TV in einem neuen Videobeitrag und bezieht sich damit auf die von Waffen der Kritik mitorganisierte Kundgebung vom 8. Februar. Der Beitrag ist ein besonders prägnantes Sinnbild für die aktuelle Lage des deutschen „Journalismus“ zum Thema Palästina.

11. April 1968. Ku’damm, Berlin. Der Faschist Josef Bachmann feuert drei Schüsse auf den FU Studenten Rudi Dutschke, den Wortführer der Studierendenbewegung. Bei sich trägt er eine Ausgabe der Deutschen National-Zeitung, deren Schlagzeile „Stoppt Dutschke jetzt!“ mit Porträtfotos des Opfers garniert ist. Mit den Worten „Du dreckiges Kommunistenschwein!“ streckt Bachmann den allseits bekannten Aktivisten nieder. Das Attentat hinterlässt Dutschke mit drei Schussverletzungen, davon zwei im Kopf, deren Spätfolgen er schließlich auch erliegen wird.

Nicht nur dezidiert faschistische Zeitungen hatten zuvor gegen Dutschke und die Studierendenbewegung der 68er gehetzt. Allen voran, das versteht sich von selbst, war die Springerpresse. Die Bildzeitung und ihr Berliner Lokalblatt BZ veröffentlichten Schlagzeilen, die sich von ihren faschistischen Geschwisterzeitschriften wohl kaum unterschieden:

„Stoppt den Terror der Jung-Roten!“

„Polit-Gammler Dutschke dreht an einem dollen Ding!“

„Studenten drohen: Wir schießen zurück!“

„Unruhestifter unter Studenten ausmerzen!“

„Kein Geld für langbehaarte Affen!“

„Wer es wohl meint mit Berlin, der jage endlich die Krawall-Radikalen zum Tempel hinaus!“

Über die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg schrieb die BZ nur: „Wer Terror produziert, muss Härte in Kauf nehmen!“

Die Studierenden antworteten mit nicht minderer Militanz. Mit Parolen wie „Springer raus aus Westberlin“, „Springer, Mörder“ oder „Bild hat mitgeschossen“ demonstrieren sie, lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei und griffen das Berliner Springer-Verlagsgebäude mit Steinen an. Mit den sogenannten „Osterunruhen“ brachten sie den Zusammenhang zum Ausdruck, der offensichtlicher nicht sein könnte: Mit der medialen Hetze, die dem Attentat auf Dutschke vorausging, kreierte der deutsche „Journalismus“ ein gesellschaftliches Klima, das Gewalt gegen die Studierenden heraufbeschwor und begünstigte.

Um an diesen Zusammenhang und den kämpferischen Studierenden-Wortführer zu erinnern, heißt der Fußweg vor der Hauptmensa der FU heute „Rudi-Dutschke-Weg“. Direkt neben diesem Weg organisierte das Palästinakomitee der FU am 8. Februar eine Kundgebung unter dem Titel: „Schluss mit den Lügen und der Heuchelei: Freiheit für Palästina!“

Eine Kontinuität im deutschen „Journalismus“

An eben jene Ereignisse erinnert man sich zurück, wenn man die heutige Berichterstattung über die Palästina-Solidaritätsbewegung in Deutschland betrachtet. Demonstrationen, die sich gegen den Genozid in Gaza richten, werden routinemäßig als antisemitisch deklariert und mit allen möglichen rassistischen und islamfeindlichen Stereotypen versehen. Nahaufnahmen von „Krawall-Radikalen“ und „Unruhestiftern“ kursieren erneut durch die Medien und markieren die abgebildeten Aktivist:innen als Zielobjekte rechter und staatlicher Hetze. Dabei wird billigend in Kauf genommen, dass die friedlichen Demonstrierenden ins Scheinwerferlicht gewaltbereiter Zionist:innen und Rechten geraten. Die Berichterstattung, die sich gegenseitig nur darin zu überbieten versucht, wie tendenziös, reißerisch und tatsachen fern ihre Beiträge formuliert sind, stellt sich damit in die Tradition der Springerpresse. Dagegen demonstrierten am letzten Mittwoch mehrere Hundert Menschen vor dem Springer-Hochhaus in Berlin. Wenige Tage später sprühten pro-palästinensische Aktivist:innen die Parole „Springer schießt mit“ vor das Gebäude und machten somit auch die Kontinuität des Widerstandes explizit.

Dass die Medien zentrale Instanzen der Meinungsbildung sind und in dieser Kompetenz auch für Gewalt gegen Unterdrückte verantwortlich sein können, hat sich seit dem Angriff der Hamas bereits weltweit und hierzulande gezeigt. Um nur ein Extrembeispiel zu nennen: Vor kurzem wurde der sechsjährige Sohn palästinensischer Migrant:innen im US-Bundesstaat Illinois vom Vermieter der Familie erstochen. Das Motiv der Tat lag laut den Sicherheitsbehörden selbst klar begründet im Angriff der Hamas und eines daraus resultierenden Rassismus. Dem Tathergang des Dutschke-Attentats ähnlich soll der Täter gebrüllt haben: „You Muslims must die!“ („Ihr Muslime müsst sterben!“). Wenig später wurden drei Palästinenser im US-Bundestaat Vermont angeschossen. Auch in Deutschland müssen so gelesene Personen, neben ständiger polizeilicher Repression, mit Rassismus und Gewalt in ziviler Eigeninitiative rechnen: Etwa, wenn sich Betroffene und solidarische Menschen auf Palästina-Demos zusammenfinden, dort festgenommen und nachträglich diffamiert werden; etwa, wenn Moscheen Hassnachrichten und Hundekot per Brief erhalten; etwa, wenn ein Schüler des Berliner Ernst-Abbe-Gymnasiums von einem Lehrer geschlagen wird, weil er auf dem Schulhof mit einer Palästinafahne herumläuft, oder aber wenn ein Mädchen von mehreren Mitschüler:innen krankenhausreif geprügelt wird, weil sie eine Kette mit arabischen Schriftzug trägt.

Auch die Aktionen von Waffen der Kritik und anderen Gruppen an der FU haben umfassende mediale Aufmerksamkeit nach dem oben genannten Muster erhalten. Bereits im November und im Dezember kamen hunderte Studierende und Beschäftigte an der FU zusammen, um ein Ende des Genozids zu fordern und die Einseitigkeit der deutschen Reaktion zu kritisieren. Das „journalistische“ Interesse war groß, ihre hetzerischen Schlagzeilen zeigten Wirkung. In etlichen herkömmlichen und sozialen Medien wurden Gesichter, persönliche Daten und Kontaktinformationen veröffentlicht und teilweise mit den Worten „Merkt euch sein/ihr Gesicht!“ weiterverbreitet (sogenanntes „Doxxing“). Rechte und zionistische „Störerbanden“ haben sich an der Universität formiert und Treffen von palästina-solidarischen Studierenden belagert und verfolgt. Den Wahlkampf zum Studierendenparlament von Waffen der Kritik haben sie mit Befürwortungen des Völkermords in Gaza, Holocaust-Verharmlosungen und Gewaltaufrufen gegen unsere Kandidat:innen angegriffen, wie z.B. hier dokumentiert. Eine besonders öffentlichkeitswirksame Aktion der „Störer“ vollzog sich im Rahmen einer friedlichen pro-palästinensischen Hörsaalbesetzung, wo einer der zionistischen Anführer eine Ordner:in physisch angriff, hier ebenfalls dokumentiert. Trotz der offensichtlichen Falschmeldungen in den Medien kam es zu Gewaltaufrufen und Morddrohungen gegen die Aktivist:innen.

In Anbetracht dieser Faktenlage ist die Parole „Bild hat mitgeschossen“ wieder aktuell. Wir wollen das an einem besonders eindrucksvollen Beispiel näher beleuchten.

Rassismus, Antisemitismus, Transfeindlichkeit: Spiegel TV verbreitet Hass und Hetze in alle Richtungen

„Proteste gegen Juden: Nahostkonflikt an der Freien Universität Berlin“ lautet der Titel einer Videoreportage von Spiegel TV, die sich mit der jüngsten pro-palästinensischen Kundgebung an der FU auseinandersetzt. Damit entlarvt sich der sogenannte „Journalismus“ schon selbst, ganz gemäß dem Aufruf der Demo: „Schluss mit den Lügen und der Heuchelei: Freiheit für Palästina!“ Jüdische Studierende haben die Kundgebung mitorganisiert und waren maßgeblich an ihrer Umsetzung beteiligt – etwa in der Moderation, in Reden, und im Pressesprecher:innen-Team. Es ist so absurd, wie es klingt: Unter dem Vorwand der „Verteidigung“ von Jüd:innen schießt der Spiegel-Beitrag in alle möglichen Richtungen, und trifft dabei unter anderem auch Jüd:innen. Wir möchten darauf in etwas Detail eingehen, um die enthaltenen Hassbotschaften hervorzuheben, die zu einem Klima der Gewalt gegen unterdrückte Gruppen beitragen.

Die Reportage ist vom stellvertretenden Spiegel-TV-Chefredakteur Thomas Heise, einem der wohl größten rassistischen Scharfmacher der Republik. Zu seinen „Verdiensten“ gehört es, den Mythos der „Clankriminalität“ in den Medien groß gemacht und damit die Basis für jene rassistische Polizeipraxis gelegt zu haben, die man besonders in Berlin nur allzu gut kennt. Kein Wunder also, dass er erneut im Methodenkoffer des Rassismus kramt, um die Kundgebung zu diffamieren.

Das Thumbnail des Videobeitrags zeigt – direkt über dem Titel „Proteste gegen Juden“ – die Nahaufnahme eines pro-palästinensischen Aktivisten. Warum hier eine Nahaufnahme einer Einzelperson gewählt wurde, um über eine Demonstration zu berichten, lässt sich vielleicht aus der Markierungslogik erklären, die damals auch zum Attentat auf Rudi Dutschke geführt hat.

Der Sprecher des Videos beginnt mit dem Satz „Gleich ist Aufruhr vor der Freien Universität Berlin“ und Aufnahmen von den sich sammelnden, pro-palästinensischen Studierenden. Das Bild der „Unruhestifter“ und „Krawall-Radikalen“ ist damit bereits hergestellt, ungeachtet der Tatsache, dass die Kundgebung friedlich verlaufen wird. Der Rudi-Dutschke-Weg ist im Hintergrund zu sehen.

„Dann geht’s gegen die Mainstream-Medien“, sagt der Sprecher, als würde es sich hier um eine flache Medienkritik handeln, wie man sie aus der rechten Szene kennt. Gezeigt werden Nahaufnahmen des Kundgebungsmoderators, der augenscheinlich „Journalist:innen“ vertreiben will. Dass letztere sich allerdings in den ersten Reihen der Kundgebung positioniert haben und der mehrfachen Aufforderung, den Kundgebungsteilnehmenden Platz zu machen, nicht gefolgt sind, bleibt unerwähnt (siehe Artikelfoto). Zudem waren zwei Pressesprecher:innen ausgewiesen, die im ganzen Beitrag weder erwähnt noch zitiert werden.

Es folgt ein hochgradig transfeindlicher Exkurs, der – was besonders skurril ist – weder mit dem Inhalt der Kundgebung noch der Reportage irgendetwas zu tun hat. Höhnisch wird über die Identität des – übrigens jüdischen – Kundgebungsmoderators, seine präferierten Pronomen und seine Online-Präsenz berichtet – wieder vermittelt durch Nahaufnahmen und sogar Veröffentlichung seines Instagram-Accounts. Es wird durch das Profil gescrollt und schließlich bei einem Post stehengeblieben, welcher für Leute mit rechter und transphober Gesinnung wohl besonders aufreibend wirken soll. Es wird nicht mal versucht, den Exkurs in irgendeinen inhaltlichen Kontext zu setzen. Schließlich soll hier eine diskursive Verschiebung erreicht werden, die vor allem das Ziel hat, ein rechtes Publikum – durch eine Vermittlung über Transfeindlichkeit – weiter gegen die Palästinasolidarität zu mobilisieren – und umgekehrt. Es wird an das Bewusstsein der reaktionärsten Teile der Bevölkerung angedockt, ganz nach dem Muster: „Alles, was ihr schlecht findet, findet ihr hier!“ Dabei nehmen die „Journalist:innen“ offensichtlich in Kauf, dass Einzelpersonen Schaden nehmen. Der Kundgebungsmoderator hat seitdem eine unglaubliche Menge an Morddrohungen und Hassbotschaften bekommen, die sich auf den Spiegel-Beitrag beziehen (siehe Screenshots).

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Der Betroffene selbst schreibt dazu auf Instagram:

Am Abend des Valentinstages bemerkte ich einen Zustrom von Viewers in meinen Stories. Seltsamerweise schienen sie mit niemandem verbunden zu sein, den ich kannte. Der Morgen brachte den Kontext: Der Spiegel hatte ein Video mit dem Titel „Demonstrationen gegen Juden“ veröffentlicht. Diese Beleidigung des Journalismus ist die übliche Axel-Springer-Propaganda, zielt aber in diesem Fall speziell auf mich ab. […] Die Drohungen haben inzwischen in ihrer Häufigkeit abgenommen, aber in ihrer Ausführlichkeit zugenommen. Seit ich meinen Account auf privat geschaltet habe, habe ich 50 Follow-Anfragen bekommen. [eigene Übersetzung]

Der Betroffene ist jüdisch, was im Videobeitrag nicht erwähnt wird. Wir werden dieses Thema ausführlicher in einem separaten Artikel behandeln. Es zeigt sich erneut, dass der vermeintliche Kampf gegen Antisemitismus in Deutschland die Schädigung jüdischer Menschen in Kauf nimmt.

Weiter im Video: „Einer der Einpeitscher ist der Palästinenser Salah Said. Mit ihm sprach neulich der Staatsschutz, nicht ohne Grund. Sein Hauptgegner: Israel. […] Said ist ganz vorne dabei, wenn es gilt, das Existenzrecht Israels infrage zu stellen.“ Das Bild, das hier – abermals über die Markierung einer Einzelperson – gezeichnet wird, ist das des „aggressiven Arabers“, der seine Meinung „einpeitscht“ und mit den Sicherheitsbehörden in Konflikt steht. Und Tatsache, der Konflikt besteht: Said wurde in den letzten Wochen mehrfach bei friedlichem Protest von der rassistischen Polizei festgenommen, wie auch viele andere pro-palästinensische Aktivist:innen, die aktuell von einer beispiellosen Kriminalisierung betroffen sind. Zu dieser Kriminalisierung trägt eine solche rassistische Berichterstattung maßgeblich bei.

Es wird ein Ausschnitt von Saids Rede gezeigt, in dem er sich positiv auf eine perspektivische Rückkehr nach Palästina bezieht, was im hier gegebenen Kontext als aggressiv umgedeutet wird. Die Frage ist aber, wer der wirkliche Aggressor ist: Der vertriebene Palästinenser, der sein Rückkehrrecht wahrnehmen will, das in Resolution 194 der Generalversammlung der Vereinten Nationen festgesetzt ist; oder der israelische Staat, der aufgrund seiner fast ein Jahrhundert andauernden kolonialen Landnahme und Vertreibung für die Notwendigkeit eines solchen Rückkehrrechts überhaupt verantwortlich ist.

„Und auch mit Medien hat er so seine Probleme“, lautet die weitere Darstellung. Es werden Aufnahmen gezeigt, wie Said sich „genau vor“ den Spiegel-Reporter stellt und „Freiheit für Palästina“ in die Kamera ruft. Was hier fehlt, ist wieder der Kontext. Bei dem Reporter handelt es sich nämlich um einen weitgehend bekannten, rechten „Journalisten“, der während der gesamten Kundgebung Teilnehmer:innen bedrängt hat. Aber was bleibt, ist das Bild des „aggressiven Arabers“.

Die „zahmen Zionist:innen“

Dieses wird mit dem Bild der „zahmen Zionist:innen“ kontrastiert. Der Videobeitrag zeigt die kleine Gegenkundgebung als ruhigen, unbedrohlichen Haufen, der „Flagge zeigt“. Stattdessen hätten sie die zahlreichen Provokationen des pro-israelischen Demonstrant:innen hervorheben können: ihr ständiges Eindringen in die Kundgebung; ihre lautstarke Freude über Israel’s Bombardierungen oder die Propagation einer israelischen Einstaatenlösung; ihre Beleidigungen von Palästinenser:innen als „Hunde“, und so weiter. Die offenkundig genozidalen Rufe eines stadtbekannten Zionisten, mit dem Wortlaut „Hört gut zu, ihr Terroristen, mögen eure Dörfer niederbrennen“, werden vom Sprecher als „abgewandelter Fußballsong“ bezeichnet und mit den Worten „Die Wut ist groß“ heruntergespielt. Die FU hat Strafanzeige gegen den Provokateur gestellt.

In einem erneuten Exkurs wird dem Fall des verletzten FU-Studenten Lahav Shapira nachgegangen, der vor kurzem verprügelt wurde, mutmaßlich wegen einer Auseinandersetzung zum Nahostkonflikt. Shapira fiel in der Vergangenheit damit auf, Treffen palästinensischer Studierender, Wahlkampfstände, Demonstrationen oder Sitzungen des Studierendenparlaments verbal und physisch attackiert zu haben (etwa hier oder hier). Als Waffen der Kritik stellen wir uns gegen Attacken auf Einzelne und halten den Angriff auf Shapira für falsch. Aber die Darstellung seiner Person in den Medien lässt außer Acht, dass er selbst nicht nur Opfer, sondern oftmals Täter war. Es handelt sich daher um eine verkürzte und einseitige Darstellung der Geschehnisse. Bewusst bleibt völlig unerwähnt, wie antizionistische Jüd:innen, Palästinenser:innen, muslimische Studierende und Palästina-solidarische Studierende immer wieder angegriffen wurden, sich auf dem Campus unsicher fühlen und mit massiver Hetze und Repressionen durch Staat, Medien und Uni-Leitung konfrontiert sind.

Weiter im Video. Über den mutmaßlichen Täter lässt der Sprecher verlauten: „Staatsbürgerschaft: deutsch; Migrationsgeschichte: palästinensisch.“ Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, aber dennoch sehen sich die Spiegel-„Journalist:innen“ berufen, persönliche Daten des bisher in der Öffentlichkeit unbekannten Tatverdächtigen zu leaken: seinen Studiengang und seinen mutmaßlichen Vornamen. Im Video wird außerdem die mutmaßliche Straße und das Treppenhaus des Tatverdächtigen gezeigt – denn der Reporter, den man auch von der Kundgebung an der FU kennt, will ihn zuhause konfrontieren. Zwei Beobachtungen müssen hier gemacht werden. Erstens, woher hat der Reporter diese unveröffentlichten Informationen? Hier zeigt sich mutmaßlich die mafiöse Verstrickung von Sicherheitsbehörden, Presse und Politik. Zweitens, trotz unabgeschlossener Ermittlungen wird hier die Adresse und Identität des Tatverdächtigen für alle zugänglich gemacht, die sich ein bisschen mit Internet-basierter Recherche auskennen: Jede Geoguesser-Amateur:in könnte vermutlich seine Wohnung aufspüren. Spiegel lädt damit offensichtlich zu einer unrechtmäßigen Selbstjustiz ein: ein gut verpackter Aufruf zu Gewalt.

Nach diesem Exkurs geht es zurück an die FU. Im Fokus: In Israel-Flaggen geschmückte Demonstrierende bei der Kundgebung von Fridays for Israel, die bereits zuvor mit ihren rassistischen Forderungen auffällig geworden sind. Doch auch hier lässt sich der Spiegel nur allzu gerne täuschen und porträtiert die Zionist:innen in zahmster Manier. Wiederkehrende Aufmerksamkeit bekommt Enno, Student der FU, der mit seinem BWL-Justus-Auftreten wohl besonders passend für die bürgerliche Presse ist. Wir haben also einerseits die „Krawall-Araber“, die laut sind, von der Polizei gesucht werden und die Medien hassen; auf der anderen Seite den unbedrohlich aussehenden Enno, der sich sichtbar wohlwollend in den Medien zeigt. Wer sich wie in der Presse präsentieren kann, spricht immer schon Bände über aktuelle Unterdrückungsstrukturen in einer Gesellschaft.

Enno erzählt uns von der Angst, die jüdische Studierende an der FU haben müssen. Belege dafür stehen noch aus. Wovon er nicht erzählt, ist die Angst, die pro-palästinensische Studierende, auch die jüdischen, vor seiner Störer-Bande haben. Wie er erzählt, war er dabei, als sie – angeführt von Shapira – die Hörsaalbesetzung im Dezember gestört haben. Ganz unschuldig habe er da Plakate abgerissen, die in seinen Worten „israelische Persönlichkeiten dämonisieren“. Die Aussagen auf den Plakaten gaben wahrheitsgetreu die genozidale Rhetorik der israelischen Politiker:innen wieder. Unter anderem wurden Palästinenser:innen kollektiv schuldig für den 7. Oktober gesprochen und als menschliche Tiere bezeichnet, die auch so behandelt gehören. Enno, wer ist verantwortlich für diese Aussagen – wir oder diejenigen, die sie tätigen?

Ferner berichtet Enno, wie er und seine Bande nicht in den Hörsaal gelassen wurden. Das ist eine Lüge, wie selbst die FU in ihrer Stellungnahme klarstellt. Ironischerweise zeigt der Spiegel-Beitrag wenig später Aufnahmen von den Störern, wie sie sich im Hörsaal aufhalten und dort ihre eigenen Poster anbringen wollen (hier mehr Belege über die Situation). Dass das Video sich hier selbst widerlegt, ist wohl unwichtig, denn das Narrativ ist schon verfestigt. Da helfen auch die von Spiegel gezeigten Aufnahmen nicht, die Shapira zeigen, wie er eine Ordner:in physisch attackiert. Denn Enno stellt schnell klar: Shapira habe nur in Selbstverteidigung gehandelt. Dafür gibt es keine Belege. Es handelt sich wohl um eine Art der Selbstverteidigung, wie der israelische Staat sie gerade in Gaza durchführt.

Als Autorität berichtet schlussendlich der Staatsanwalt Sebastian Büchner von einem„rasanten Anstieg von Straftaten im Zusammenhang mit dem Thema Nahostkonflikt“ – etwas mehr als 2000 Verfahren seien eingeleitet worden. Dass es sich bei diesen Verfahren größtenteils um Verstöße gegen das in diesem Kontext eingeführte Parolenverbot handelt – das einseitig pro-palästinensische Demonstrierende kriminalisiert, während pro-israelische Zionist:innen die gleichen Parolen in umgekehrter Form frei rufen dürfen – bleibt unerwähnt. Außerdem, wie beispielsweise Jüdische Stimme vielfach dokumentiert: Viele dieser Strafverfahren richten sich gegen jüdische Aktivist:innen, die sich gegen den Genozid in Gaza aussprechen. In anderen Worten: Im Namen der Bekämpfung des Antisemitismus werden Jüd:innen kriminalisiert.

Spiegel schießt mit

Die Reportage wurde inzwischen über 350 Tausend Mal gesehen. Sie reproduziert und verbreitet nicht nur Falschinformationen, sondern auch Hass und Hetze in niedrigster Form. Er macht Einzelpersonen zu Zielscheiben. Es ist eindeutig, dass Spiegel sich damit in die Tradition der Springerpresse einreiht. Noch schlimmer: Der Beitrag ist nur einer von vielen.

Beim Spiegel gibt es allerdings auch eine lange hausinterne Tradition rechter Meinungsmache. Schon 1957 kritisierte der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, später der 68er-Studierendenbewegung nahestehend, die Aufmachung und Sprache des Spiegels als latente Gefahr für die Demokratie, da sie anstatt orientierender Kritik desorientierende „Stories“ publizierende. Später wurde dem Spiegel Panikmache und homophobe Stigmatisierung im Umgang mit der AIDS-Krise attestiert. Besonders bekannt sind auch Kontroversen um die braune Vergangenheit des Nachrichtenmagazins: Vertreter:innen des Nationalsozialismus wurden in den eigenen Reihen nicht nur geduldet, sondern konnten florieren. Diese Vergangenheit (und Gegenwart) manifestiert sich seit Jahrzehnten in rassistischen Titelseiten und dergleichen. Die heutige Berichterstattung kommt also nicht von ungefähr.

Der Spiegel maßt sich an, für Jüd:innen zu sprechen – und diffamiert dabei eine Kundgebung, die von Jüd:innen mitorganisiert wurde. Er diffamiert jüdische Einzelpersonen, während er behauptet, sich für Jüd:innen einzusetzen. Ein Blick in die Geschichte des Nachrichtenmagazins deutet aber schon an, was das für ein Einsatz ist.

Dabei steht Spiegel selbstverständlich nicht alleine dar, sondern dient nur als Paradebeispiel der deutschen Medienlandschaft. Diese scheint aktuell unisono die deutsche Staatsräson zu predigen, ganz nach dem Motto: Lieber diffamieren, als über den Genozid in Gaza zu berichten. Wir sehen uns deshalb gerechtfertigt, die Parolen von damals wieder aufzugreifen: Spiegel, Springer und Co. schießen mit! Enteignung unter Arbeiter:innenkontrolle jetzt!

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