Offener Brief an ein neugeborenes Kind: Warum du auf einem brennenden Planeten geboren wurdest

02.06.2022, Lesezeit 6 Min.
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Foto: 19bProduction/Shutterstock

Ich habe gerade mein erstes Kind bekommen. In 12 oder 15 Jahren wird es sich vielleicht fragen, was wir uns dabei gedacht haben, angesichts dessen was wir über den Klimawandel wussten. Ich habe meine Gedanken in diesem Brief niedergeschrieben.

Liebe(r) [Name anonymisiert],

Dieser Brief wird nur wenige Tage nach Deiner Geburt veröffentlicht. Wenn Du ihn liest, bist Du vermutlich etwa 12 oder 15 Jahre alt. Ich muss einen Moment innehalten, um über das Wunder all dessen nachzudenken…

Wenn Du auch nur ein wenig wie deine Eltern bist, machst Du Dir wahrscheinlich Sorgen über den Zustand dieser Welt, in der Du aufwächst. Zum Zeitpunkt Deiner Geburt erleben wir Hitzewellen, Kälteeinbrüche und Überschwemmungen, und ganze Städte sind in Rauch von Waldbränden gehüllt. Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre liegt bei 420 Teilen pro Million, während die Methankonzentration mit 1.896 Teilen pro Milliarde ebenfalls einen Rekordwert erreicht hat. Die Eisbären sterben aus, genau wie Millionen anderer Arten. In einem Jahrzehnt kann es nur noch viel schlimmer um uns stehen.

Du fragst Dich vielleicht, warum Du in eine solche Welt hineingeboren wurdest. Eltern, deren Kinder heute 12 oder 15 Jahre alt sind, erzählen uns, dass ihnen diese Frage oft gestellt wird. Nun, Deine Eltern haben lange Zeit darüber nachgedacht. Jahrelang.

Wir haben Freunde aus der Klimabewegung gefragt, wie sie sich dazu entscheiden konnten, Kinder auf einem brennenden Planeten zu bekommen. Wir haben nie eine zufriedenstellende Antwort bekommen. Leute, die den ganzen Tag damit verbracht haben, sich die harten Fakten über den Klimawandel anzuschauen, sind plötzlich in die Metaebene gesprungen: „Vielleicht wird alles irgendwie gut“, sagen sie. „Vielleicht können wir uns einen innovativen Ausweg aus der Misere schaffen.”

Nein, so löscht man kein Feuer – indem man rumsitzt und hofft, dass es zu regnen beginnt.

Wir glauben nicht, dass sich die Dinge schon irgendwie von selbst regeln werden. Wir wissen, dass der Klimawandel eine unvermeidliche Folge der kapitalistischen Produktionsweise ist. Wir brauchen eine sofortige, radikale Veränderungen des gesamten globalen Wirtschaftssystems. Wenn es so weitergeht wie bisher, ist die menschliche Zivilisation dem Untergang geweiht.

Wie könnten wir also ein Kind – wie könnten wir Dich – in eine dem Untergang geweihte Welt setzen? Wir haben oft darüber nachgedacht, keine Kinder zu kriegen. Aber letztlich würde das bedeuten, aufzugeben. Für uns wäre die Entscheidung, aus Verzweiflung keine Kinder zu bekommen, eine Art intergenerationeller Selbstmord. Wir sind pessimistisch, aber wir sind nicht bereit, aufzugeben.

Es ist ein dysfunktionales Wirtschaftssystem – eines, das kurzfristige Gewinne über unser Überleben stellt -, das die Menschheit in den Abgrund treibt. Wir glauben, dass dieses Wirtschaftssystem zu Fall gebracht werden kann. Dazu bedarf es eines gewaltigen Anstoßes seitens der arbeitenden Menschen auf der ganzen Welt. Aber wir sind überzeugt, dass eine solche Revolution nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist. Da der Kapitalismus immer schlimmere Katastrophen schafft, werden sich immer mehr Menschen diesem Kampf anschließen.

Deine Eltern waren (und sind hoffentlich immer noch) Klimaaktivist:innen. Wir können Dir Fotos zeigen, wenn du willst – aber Du wirst sie wahrscheinlich peinlich finden. Deine Mutter half, 200 Liter Kunstblut vor der Börse in New York City zu versenken, um den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen zu fordern. Wir haben die 17-jährige Greta Thunberg (gibt es sie noch?) getroffen, als sie mit einem Segelboot den Atlantik überquerte.

Damals schlossen wir uns 100.000 Jugendlichen in Manhattan an, die für einen Systemwechsel streikten. Das war es, was uns mehr als alles andere Hoffnung gab. Wir werden an der Seite all dieser Kinder kämpfen, damit die Menschheit noch eine Chance hat.

Wir werden alles tun, was wir können, um Dich zu schützen. Aber wir wissen auch, dass es keinen individuellen Schutz vor der drohenden Katastrophe gibt – wir werden nicht anfangen, einen Bunker zu graben. Wir müssen alle retten, sonst kann niemand gerettet werden. Wir werden tun, was wir können, um Dich darauf vorzubereiten, sich diesem Kampf anzuschließen, wenn Du das willst.

Du denkst vielleicht, es ist nicht fair, dass du auf einem brennenden Planeten geboren wurdest. Und das ist es ganz sicher nicht – ihr hattet kein Mitspracherecht in dieser Angelegenheit. Aber wir haben uns auch nicht ausgesucht, hier zu sein. Auch wir öffneten unsere Augen in einer Welt, die auf eine Katastrophe zusteuerte. Wir waren nur ein wenig weiter von der Krise entfernt als Du jetzt.

Wir lernten diese Welt und die überwältigenden Herausforderungen kennen, vor denen sie steht, und wir beschlossen, dass es sich lohnt, für sie zu kämpfen. Es gibt hier zu viel Schönes – Tiere, Musik, die Erforschung des Kosmos! – um angesichts der zerstörerischen Tendenzen des Kapitalismus aufzugeben. Elon Musk (gibt es ihn noch?) kontrolliert mehr Ressourcen der Gesellschaft als jeder andere – und das einzige Ziel, von dem er spricht, ist die Flucht vom Planeten. Wir sind nicht bereit, vor diesen irrsinnigen Milliardären zu kapitulieren, die bereit sind, alles niederzubrennen, um Könige der Asche werden zu können.

Wir werden für Dich und für die Kinder aller anderen kämpfen. Wenn Du das hier liest, wirst du vielleicht schon an Schulstreiks teilnehmen oder das tun, was Kinder in eurem Alter gerade tun. Damit das klar ist: Wir haben nichts dagegen, wenn Du militantere Taktiken wählst. In dieser Familie – das können wir Dir jetzt schon versprechen – wirst Du niemals wegen politischer Proteste in Schwierigkeiten geraten.

Wir hätten Dich lieber, unendlich viel lieber, in eine Welt ohne Klimawandel gebracht. Aber wir hatten diese Wahl nicht – genauso wenig wie Du. Wir konnten Dich nur in diese Welt bringen. Und jetzt, kurz nach Deiner Geburt, bist Du Teil des Kampfes der Menschheit, den Kapitalismus so schnell wie möglich zu beenden. Wir alle sind Teil dieses Kampfes, ob wir es wollen oder nicht, auch wenn Deine Rolle in diesem Kampf von dir abhängt.

Als der Kapitalismus eine andere Art von Katastrophe vorbereitete, sagte Leo Trotzki, dass „die Rettung im gnadenlosen Kampf liegt“. Das gilt auch heute noch. Der Kampf gegen Musk, Bezos und all die anderen wird nicht einfach sein. Aber „es ist möglich, es kann getan werden – also muss es getan werden“.

Wir lieben Dich, und wir sind froh, Dich als Kind und Genossen/in zu haben.

Ich staune immer noch darüber…

In Liebe,

Dein Vater

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