Linkspartei Neukölln: Sozialistische Opposition oder Wasserträger*innen für Lederer?

15.09.2016, Lesezeit 6 Min.
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Die Linkspartei im Berliner Bezirk Neukölln steht für eine ganz andere Politik als ihr Landesverband. Im Gegensatz zu Lederer, Wolf und weiteren Kandidaten der Berliner Linken, führen die Neuköllner*innen einen kämpferischen Wahlkampf durch. Verdienen sie die Unterstützung von Antikapitalist*innen?

Fast jeden Abend in Neukölln trifft man sie: Junge Menschen auf Fahrrädern, mit roten Westen und roten Fahnen, ihre Jutelbeutel voller Flugblätter. Hinter ihnen fährt ein kleines Auto mit Lautsprechern auf dem Dach – hier wird zur Wahl der Linkspartei aufgerufen.

Die Berliner Linkspartei unter Klaus Lederer, Harald Wolf und weiteren (ehemaligen) Staatsbürokrat*innen fährt einen staubtrockenen Wahlkampf durch. Dort treten sie für eine „bessere“ Verwaltung der kapitalistischen Metropole ein – soziale Bewegungen oder Kämpfe finden auf ihren Plakaten kaum Platz. Ihr einziges Ziel ist es, mit der SPD und den Grünen eine Regierung zu bilden und so (wieder) Ministersessel zu ergattern. Rot-Rot-Grün wird seit Monaten öffentlich vorbereitet.

Die Linkspartei in Neukölln sieht ganz anders aus, und zwar nicht nur beim Wahlkampf. Ihre Mitglieder trifft man immer wieder bei Demonstrationen – und das, erstaunlicherweise, nicht nur während des Wahlkampfes. Während die Berliner Linkspartei für die Privatisierung von Wohnungen und die Prekarisierung von Arbeitsbedingungen eintrat, unterstützen die Neuköllner*innen Proteste gegen die Folgen dieser Politik.

Das ist kein Wunder. Dieser Bezirksverband besteht zu großen Teilen aus Gruppen aus der trotzkistischen Tradition. Sowohl Marx21 und die SAV haben hier ihren Schwerpunkt. Wie die Kandidatin Sarah Moayeri von der SAV im Interview mit Klasse Gegen Klasse argumentierte: „Wer mich wählt, stimmt gegen Rot-Rot-Grün“.

Aber ist das wirklich so? Obwohl der Neuköllner Bezirksverband der größte in Westberlin ist, stellt er kein*e einzige*n Kandidaten*in auf der 30-köpfigen Landesliste. (Hier gibt es auch fast keine Menschen mit Migrationshintergrund.) Potentielle Kritiker*innen wurden von der Landesliste ausgeschlossen – mit Manövern, die selbst für die CDU bürokratisch gewesen wären. Die Linkspartei-Führung will sich versichern, dass ihre Fraktion zu 100 Prozent aus Apparatschiks besteht, die für jede Privatisierung und jede Kürzung zu stimmen bereit sind.

Deshalb treten die Kandidat*innen der Neuköllner Linkspartei als Direktkandidat*innen ein. Und sie haben schlicht keine Chance, ins Abgeordnetenhaus gewählt zu werden. Also am Ende profitieren nur die knallharten neoliberalen Kräften auf der Landesliste. Und auch wenn man die Neuköllner Linkspartei ganz andere Töne im Wahlkampf anschlägt als ihre Berliner Kandidat*innen, auch dieser kritische Bezirk schweigt größtenteils zur verheerenden Bilanz der eigenen Partei. So schreibt der Kandidat Ruben Lehnert, dass die SPD für eine wahre Kürzungsorgie verantwortlich war – ohne zu erwähnen, dass seine Partei genauso viel Verantwortung trug.

Zum Wahlkampfauftakt luden die Neuköllner*innen auch Gregor Gysi auf den Hermannplatz. Gysi ist bekanntlich nicht nur für Rot-Rot-Grün, sondern auch für Regierungsbündnisse mit der CDU. Er tritt für die „deutsche Staatsräson“ ein und verteidigt das Privateigentum an Produktionsmitteln. Mit und für solche Figuren macht der Neuköllner Bezirksverband – aller kritischen Töne zum Trotz – Wahlkampf.

Die Genossin Lucy Redler von der SAV plädiert dennoch für eine Stimme für die Berliner Linkspartei. Sie begründet das in einem Beitrag für die junge Welt:

Es gibt aus meiner Sicht ein wesentliches Argument dafür. Eine schwache Linke hilft weder den Kollegen der CFM (Charité CFM Facility Management GmbH) noch anderen Kämpfen oder Initiativen. Eine Schwächung der Linken würde gerade in der jetzigen Situation mit den Erfolgen der AfD als Verschiebung nach rechts wahrgenommen. Eine starke Linke wird – und das trifft selbst auf den Berliner Landesverband zu – am ehesten als Stimme gegen Rassismus, steigende Mieten und Armut gesehen. Das sind die Gründe, weshalb ich mit allen drei Stimmen Die Linke wählen werde.

Diese Argumentation ist bestenfalls widersprüchlich.

Soll eine starke Linkspartei den Kolleg*innen an der CFM helfen? Es war doch eine starke Linkspartei, die 2006 die Ausgliederung dieser Beschäftigten aus der Charité durchsetze. Diese „starke Linke“, die zehn Jahre lang mit der SPD regierte, kürzte die Gehälter im öffentlichen Dienst der Hauptstadt um mehr als zehn Prozent und beendete die Verbeamtung von Lehrer*innen, was mit noch größerne Lohnsenkungen verbunden war. Diesen Maßnahmen haben die Gewerkschaften ver.di und GEW keinen ernsthaften Widerstand entgegengesetzt – kein Wunder, denn die Gewerkschaftsführer*innen sind meist in der SPD oder der Linkspartei organisiert, und sie kämpfen ungern gegen ihre Parteigenoss*innen. Deswegen kann eine Linksregierung besonders effektiv sein, um Kämpfe zu bremsen und Protestbewegungen zu kooptieren.

Das betrifft nicht nur die Krankenhäuser und Schulen. Auch die Arbeiter*innen im Einzelhandel bestätigen, dass der „rot-rote“ Senat in Berlin die Ladenöffnungszeiten mehr verlängerte – d.h. ihre Arbeitszeiten stärker flexibilisierte – als jede andere Landesregierung in Deutschland. Für sie war die Linkspartei an der Regierung nicht das „kleinere Übel“ – sie war deutlich übler als Schwarz-Gelb.

Vor allem wird eine „starke Linke“ eine rot-rot-grüne Regierung bilden und die Stadt im Interesse der Banken und Konzerne verwalten. Das wird der AfD helfen, sich als Oppositionspartei, als Alternative zu präsentieren.

Diese kritischen Sektoren haben noch mehr Argumente, weshalb sie für die Linkspartei stimmen werden. Wenn im Bezirk Neukölln besonders hohe Wahlergebnisse errungen werden, so soll das die innerparteiliche Position der Kritiker*innen stärken. Aber dagegen muss man festhalten: Marx21, SAV und andere Antikapitalist*innen arbeiten inzwischen seit zehn Jahren in der Berliner Linkspartei. Sie haben praktisch die einzigen aktiven Basisgruppen, die sie mit viel Aufwand führen. Das bisherige Ergebnis: Kein einziger Sitz im Abgeordnetenhaus. Ihre neue Hoffnung ist, dass sie in fünf Jahren mit Glück einen Sitz bekommen könnten – wenn sie jetzt kräftig Wahlkampf für ihre Gegner*innen machen. Könnte es einen besseren Beweis geben, dass sich dieser bürokratische Apparat nicht transformieren lässt?

Wir wären bereit, die Kräfte der Linkspartei Neukölln zu unterstützen, wenn sie unabhängig von und gegen Lederer, Wolf und Co. antreten würden (auch wenn wir natürlich noch sehr viele weitere Differenzen haben). Doch jetzt machen sie Werbung für eine Partei, die sehr wahrscheinlich in der neuen Regierung landen wird. Das können klassenbewusste Arbeiter*innen auf keinen Fall unterstützen. Stattdessen sollten sie zusammen mit anderen linken Kräften eine antikapitalistische Front aufbauen. Solange diese nicht existiert, rufen wir dazu auf, ungültig zu wählen. Denn: Kämpfen lohnt sich.

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