Krieg in der Ukraine, globale Ernährungssicherheit und Erpressungsmethoden

02.06.2022, Lesezeit 8 Min.
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Der reaktionäre Einmarsch Russlands in die Ukraine und die Reaktionen der imperialistischen Mächte bereiten eine Ernährungskatastrophe von globalem Ausmaß vor, für die vor allem die ärmsten Länder zahlen werden.

Was die möglichen wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Krieges in der Ukraine betrifft, ist die landwirtschaftliche Produktion einer der Sektoren, die besonders beachtet werden, muss. In der Tat sind sowohl Russland als auch die Ukraine Weltklasse-Produzenten. Der Krieg trifft diesen Sektor hart, und Schätzungen zufolge können rund 20 Millionen Tonnen Saatgut in der Ukraine, wegen der russischen Blockade, nicht abtransportiert werden.

Tatsächlich blockiert die russische Marine seit Beginn des Krieges die ukrainischen Häfen und hat es geschafft, diese von der Welt abzuschneiden. Wir befinden uns jedoch seit kurzem in einer sehr heiklen Situation, in der die Zeit knapp wird, da die Lagerinfrastruktur freigemacht werden muss, um Platz für die diesjährige Ernte zu schaffen. Es besteht daher die reale Gefahr, dass Millionen von Tonnen an Nahrungsmitteln verloren gehen, was die Ernährungssicherheit der Bevölkerung in mehreren Regionen der Welt gefährden würde. Diese gangstermäßige Erpressung ist eine Waffe, die die russische Macht in ihrem reaktionären Krieg, ohne zu zögern einsetzt.

Ohne Russland und die Ukraine entfällt fast ein Drittel der weltweiten Agrarproduktion. Vor der russischen Invasion exportierte die Ukraine 4,5 Millionen Tonnen landwirtschaftliche Erzeugnisse, was 15 % der weltweiten Maisproduktion, 12 % der Weizenproduktion und 50 % des Sonnenblumenöls entspricht. Der Preis für Mais ist seit Kriegsbeginn um schätzungsweise 28 % gestiegen, und der Preis für Weizen, der seit Jahresbeginn um 53 % gestiegen war, ist am 16. Mai um weitere 6 % gestiegen. Dies geschah, nachdem Indien aufgrund ungünstiger Witterungsbedingungen eine Aussetzung der Ausfuhren angekündigt hatte.

Dieser Preisanstieg, der auf die russische Invasion zurückzuführen ist, verstärkt und beschleunigt jedoch in Wirklichkeit nur die Aufwärtsdynamik bei den Agrarrohstoffpreisen, die seit Anfang des Jahres im Gange ist. In einem Artikel der Foreign Policy von Anfang März hieß es:

„Schon vor Beginn des Krieges standen die globalen Märkte unter dem Druck der anhaltenden Pandemie und regionaler Dürren, die die Produktion einschränken und die Inflation weltweit anheizen. In den ersten Monaten der Pandemie stiegen die Weizenpreise nach Angaben des Internationalen Währungsfonds um 80 %. Die Weizenterminkontraktpreise erreichten 10,59 $ pro Scheffel (…), den höchsten Preis seit 2008“.

Diese Situation wird nun durch die russische Politik verschärft, welche ukrainische Häfen blockiert, um den Absatz der ukrainischen Produktion auf den Weltmärkten zu verhindern. Infolgedessen sind nun Millionen Tonnen ukrainischen Saatguts und landwirtschaftlicher Erzeugnisse blockiert und die Lagerkapazitäten des Landes sind ausgeschöpft. Das wichtigste Problem ist jedoch, dass in wenigen Wochen die Erntezeit beginnen soll, und wenn die Lagerinfrastrukturen und Häfen nicht freigegeben werden, wird es zu Produktionsausfällen kommen, die Millionen von Menschen in der ganzen Welt gefährden.

Die Verantwortlichen der internationalen Institutionen und Regierungen sind sich der Risiken bewusst, die dies in humanitärer, aber auch in wirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Hinsicht mit sich bringen könnte. UN-Generalsekretär António Guterres warnte am 18. Mai, dass in den kommenden Monaten „das Schreckgespenst einer weltweiten Nahrungsmittelknappheit“ drohe, die jahrelang anhalten könne. Die hohen Kosten für Grundnahrungsmittel haben die Zahl der Menschen, die nicht sicher sein können, genug zu essen zu haben, bereits um 440 Millionen auf 1,6 Milliarden ansteigen lassen. Fast 250 Millionen stehen am Rande einer Hungersnot. Wenn sich der Krieg weiter hinzieht und die Lieferungen aus Russland und der Ukraine begrenzt sind, könnten weitere Hunderte Millionen Menschen in Armut geraten. Politische Unruhen werden sich ausbreiten, Kinder werden unterentwickelt sein und Menschen werden verhungern.“, heißt es in einem kürzlich erschienenen Artikel in The Economist.

Die kriminelle Blockade der ukrainischen Häfen ist zweifellos eine der einzigen „Leistungen“, die die russische Armee während ihres reaktionären, aber nicht minder katastrophalen Einmarsches in die Ukraine vorweisen kann. Es ist nur logisch, dass Putin seinen Vorteil in diesem Bereich nutzt, um den westlichen Mächten Zugeständnisse abzuringen. So hat die russische Regierung bereits verlauten lassen, dass sie der Forderung nach Öffnung eines „humanitären Korridors“ und der Freigabe ukrainischer Häfen im Gegenzug für eine Lockerung bestimmter Sanktionen nachkommen könnte.

All dies ist Gegenstand von obszönen Verhandlungen, wie man im Wall Street Journal lesen kann:

„Der UN-Generalsekretär António Guterres hat bereits die Idee geäußert, dass Russland seine Schwarzmeerhäfen im Gegenzug für eine Aufhebung der Sanktionen öffnen könnte. Er hat vorgeschlagen, dass die Embargos gegen Düngemittelausfuhren aus Moskau und Weißrussland aufgehoben werden könnten. Sanktionen gegen Düngemittel wie Kali, von denen Russland und Weißrussland die weltweit zweit- bzw. drittgrößten Lieferanten sind, haben dazu beigetragen, deren Preise in die Höhe zu treiben. Die Landwirte gaben daher die Kosten für diese Düngemittel weiter oder setzten weniger davon ein, was die Ernteerträge in Zeiten der Knappheit schmälerte“.

Diese Verhandlungen stoßen jedoch auf den Widerstand einiger westlicher Regierungen, die lieber an Alternativen wie die Eskortierung von Frachtschiffen durch NATO-Schiffe denken, insbesondere durch solche aus der Türkei. Diese haben uneingeschränktes Recht, in den Schwarzmeergewässern zu fahren. Jenes würde jedoch voraussetzen, dass die Ukraine, die um ihre Häfen verstreute Minen vermeidet oder beseitigt, um einen russischen Angriff zu verhindern. Andere NATO-Mitgliedsstaaten befürchten Zusammenstöße mit den russischen Seestreitkräften, die noch schädlichere Folgen haben könnten. Dies sind im Wesentlichen dieselben Vorbehalte wie gegen die von Kiew zu Beginn des Konflikts geforderte Einrichtung einer Flugverbotszone.

Die Kiewer Behörden scheinen ihre „harte“ Haltung gegenüber Russland auch in dieser Frage beizubehalten. So erklärte ihr Außenminister Dmytro Kuleba, dass es eine militärische Lösung für dieses „Superproblem“ gebe: „Russland zu besiegen“; dann bestand er darauf, der ukrainischen Armee schwere Waffen zu schicken: „Wenn wir noch mehr militärische Unterstützung erhalten, werden wir in der Lage sein, sie zurückzudrängen (…), die Schwarzmeerflotte zu besiegen und die Durchfahrt der Schiffe freizugeben“. Sie zeigt auch, wie schwierig es ist, alternative Transportwege und -mittel für Agrarexporte zu finden. Der Schienenverkehr zu anderen EU-Häfen wird dadurch erschwert, dass die ukrainische Spurweite nicht mit der europäischen übereinstimmt. Der Straßentransport scheint eine Alternative zu sein, allerdings nur in sehr begrenztem Umfang, u. a. wegen der mangelnden Verfügbarkeit von Lastkraftwagen, Zollstellen und zusätzlichen Verzögerungen (die die Kosten weiter erhöhen). Hinzu kommt, dass Russland nach Angaben der ukrainischen Behörden und der NATO seine Angriffe in den letzten Wochen auf die Eisenbahninfrastruktur, Brücken, Silos und Hangars konzentriert hat.

Wir sehen den völlig reaktionären Charakter von Putins Regime, das echte „Erpressungsmethoden“ anwendet, um Gewinne zu erzielen, indem es mit den Lebensmitteln von Millionen von Menschen in der ganzen Welt „spielt“. Aber all dies kann uns nicht vergessen lassen, dass die reaktionäre Sanktionspolitik der imperialistischen Mächte gegen Russland trotz der heutigen heuchlerischen Reden genau dieselbe Logik verfolgt: Erpressung auf Kosten der Bedürfnisse der Bevölkerung. Die Verlängerung des Krieges führt unweigerlich zu einer katastrophalen Situation, wie sie sich derzeit abzeichnet.
Und die Folgen könnten für Hunderte von Millionen Menschen nicht nur in den kommenden Monaten, sondern auch in den kommenden Jahren sehr ernst sein. Die Ernährungssicherheit der Arbeiter:innen und der Bevölkerung in den ärmsten Staaten ist bereits durch die Folgen der Pandemie und der globalen Erwärmung, für die die imperialistischen Konzerne die Hauptverantwortung tragen, ins schwanken geraten. Der Krieg in der Ukraine und seine Folgen verschlimmern dieses Drama, das letztlich eine direkte Folge der normalen Funktion des kapitalistischen Systems ist.

Wie wir seit Beginn des Krieges gesagt haben, werden sich diese wirtschaftlichen Blockaden nur wiederholen und vertiefen und die ganze Welt mit einem Abgrund von Barbarei und Leid ziehen, wenn sich nicht eine unabhängige, klassenbezogene Alternative herausbildet, die sich an den Interessen der Arbeiter:innen und verarmten Bevölkerung orientiert und nicht an der Seite der reaktionären Fraktionen, die diesen Krieg führen.
Um der Bedrohung von Hunderten Millionen Menschen in der Welt zu begegnen, muss die Arbeiter:innenbewegung dafür kämpfen, die russische Aggression zu stoppen, ohne sich auf die NATO und Zelensky zu verlassen. Auch die Enteignung der Großgrundbesitzer:innen in der Ukraine und Russland, sowie der Agrarindustrie und aller derer die mit dem Hunger von Menschen spekulieren, muss gefordert werden. Nur so kann der Sektor unter die Kontrolle der Arbeiter:innen gestellt werden und die Produktion entsprechend dem Nahrungsmittelbedarf weltweit geplant werden.

Originalartikel in Révolution Permanente.

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