"China und der Imperialismus. Elemente für die Debatte" diskutierten wir, wie man China innerhalb des imperialistischen Systems zu charakterisieren hat. Ergänzend dazu stellen wir in diesem Artikel einige Positionen vor, die sich davon unterscheiden und in der reichlich vorhandenen Literatur über China zu finden sind." /> "China und der Imperialismus. Elemente für die Debatte" diskutierten wir, wie man China innerhalb des imperialistischen Systems zu charakterisieren hat. Ergänzend dazu stellen wir in diesem Artikel einige Positionen vor, die sich davon unterscheiden und in der reichlich vorhandenen Literatur über China zu finden sind." />

Ein Überblick über die Ansichten zu Chinas Verhältnis zum Imperialismus

08.12.2020, Lesezeit 15 Min.
Übersetzung:
1
Marito Ce

In dem Artikel "China und der Imperialismus. Elemente für die Debatte" diskutierten wir, wie man China innerhalb des imperialistischen Systems zu charakterisieren hat. Ergänzend dazu stellen wir in diesem Artikel einige Positionen vor, die sich davon unterscheiden und in der reichlich vorhandenen Literatur über China zu finden sind.

Wir haben an einem Ende Autoren wie John Smith. Sein Werk Imperialismus im 21. Jahrhundert ist eine der umfassendsten marxistischen Studien der globalen Wertschöpfungsketten als ein Mechanismus, durch den die imperialistischen Länder die Arbeitskraft der abhängigen und halbkolonialen Länder ausbeuten (überausbeuten, in seinen Begriffen).1 Aber die Studie hat ein grundlegendes Problem, nämlich die Frage, wie China in sein Schema eingeordnet werden kann. Wie Smith in diesem Interview zum Ausdruck bringt, tendiert er dazu, China eher auf die Seite des globalen Südens zu stellen, d.h. als einen Raum, der Gegenstand der Plünderung durch die multinationalen Firmen der imperialistischen Länder ist, auch wenn er Aspekte anerkennt, die darüber hinausgehen könnten – wobei er schnell dazu neigt, das zu minimieren.2 Smith geht von der vorherrschenden Rolle aus, die ausländisches Kapital im Außenhandel des Landes spielte und weiterhin spielt, was gleichzeitig ein grundlegender Schlüssel zur wirtschaftlichen Stärke Chinas ist, das dadurch zum großen „Investitionsgläubiger“ des Planeten wurde. Multinationale Konzerne operieren entweder mit eigenen Tochtergesellschaften oder durch die Anstellung von Zulieferfirmen; auf die eine oder andere Weise beteiligen sie sich an der Ausbeutung chinesischer Arbeitskräfte, denen sie niedrigere Löhne zahlen als denen in ihren Heimatländern oder sogar in anderen abhängigen und halbkolonialen Ländern.3

In dem gleichen Sinne charakterisiert Minqi Li die Situation Chinas. Li geht vom konzeptionellen Rahmen des Weltsystems in der Formulierung von Immanuel Wallerstein aus, welcher die Geschichte des Kapitalismus als eine Abfolge langer Zyklen versteht. Das Weltsystem ist wie folgt organisiert: ein Zentrum, eine Peripherie, die von ersterem ausgebeutet wird, und eine Halbperipherie, die er zwischen beide stellt, die teilweise ausgebeutet wird, aber auch an der Ausbeutung anderer Territorien teilnimmt und eine „dämpfende“ und stabilisierende Rolle der Herrschaftsordnung spielt. Li bekräftigt, dass China nach wie vor in der Peripherie liegt. Klären wir, was Li hier mit „Peripherie“ meint: Er stellt die herausragende, zentrale Rolle, die China im Weltsystem erreicht hat, nicht in Frage; er verweist darauf, dass es aufgrund der Art und Weise peripher ist, wie es in der Nettobilanz im Austausch mit den Großmächten, an die es Überschüsse überträgt, verliert. Sein Argument wird durch die „Labour Terms of Trade“ („Austauschverhältnis der Arbeitskraft“, d.h. das Verhältnis der Produktivität zur Kaufkraft, A.d.Ü.) gestützt, die „den Grad angeben, in dem ein Land durch ungleichen Austausch im kapitalistischen Weltsystem gewinnt oder verliert“.4 Li argumentiert, dass China zwar seine „Labour Terms of Trade“ mit einigen Regionen (Ostasien, Südasien, Afrika) günstig modifiziert hat, dass es jedoch ungünstige Austauschverhältnisse mit dem Rest der Welt beibehält. Mit anderen Worten, wurde in seinem Schema „China zu einem Netto-‚Ausbeuter‘ in seinem Handel mit Ostasien, Südostasien und den peripheren Volkswirtschaften Afrikas“, aber das Gegenteil trifft auf die USA, Europa, den Nahen Osten und sogar Lateinamerika zu. Li weist jedoch darauf hin, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass Chinas Labour Terms of Trade „bald nicht nur bezüglich der peripheren Volkswirtschaften, sondern auch bezüglich der meisten der semi-peripheren Volkswirtschaften günstig werden. Dann wird China zu einer semi-peripheren Wirtschaft werden“.5 Li glaubt nicht, dass es für China möglich ist, noch weiter zu gehen, denn angesichts „der enormen Größe der chinesischen Wirtschaft und ihrer Demographie wird sein Eintritt in die Semi-Peripherie fundamentale Auswirkungen auf das Funktionieren des kapitalistischen Weltsystems haben“, und könnte den Eindruck erwecken, dass „das kapitalistische Weltsystem an seine Grenzen gestoßen ist“.6 Mit anderen Worten, es würde eine solche Destabilisierung des Systems darstellen, dass es zu einem Kollaps kommen müsste. Wie wir sehen, charakterisiert er, im Gegensatz zu Smith, China zwar noch in einer untergeordneten Position, definiert jedoch seinen Vormarsch als unaufhaltsam und ist der Meinung, dass das System das unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht verarbeiten kann.

Inwieweit stellen diese Positionen den objektiven Platz Chinas heute dar? Es ist richtig, darauf hinzuweisen, dass Chinas Arbeitskräfte weiterhin vom imperialistischen Kapital ausgebeutet werden – an dessen Ausbeutung sich auch das lokale chinesische Kapital beteiligt – und dass Investitionen und Handel mit dem asiatischen Riesen eine Quelle höherer Profite für das globale Kapital und die imperialistischen Länder sind. Aber China gelang es, zumindest teilweise, den für die multinationalen Konzerne erwirtschafteten Gewinn gegen günstige Bedingungen für die Entwicklung der Produktivkräfte einzutauschen – in einem Quid pro quo, das kein anderes abhängiges Land vorweisen kann. Die massive Anziehung von Kapital für seine Wirtschaft und die Divisen im Außenhandel, die durch die Reserven der Chinesischen Volksbank bereitgestellt werden, versorgte das Land mit Mitteln für eigene Investitionen im Ausland und für die Errichtung eines Puffers, um zu verhindern, dass das Land eine ähnliche Episode wie die Asienkrise Ende der 1990er Jahre durchmacht. In diesem Sinne wiederholt China nicht die Abhängigkeitsmuster anderer armer Länder oder Entwicklungsländer, in denen ausländische Investitionen oder Exportindustrialisierung zu keinem qualitativen Sprung im Entwicklungsniveau führen, mit Ausnahme von Besonderheiten, die vor allem durch sehr außergewöhnliche geopolitische Bedingungen erklärt werden.7 Wir glauben, dass es zwei Gründe gibt, die zu diesem besonderen Ergebnis geführt haben: Erstens sind aufgrund des Ausmaßes der Anziehung von Kapital nach China und der generierten Exporte, selbst wenn sich die multinationalen Unternehmen dadurch einen bedeutenden Teil der Wertschöpfungskette aneignen, die Ressourcen – und vor allem die Devisen -, die als lokale Bilanz für Investitionen verbleiben, in absoluten Zahlen nach wie vor gigantisch. Das heißt, es konnte eine Art „Win-Win-Situation“ für das imperialistische Kapital und die chinesische Bürokratie geschaffen werden; zweitens die relative Kontinuität von Elementen, die von der verstaatlichten Wirtschaft geerbt wurden, wie etwa ein gewisses Außenhandelsmonopol und der Finanzsektor, der von der globalen Finanzwelt völlig abgekoppelt bleibt, wodurch der Export von Überschüssen begrenzt wird.

Der Umfang der Investitionen, die es aus dem Ausland anzog und zu denen die Investitionen der öffentlichen Unternehmen Chinas hinzkommen, erzeugten Ketteneffekte, die die „Produktion für die Produktion selbst“ ausweiteten, d.h. die wachsende Etablierung neuer Produktionssektoren, die nicht nur auf den Export von Fertigerzeugnissen in andere Länder abzielen, sondern auf die Versorgung eines immer komplexeren Produktionssystems. Zusammen mit den Bemühungen der Bürokratie, sich mit ausländischen Firmen zusammenzuschließen, um an Technologie zu gelangen oder sie direkt zu stehlen – vielfach gescheitert, aber in anderen Fällen erfolgreich –, ermöglichte dies, den Entwicklungsstand erheblich zu erhöhen, und zwar in einem Ausmaß, das im 20. und im 21. Jahrhundert in fast keinem Land der Peripherie zu beobachten war, auch wenn dies mit einer Dominanz des ausländischen Kapitals im Außenhandel einherging. Dass Chinas Arbeitskräfte durch ausländisches Kapital „überausgebeutet“ werden und dass dies die Grundlage für Chinas „Aufstieg auf der Leiter“ des wirtschaftlichen Aufstiegs war, sind zwei Seiten derselben Medaille.

Eine andere Position, die wir zum Beispiel bei Ho-Fung Hung finden, ist die, dass China seinen wirtschaftlichen Aufstieg fortsetzen wird, um sich zu den großen kapitalistischen Mächten zu gesellen, aber dass „es weit davon entfernt ist, eine subversive Macht zu werden, die die bestehende neoliberale Ordnung verändern wird, da China selbst einer der Hauptnutznießer dieser Ordnung ist.“8 Hung unterstreicht alle Aspekte, die China dazu drängen, sich weiterhin an der Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Ordnung zu beteiligen. Dazu gehört, dass die Einstellung der Finanzierung der Kredite der USA eine Gefahr für China selbst darstellt. In den letzten vier Jahren seit der Veröffentlichung von „The China Boom“ sind die Annahmen des Buches ziemlich stark gealtert, da sowohl China als auch die USA ihre Konfrontation eskaliert haben.

Als spiegelverkehrte Position zu der von Hung finden wir die These, dass China nicht nur bereits ungebremst aufsteigt, sondern dass es dies tut, indem es eine gutartige Rolle in der Weltordnung spielt, d.h. die imperialistische Ordnung faktisch „untergräbt“. Dies schlug Giovanni Arrighi in „Adam Smith in Peking“ vor, der in der Geschichte Chinas vor den europäischen Invasionen Elemente identifizierte, die die Existenz einer nichtkapitalistischen Marktwirtschaft, also einer nicht ausbeuterischen Marktwirtschaft, definieren. Sein Buch argumentierte, dass dies – und nicht die bürgerliche Restauration – jetzt wiederauftauchen könnte und dass China dieses Modell auf den Rest der Welt projizieren würde. Arrighi vertrat jahrzehntelang die These von der hegemonialen Sukzession, wonach sich der Kapitalismus in Zyklen entwickelt – jedes Mal in größerem Maßstab –, in welchen nacheinander die Stadtstaaten Italiens, dann die Niederlande, Großbritannien und schließlich die USA dominieren, die jeweils unterschiedliche Kombinationen von wirtschaftlicher Organisation und territorialer Macht auferlegen.9 Nun kommt zu dem Schluss, dass die neue „Sukzession“ den Zyklus schließen würde, weil sie nicht mehr kapitalistisch wäre. Ohne sich den exzentrischeren theoretischen Elementen einer China eigenen nicht-kapitalistischen Merkantilisierung anzueignen, wird die Idee Arrighis, dass dieses Land ein Gegengewicht zum US-amerikanischen und europäischen Imperialismus sein kann, heute aus verschiedenen Blickwinkeln wieder aufgegriffen. David Harvey – dessen Vision des „neuen Imperialismus“ offen Anleihen aus Arrighis Vorstellungen von der Beziehung zwischen wirtschaftlicher Macht und territorialer Macht nahm, auch wenn er sie neu formulierte – hat einmal etwas in dieser Richtung vorgeschlagen. Wir sehen sie vor allem in politischen Strömungen, die aus der Peripherie vorschlagen, China könne ein „Partner“ für Entwicklung sein.

Schließlich gibt es solche Autor:innen wie Au Loong Yu, die auf den imperialistischen Kurs Chinas hinweisen, obwohl sie der Meinung sind, dass er noch nicht abgeschlossen ist. Der erste Grund, auf den Yu hinweist, ist, was im Hinblick auf die nationale Integration noch zu tun bleibt: „Bevor China seine imperialen Ambitionen verwirklichen kann, muss es sein koloniales Erbe beseitigen, d.h. Taiwan übernehmen und zunächst die historische Aufgabe der KPCh der nationalen Vereinigung erfüllen“. Aber dies „wird die USA früher oder später zwangsläufig konfrontieren. Daher enthält das Taiwan-Problem sowohl die Selbstverteidigungsdimension Chinas (selbst die USA erkennen an, dass Taiwan zu China gehört) als auch eine interimperialistische Rivalität.“10 Um sich mit Taiwan zu vereinigen, „ganz zu schweigen von einer globalen Ambition, muss Peking zunächst die anhaltenden Schwächen Chinas überwinden, insbesondere in den Bereichen Technologie, Wirtschaft und dem Mangel an internationalen Verbündeten.“ Yu fügt hinzu, dass „China eine einzigartige Macht des Staatskapitalismus und Expansionismus ist, die nicht bereit ist, ein zweitklassiger Partner der Vereinigten Staaten zu sein.“ Daher ist es Teil „des globalen Neoliberalismus und zugleich eine eigenständige staatskapitalistische Macht.“ Diese eigentümliche Kombination bedeutet, dass China von der neoliberalen Ordnung profitiert und gleichzeitig eine Herausforderung für sie darstellt.11 Pierre Rousset ist ein weiterer Autor, der in der gleichen Richtung wie Yu gearbeitet hat.12

Wie wir sehen können, könnten die Positionen zur Stellung Chinas gegenüber den imperialistischen Mächten nicht unterschiedlicher sein. Die Betrachtung Chinas als Imperialismus im Prozess des Aufbaus oder der Konstituierung scheint uns, wie wir argumentiert haben, der beste Weg zu sein, um diese Situation zu erfassen, die zwar immer noch vorübergehende Elemente aufweist, aber gleichzeitig die Bewegungsrichtung anzeigt, auch wenn der Erfolg dieser Entwicklung keineswegs gesichert ist.

Fußnoten

1. Für eine Rezension seines Buchs vgl. Mercatante, Esteban, “Las venas abiertas del Sur global”, Ideas de Izquierda 28.4.2016.
2. “Globalización de la explotación, la clave del imperialismo del siglo”, Ideas de Izquierda, 16.12.2018. Vgl. Auch die Debatte mit ihm und mit David Harvey in Mercatante, Esteban, “Capitalismo y desarrollo desigual, ¿una desmentida al imperialismo?”, Ideas de Izquierda, 5.8.2018.
3. Obwohl die Löhne in den letzten 15 Jahren gestiegen sind, liegen sie immer noch unter denen in vielen anderen Ländern, auch wenn sich gleichzeitig die „arbeitsintensiveren“ Bereiche aus China in andere Niedriglohnstandorte zurückziehen.
4. Li, Minqi, China and the Twenty-first Century Crisis, New York, Pluto Press, 2015.
5. Ebd.
6. Ebd.
7. Zu diesem Thema und den verschiedenen Stufen ungleicher Entwicklung, die die Internationalisierung der Produktion kennzeichneten, vgl. diese Polemik: Mercatante, Esteban, “Desarrollo desigual e imperialismo hoy: una discusión con David Harvey”, Ideas de Izquierda, 30.8.2020.
8. Hung, Ho-fung, The China Boom. Why China Will Not Rule the World, New York, Columbia University Press, 2016, S. 180. Für eine Rezension dieses Buchs vgl. Esteban Mercatante, “¿China no dominará el mundo?”, Ideas de Izquierda 33, September 2016.
9. Für eine Kritik an Arrighi vgl. Chingo, Juan und Dunga, Gustavo, “¿Imperio o imperialismo? Una polémica con El largo siglo XX de Giovanni Arrighi e Imperio de Toni Negri y Michael Hardt”, Estrategia Internacional 17, Herbst 2001. Zu den Ansichten Arrighis über China vgl. Bach, Paula, “China: de Giovanni Arrighi al General norteamericano Clark”, La Izquierda Diario, 25.10.2014.
10. “El ascenso de China a potencia mundial. Entrevista a Au Loong Yu”, Viento Sur, 14.3.2019.
11. Ebd.
12. Pierre Rousset, “Un imperialismo en construcción”, Rebelión, 17.7.2014.

Zum Weiterlesen

Anmerkung der Redaktion: Esteban Mercante empfiehlt zum Abschluss einige Texte über den Kurs von China und sein Verhältnis zum Imperialismus, die in unserem internationalen Zeitungsnetzwerk veröffentlicht wurden. Diese Texte sind allerdings nur auf spanisch verfügbar. Der Vollständigkeit halber führen wir sie hier mit auf:

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