Vor 74 Jahren: Die Gründung der Volksrepublik China

03.10.2023, Lesezeit 15 Min.
Übersetzung:
1
Mao proklamiert die Volksrepublik China, 01. Oktober 1949, Foto: Orihara1, Public domain, via Wikimedia Commons

Am 1. Oktober 1949 wurde mit dem Einmarsch der Roten Armee in Peking die Volksrepublik China unter der Führung von Mao Zedong proklamiert. Einige der Lehren, 74 Jahre nach ihrer Gründung.

Die chinesische Revolution war eines der größten Ereignisse der jüngeren Geschichte. Ihre Auswirkungen prägten ein ganzes Jahrhundert und sind noch heute spürbar. Um den Prozess und das Ergebnis der Gründung der Volksrepublik China, dem Produkt dieser (dritten) chinesischen Revolution (nach den Revolutionen von 1911 und 1925-27), zu verstehen, lohnt sich ein Blick in ihre Geschichte.

Die Politik der KPCh und der Dritten Internationale in der zweiten Revolution

Die Ereignisse von 1949 können nur im Lichte der zweiten Revolution, die 1925 begann, verstanden werden. Dieser revolutionäre Prozess, der geprägt war von einer Rätebewegung in den wichtigsten chinesischen Großstädten wurde 1927 allerdings als Ergebnis der Politik der Klassenkollaboration zwischen der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) und der Partei des bürgerlichen Nationalismus, der Kuomintang (KMT), niedergeschlagen. Die KMT, wenn auch mit unterschiedlichen Flügeln, wurde von General Chiang Kai-shek angeführt. Nachdem dieser von der KPCh auf Anweisung Moskaus zunächst hoch gelobt und seine Politik gerechtfertigt worden war, verfolgte und massakrierte Chiang Kai-shek im April 1927 Tausende Kommunist:innen in Shanghai und in anderen Städten Chinas und fügte der Arbeiter:innenbewegung so ihre schwerste Niederlage zu. Es dauerte Jahre, bis sich die organisierte Arbeiter:innenklasse von diesem Massaker erholen konnte.

Die (zu diesem Zeitpunkt bereits stalinisierte) Dritte Internationale vollzog daraufhin eine ultralinke politische Wende (die so genannte Dritte Periode). Stalins Ziel dabei war es, das Scheitern seiner Politik sowohl in der UdSSR als auch international zu verschleiern und den internen Kampf gegen die Linke Opposition um Leo Trotzki und seine Mitstreiter:innen voranzutreiben. Der Führer der KPCh Li Lisan, ein treuer Stalinist, setzte diese neue Linie auch für China um, indem er die Arbeiter:innen dazu aufrief, sofort die Macht zu ergreifen. Und das zu einem Zeitpunkt, wo die Bewegung bereits geschlagen war. Die Kommunist:innen verfügten aber trotz ihrer Niederlagen immer noch über beträchtlichen Rückhalt im Proletariat und organisierten in den Jahren 1929 und 1930 eine Reihe von Aufständen, die alle blutig scheitern mussten. Sie hatten zur Folge, dass sich die Partei immer stärker von den Massen isolierte und der Regierung die Gelegenheit gab, ihre Verfolgung der Arbeiter:innenbewegung noch zu verstärken. Die putschistische Politik der Partei führte zu einer Verlagerung ihres strategischen Zentrums weg von der Arbeiter:innenbewegung. Die Partei orientierte sich sowohl politisch als auch ideologisch nun immer stärker auf den Bäuer:innenkrieg, der sich in den ärmeren Gebieten Chinas zeitversetzt zu der Bewegung in den Städten entwickelt hatte.

Die Bäuer:innensowjets von Hunan und Jiangxi

Diese großen Bäuer:innenaufstände organisierten sich im Hinterland in Form von Sowjets, in denen sich Kleinbäuer:innen und Arme zusammenschlossen. Die KPCh führte durch sie etwa 200 Unterprovinzen an: kleine Dörfer im Südwesten Chinas, in denen die Bäuer:innen unter der Führung der Kommunist:innen die Großgrundbesitzer:innen und in einigen Fällen sogar die Bourgeoisie enteignet hatten. Diese Aufstände konnten nur gelingen, weil sie von den Städten aus von der Arbeiter:innenbewegung begleitet und angeführt wurden. Doch die Kommunist:innen hatten mittlerweile die städtische Arbeiter:innenbewegung aus ihrer Strategie ausgeklammert. Auf der Grundlage dieser verspäteten Aufstände auf dem Land konnte Stalin Anfang der 1930er Jahre die Fiktion einer „Roten Republik“ in den von Mao beherrschten Gebieten aufrechterhalten; die Bäuer:innenräte konnten jedoch aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit und ihrer geographisch-politischen Beschränkung (sie waren von den Städten isoliert) keine „sozialistischen“ Maßnahmen ergreifen und auch nicht auf nationaler Ebene siegen.

Die Anwendung und Agitation des Agrarprogramms durch die KPCh gewann die Unterstützung der armen Massen auf dem Lande und ermöglichte es ihr, eine Zeit lang der nationalistischen Reaktion standzuhalten. Die Fiktion einer ausschließlich auf dem Lande angesiedelten Sowjetregierung musste jedoch angesichts der ständigen Kriegszüge der Kuomintang-Armeen aufgegeben werden. 1934 begann das militärische Epos des „Langen Marsches“, der durch den Rückzug der KPCh aus ihren roten Stützpunkten in Hunan und Kiangsi Gestalt annahm. Ein Jahr später, im Oktober 1935, durchbrach der Lange Marsch die nationalistische Umzingelung und erreichte mit 30.000 Mann (von etwa 90.000, die die roten Täler verlassen hatten) die hohen Berge Nordchinas. Lediglich geschätzte 35 Frauen waren bei dieser Unternehmung dabei. Diese traten allerdings nicht die lange Reise zu den Bergen an, sondern blieben bei den Verletzten, die zurückgelassen werden mussten.

In den Städten kam es unterdessen zu einer neuen Welle von Unruhen gegen die japanische Besatzung, die 1931 mit der Besetzung der Mandschurei begonnen hatte. Isaak Deutscher und Ernest Mandel analysierten diese Bewegung folgendermaßen:

„Die Arbeiter:innen in Schanghai und anderen Küstenstädten hatten einen neuen Anlauf unternommen und führten turbulente Streiks und Demonstrationen durch. Da ihnen jedoch eine kompetente Führung fehlte, wurden sie immer wieder besiegt.“

Im Jahr 1937 dehnte Japan in einer großen Invasion seinen Einfluss auf die chinesischen Küstenstädte aus, die verwüstet und deren Industrie zerstört wurden. Dies erstickte auch die Arbeiter:innenbewegung. Der Kopf der Revolution war abgetrennt, aber ihr Schwanz hörte nicht auf, sich zu bewegen. Von diesem Zeitpunkt an wird der maoistische Mythos geschaffen, nach dem jede Revolution „vom Land in die Stadt getragen werden muss.”

Der Krieg gegen Japan und die antiimperialistische Einheitsfront

In den Städten und auf dem Lande entfaltete sich zunehmend eine antiimperialistische Stimmung gegen die japanischen Besatzer:innen, die die Bevölkerung grausam tyrannisierten. Diese eröffnete Maos Roter Armee die Möglichkeit, aus der nationalistischen Umzingelung auszubrechen. Die Kuomintang-Regierung geriet währenddessen wegen ihrer Beschwichtigungspolitik gegenüber den japanischen Besatzer:innen in der Bevölkerung in großen Verruf. Doch die Wendung der Komintern zur Volksfrontpolitik veranlasste die KPCh dazu, sich ab 1934 auf eine politische Einheit mit der nationalistischen Bourgeoisie zu orientieren, indem sie die Bildung einer antijapanischen Einheitsfront vorschlug und ihre Agitation für eine Agrarreform aufgab, da diese die Machtbasis der Kuomintang-Generäle angegriffen hätte, denn diese gehörten selbst zu den größten Großgrundbesitzern Chinas. Der „Hauptwiderspruch“, so Mao, sei nun der zwischen dem chinesischen Volk und dem japanischen Imperialismus. Der Widerspruch zwischen dem Proletariat und der nationalen Bourgeoisie und sogar derjenige zwischen den Bäuer:innen und den alten feudalen Klassen sei nun zweitrangig.

Der Maoismus vertrat (und tut dies auch heute noch) eine statische Theorie, in der die richtige Aufgabe, dem ausländischen Imperialismus entgegenzutreten, mit einer klassenkollaborationistischen Politik einherging, nicht für eine Landreform oder andere Forderungen zu kämpfen, die die „Verbündeten“ , d.h. die nationale Bourgeoisie herausfordern könnte.

Einmarsch der Roten Armee in Peking

Trotz des Versuchs, den „sekundären Widerspruch“ zu unterdrücken, flammt der Bürgerkrieg zwischen Bauernschaft, der Bourgeoisie und den Großgrundbesitzer:innen im Zuge des antijapanischen Krieges immer wieder auf. Es kam von 1942 bis 1949 mehrmals zu spontanen Aufständen der Bäuer:innen in den befreiten Gebieten.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs (1945), nach der Niederlage Japans, beherrschte die Rote Armee mit Mao Zedong an ihrer Spitze weite Teile Nordchinas mit etwa 100 Millionen Einwohner:innen und das trotz des Verrats des Stalinismus, der die von den Japaner:innen erbeuteten Waffen an die Kuomintang und nicht an die Bäuer:innenarmeen übergab.

Nach dem Krieg versuchte die KPCh eine Koalitionsregierung mit der Kuomintang einzugehen, doch Chiang Kai-Shek fürchtete die Macht der Bäuer:innen und stellte als Bedingung die Eingliederung der Roten Armee in die regulären Streitkräfte. Dies hätte die Selbstaufgabe der KPCh bedeutet und daher lehnte sie ab. Chiang, durch die Anerkennung als einzige legitime Regierung Chinas unter der Schirmherrschaft des amerikanischen General-Marshalls ermutigt, beging daraufhin einen großen strategischen Fehler: Er ließ die Verhandlungen platzen und wollte Mao auf seinem eigenen Territorium angreifen.

Dies zwang Mao, seine Politik zu ändern und für ganz China die Landreform zu proklamieren. Das löste eine Flut revolutionärer Energie aus, die von Millionen von Bäuer:innen aufgegriffen wurde, die, noch bevor Maos Armeen in den einzelnen Gebieten eintrafen, das Land aufteilten und die Geschäftsbücher der Wucherer:innen (die mit den Grundbesitzer:innnen verbündet waren) in den Dörfern öffentlich verbrannten. Der Arbeiter:innenaufstand von 1946 hätte es der Revolution ermöglicht, die aktive Beteiligung (oder Führung) durch das Proletariat zu erlangen. Aber er wurde mit Hilfe der Kommunist:innen niedergeschlagen, um Maos bürokratische Führung und Politik aufrechtzuerhalten. Vom Sommer 1946 bis zum 1. Oktober 1949, als die Rote Armee in Peking einmarschierte, breitete sich dieser revolutionäre Bäuer:innenkrieg wie ein Lauffeuer über das ganze Land aus. Die armen und landlosen Bäuer:innen erhoben sich nicht nur gegen die Großgrundbesitzer:innen und Wucherer:innen, sondern auch gegen die reichen Bäuer:innen, sodass der Vormarsch von Maos Armee in die Städte unausweichlich wurde.

Am 01. Oktober schließlich proklamierte Mao auf dem Tian’anmen-Platz die Chinesische Volksrepublik. Die neue Regierung legalisierte die Landreform, die in Wirklichkeit selbständig von armen Bäuer:innen durchgeführt worden war. Sie weigerte sich jedoch mehrere Jahre lang, die Enteignung der nationalen Bourgeoisie abzuschließen, da sie diese als Teil des „Blocks der vier Klassen“ betrachtete. Dieses Klassenbündnis war sehr fragil und musste früher oder später in die eine oder andere Richtung kippen.

Infolge des von den USA angezettelten Koreakrieges (1950-53), in den China mit über einer Million Soldat:innen eingriff, um seine Selbstverteidigung zu gewährleisten, sah sich die maoistische Führung schließlich gezwungen, den Rest der chinesischen Bourgeoisie, die offen in das Lager des Imperialismus und der Konterrevolution übergelaufen war, endgültig zu enteignen. Damit wurde die Bildung eines neuen Arbeiter:innenstaates als Ergebnis der Revolution abgeschlossen.

Doch die bürokratische Führung durch die Kommunistische Partei führte dazu, dass der chinesische Arbeiter:innenstaat bereits bei seiner Entstehung einen deformierten Charakter hatte. Es war ein Regime, in dem die Rätedemokratie von Anfang an fehlte und der bürokratische Staats- und Parteiapparat die gesamte Macht in den Händen hielt. Laut Leo Trotzkis Theorie der permanenten Revolution können die Aufgaben der (bürgerlichen) demokratischen Revolution in rückständigen Ländern nur durch den direkten Übergang zur sozialistischen Revolution gelöst werden. Die außergewöhnlichen Nachkriegsbedingungen unter denen die KPCh an die Macht gelangt war und die direkte Bedrohung durch den US-Imperialismus zwangen Mao dazu, weit über das Programm hinauszugehen, mit dem er seine Regierung angetreten hatte. Die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus wurde für das Überleben von Maos Regime zwingend und so brach sich die permanente Revolution auch in China Bahn und ein zweiter großer Arbeiter:innenstaat neben der Sowjetunion entstand, jedoch ohne die aktive Beteiligung des Proletariats. Diese historische „Abkürzung“ bezahlte das chinesische Proletariat jedoch mit der Notwendigkeit einer zweiten, politischen Revolution, die die parasitäre bürokratische Kaste hätte entfernen müssen, um den durch sie blockierten Weg zum Sozialismus freizumachen. Zudem unterschied sich Volkschina von den anderen deformierten Arbeiter:innenstaaten in Osteuropa, denn es stand nie unter der direkten Kontrolle der Sowjetunion und beide nationalen Bürokratien gerieten daher schnell in Konkurrenz zueinander. Doch Maos berühmter Bruch mit der Sowjetunion änderte nichts am stalinistischen Charakter Volkschinas.

Die Revolution von 1949 stellte auch einen theoretischen Bruch mit dem revolutionären Erbe der Dritten Internationale dar. Nicht mehr das in Räten organisierte und von einer revolutionären Arbeiter:innenpartei angeführte Proletariat sollte die Revolution vorantreiben, sondern ein allgemeiner Aufstand armer oder landloser Bäuer:innen unter der Führung einer als Guerillaarmee organisierten Kommunistischen Partei. So scheint China ’49 oberflächlich betrachtet der Theorie der permanenten Revolution zu widersprechen: Für Mao hatte die Revolution nicht die Diktatur des Proletariats zum Ziel, wie es in Russland geschehen war, sondern sollte eine antifeudale und antiimperialistische Revolution sein, die von einem „Block der vier Klassen“ angeführt wird: Proletariat, Bäuer:innentum, städtisches Kleinbürger:innentum und nationale Bourgeoisie. Dass dieses Programm eine Utopie bleiben musste, lernte Mao erst spät und auch nur durch die Erfahrung. Ohne es zu wollen und ohne sich seiner historischen Rolle voll bewusst zu sein, griff Mao schließlich doch zu revolutionären Maßnahmen gegen die Bourgeoisie und schlüpfte damit in die Rolle eines proletarischen Bonaparte. Diese Anomalie der chinesischen Revolution lässt sich nur durch eine Häufung außergewöhnlicher historischer Bedingungen erklären:

In der russischen Revolution sind die Rückschläge der Weltrevolution und die Isolation des Sowjetstaates seit Mitte der 1920er Jahre, die Ursachen für die Bürokratisierung der Partei, welche anschließend die sowjetische Demokratie gewaltsam beseitigte, um eine bonapartistische Diktatur mit Stalin an der Spitze zu errichten, was zur Degeneration der russischen Revolution führte. In der chinesischen Revolution hingegen hat der Maoismus diese bürokratische Rolle schon lange vor seinem Triumph übernommen. Nämlich als die Verbindung zwischen der KPCh und dem Proletariat Anfang der 30er Jahre gewaltsam getrennt wurde, sodass von der ehemaligen Arbeiter:innenpartei nichts anderes mehr übrig blieb als ihr bürokratischer Apparat in Form des Generalstabs einer Guerillaarmee, die sich auf die Bäuer:innen stützte. Der aus dem Sieg dieser Armee hervorgehende Staat trug daher die gleichen strukturellen Merkmale wie sie.

Obwohl die armen und halbproletarischen Bäuer:innenmassen 1949 eine große Revolution gemacht haben, die der antikolonialen Bewegung und den antiimperialistischen Kämpfen in der ganzen Welt einen großen Impuls gegeben hatte, verhinderte also das Fehlen des Proletariats als führende Klasse mit seiner revolutionären Partei an der Spitze, dass die chinesische Revolution einen gesunden Arbeiter:innenstaat hervorbringen konnte, der  als Stützpunkt für die Gründung einer neuen revolutionären Internationale hätte dienen können, wie es der junge russische Arbeiter:innenstaat vermocht hatte. Genau wie in Russland wissen wir heute, dass auch die chinesische Bürokratie am Ende eines langen, widersprüchlichen und von schweren Fehlern und Verbrechen geprägten Prozesses nicht den Übergang zum Sozialismus anführte, sondern im Gegenteil selbst diejenige Kraft wurde, die die kapitalistische Restauration in China organisierte, die zu beispiellosen sozialen Ungleichheiten und dem Verlust aller Errungenschaften der Revolution führte.

Dieser Artikel erschien ursprünglich 2019 zum 70. Jahrestag der Gründung Volkschinas auf unserer argentinischen Schwesterseite La Izquierda Diario und wurde für die Veröffentlichung in Deutschland sprachlich und inhaltlich angepasst.

Mehr zum Thema