Die europäische Linke zwischen zwei Illusionen: das Europa des Kapitals reformieren oder zur „Souveränität“ zurückkehren?

21.05.2019, Lesezeit 15 Min.
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Zu den Europawahlen am 26. Mai veröffentlichen die Sektionen und sympathisierenden Gruppen der Trotzkistischen Fraktion für die Vierte Internationale (FT-CI) in Europa diese gemeinsame Erklärung. Um die Politik des Europas des Kapitals und den Rassismus der extremen Rechten zu konfrontieren, ist der Kampf für ein internationalistisches und antikapitalistisches Programm der Arbeiter*innenklasse notwendig.

Bild: Wandmalerei von Banksy in Dover

Bei den Europawahlen am 26. Mai wird nicht nur die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments bestimmt: Sie dienen auch als Thermometer für die politischen Tendenzen in den verschiedenen Ländern.

Das Wachstum der extremen Rechten und die sich (wenn auch ungleichmäßig) verschärfende Krise vieler Regierungsparteien in Europa sind die wichtigsten Resultate, die von den bevorstehenden Europawahlen erwartet werden.

In Frankreich nimmt Macrons Popularität nach mehr als sechs Monaten des anhaltenden Kampfes der Gelbwesten und brutaler Repression gegen die Demonstrant*innen, durch die Tausende verletzt und mehr als ein Dutzend Menschen getötet wurden, weiter ab. In diesem Kontext könnte die rechtsextreme Partei Marine Le Pens, Rassemblement National, laut einigen Umfragen bei diesen Wahlen die Regierungspartei überholen, während La France Insoumise von Mélenchon 10 Prozent der Stimmen erhalten könnte.

Auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel steht bei diesen Wahlen auf dem Prüfstand, nachdem sie schon als Vorsitzende der konservativen CDU zurückgetreten ist. Laut Umfragen, die eine hohe Nichtwähler*innenquote vorhersagen, würde die „Große Koalition“ von Union und SPD nur 48 Prozent der gültigen Stimmen erreichen, gegenüber 62 Prozent im Jahr 2014.

In Italien wächst die Lega von Matteo Salvini gegenüber der Fünf-Sterne-Bewegung, mit starken Spannungen innerhalb der Regierungskoalition. Im Vereinigten Königreich, das im Trauma des „Brexit“ versunken ist, erleben wir die absurde Situation der Teilnahme an der Wahl zum Europäischen Parlament. Alles deutet darauf hin, dass die neue nationalistische und fremdenfeindliche Partei von Nigel Farage (The Brexit Party) sowohl die Labour-Partei als auch die Konservativen überwinden wird. Das ist Ausdruck der großen Unzufriedenheit mit den traditionellen Parteien und mit der Stagnation der Verhandlungen über den „Brexit“.

Im Spanischen Staat wurde schon am 28. April die wichtigste elektorale Schlacht geschlagen, als die sozialdemokratische PSOE von Pedro Sánchez die nationalen Parlamentswahlen gewann. Die Wahlkampagne in Richtung des 26. Mai erscheint als Fortsetzung der vorherigen, im Rahmen des Abwartens der Koalitionsverhandlungen. Laut den Prognosen wird die PSOE ihre Position stärken, während die neue rechtsextreme Partei Vox es schaffen wird, zum ersten Mal in das Europäische Parlament einzutreten und sich dem Block der rechtsextremen und fremdenfeindlichen populistischen Parteien anzuschließen.

Diese Wahlen werden einmal mehr die Kontinuität der organischen Krisen verdeutlichen, die die Regime verschiedener europäischer Länder plagen, gegen die die herrschenden Klassen nach Lösungen in ihrem eigenen Interesse suchen. Aber auch die Ausgebeuteten nutzen die Risse „von oben“, um ihre eigenen Forderungen „von unten“ zu formulieren.

Der Kampf der Gelbwesten in Frankreich als Ausdruck tiefer sozialer Unzufriedenheit; die Demonstrationen von Beamt*innen, Lehrer*innen und Logistikarbeiter*innen gegen die Regierung Costa in Portugal; die massiven Demonstrationen der Frauenbewegung am 8. März; die Proteste in Ungarn gegen das rechtsextreme Regime von Viktor Orbán und sein so genanntes „Sklaverei-Gesetz“; sowie die Kämpfe der Massen in Algerien und Sudan gegen autoritäre Regime, die historisch vom europäischen Imperialismus – insbesondere von Frankreich – unterstützt wurden: Diese Beispiele zeigen die Perspektive eines Wiederauflebens des Klassenkampfes. Und damit einhergehend die Notwendigkeit, die Einheitsfront für den Kampf zu entwickeln, um den Spaltungen und den Kapitulationen der bürokratischen Gewerkschaftsführungen zu begegnen.

Die extreme Rechte und das Europa des Kapitals

Rechtsextreme Parteien könnten 20 Prozent der Sitze im Europäischen Parlament erlangen, was zusammen mit den Ultrakonservativen etwa 30 Prozent der Abgeordneten bedeuten würde. Bereits heute sind rechtsextreme Gruppen in allen Ländern der Europäischen Union Teil nationaler Parlamente, mit Ausnahme von Portugal, Irland, Luxemburg, Malta und dem Vereinigten Königreich. Der Spanische Staat trat erst kürzlich diesem „Club“ bei, mit dem Wahlerfolg von Vox am 28. April.

Obwohl es unterschiedliche Gewichtungen gibt, teilen die meisten dieser Gruppen eine „Euroskepsis“. Gleichwohl steht die Währungsfrage nicht mehr im Mittelpunkt ihrer Programme, sondern sie neigen in vielen Fällen dazu, europäische Verträge neu zu verhandeln, um reaktionäre nationale Grenzen zu stärken und an Brüssel delegierte Befugnisse zurückzugewinnen. Sie verbinden nationalistische Ideologie, Populismus und Rassismus und appellieren an die, die vom EU-Establishment „vergessen“ wurden. Migrant*innen sind das Hauptziel ihrer reaktionären Angriffe.

Aber die Zunahme des Rassismus gegen Migrant*innen und Geflüchete ist kein exklusives Programm der extremen Rechten. Es ist eine zunehmend konsolidierte Realität in der Festung Europa, wo alle Regierungen – ob Rechtsextreme, Konservative oder Sozialliberale – in den letzten Jahren seit der Migrationskrise vom Sommer 2015 die Migrationspolitik verschärft haben. Ein tragisches Beispiel genügt: Während weiterhin Tausende von Migrant*innen im Mittelmeer sterben, lassen weder die rechtsextreme Regierung von Salvini noch die „progressive“ Regierung der spanischen PSOE die Schiffe von NGOs, die Migrant*innen retten, in ihren Häfen anlegen. Alle Regierungen unterhalten Gefängnisse für Migrant*innen, „Ausländergesetze“ und beschleunigen Abschiebungen, während die EU reaktionäre Pakte mit der Türkei, Marokko oder Libyen schließt, damit sie an den europäischen Grenzen als Gendarmen fungieren.

Die Migration nimmt infolge von Elend, Krise und militärischen Konflikten in den Herkunftsländern zu, die in vielen Fällen durch imperialistische Interventionen provoziert werden. Während Hunderttausende von Menschen gezwungen werden, vor Hunger und Krieg zu fliehen, fördern die Kapitalist*innen und ihre Staaten Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, um den migrantischen Arbeiter*innen in Europa Bedingungen größerer Unsicherheit und Ausbeutung aufzuerlegen. Sie tun dies, um ihre Gewinne zu steigern und die Kräfte der Arbeiter*innenklasse zu spalten. Migrant*innen sind mit vielfältigen Unterdrückungen konfrontiert und stellen einen großen Teil der prekärsten Sektoren der Arbeiter*innen.

Die imperialistischen Mächte Europas unterhalten entweder durch ihre Beteiligung an der NATO oder durch die EU-Institutionen strategische Allianzen mit autokratischen Monarchien wie Saudi-Arabien (verantwortlich für das Massaker am jemenitischen Volk) und mit dem zionistischen Staat Israel. Sie haben auch die Putschversuche des US-Imperialismus und der Rechten in Venezuela unterstützt und Guaidó ihre Anerkennung ausgesprochen.

In diesem Szenario ist es dringend geboten, eine internationalistische und klassenkämpferische Politik zur Unterstützung der vom europäischen Imperialismus unterdrückten Völker zu entwickeln, die unter anderem das Ende der imperialistischen Interventionen, den Schuldenerlass für die vom Imperialismus geplünderten Länder, die Selbstbestimmung der Völker, die Freizügigkeit der Menschen, die vollen politischen und sozialen Rechte für Migrant*innen, die Schließung von Haftanstalten für Migrant*innen und die Aufhebung der reaktionären „Ausländergesetze“ fordert.

Die neoreformistische Linke ist keine Alternative

Die europäische Linke ist hin- und hergerissen zwischen „linkssouveränistischen“ Alternativen wie La France Insoumise von Mélenchon in Frankreich oder utopischen Vorschlägen zur Reform der Europäischen Union des Kapitals, wie im Falle der Kandidatur von Unidas Podemos im Spanischen Staat.

Mélenchon erklärte kürzlich in einem Interview, dass es nur eine Lösung gebe, um „eine neue Ära der menschlichen Zivilisation zu beginnen“: „die Verträge, die die Europäische Union organisieren, aufzugeben“. Mit einem linkspopulistischen Diskurs versucht Mélenchon, die Unzufriedenheit mit den diskreditierten EU-Institutionen zu nutzen und schlägt vor, die „nationale französische Souveränität“ wiederherzustellen. Eine linksnationalistische Position, die mit der fremdenfeindlichen Agenda der extremen Rechten flirtet. Aber die Prekarisierung, die Ausbeutung, das Elend in den Armenvierteln der Banlieues, die Verschlechterung der öffentlichen Dienstleistungen oder der Anstieg der Lebenshaltungskosten sind nicht nur eine Folge der „europäischen Verträge“ und der Politik von Brüssel. Sie sind vor allem das Ergebnis der Politik der verschiedenen Regierungen, die die Interessen der imperialistischen französischen Bourgeoisie auf Kosten des Elends der Arbeiter*innen und Armen in Frankreich und im Ausland verteidigt haben. Dies stellt Mélenchon nicht in Frage, weil er versucht, die französische „nationale Souveränität“ in der Hand der eigenen Bourgeoisie wiederherzustellen.

Im Spanischen Staat wird die Kandidatur von Unidas Podemos als Alternative „zu Neoliberalismus und Neofaschismus“ in Europa dargestellt. Das Wahlbündnis verurteilt die Vereinbarungen – die es schon lange gibt – zwischen der sozialdemokratischen und der konservativen Fraktion im Europäischen Parlament, die es in den letzten Jahrzehnten ermöglicht haben, die wichtigsten neoliberalen Politiken durchzuziehen. Aber während sie gleichzeitig die PSOE im Europarlament anprangern, wollen sie eine gemeinsame Regierung mit dieser sozialliberalen PSOE im Spanischen Staat.

Ähnliches geschieht mit dem Bloco de Esquerda und der KP in Portugal, die seit vier Jahren die sozialdemokratische Regierung von Costa unterstützen, die sich für die Aufrechterhaltung von Arbeitsmarktreformen und Privatisierungen einsetzt. Podemos, der Bloco oder Die Linke in Deutschland nehmen sich die utopische und reaktionäre Aufgabe vor, die Europäische Union zu „reformieren“ und mit den Institutionen des Europas des Kapitals Druck auszuüben, um einige Brotkrumen zu erlangen. Sie schlagen vor, auf ein „demokratisches Europa“ zu drängen, als ob die EU nicht von Anfang an ein imperialistischer Block unter deutscher Hegemonie gewesen wäre, um die Interessen der Kapitalist*innen zu verteidigen, was seine gesamte bürokratische und reaktionäre Architektur erklärt.

Das tragische Beispiel Griechenlands im Jahr 2015, wo Syriza sich in wenigen Monaten von der „neuen“ antineoliberalen Linken zur Hauptverfechterin aller Privatisierungen, Kürzungen und Anpassungen der Troika wandelte, legte die Ohnmacht der neo-reformistischen Projekte offen und zeigte, dass eine friedliche und schrittweise Überwindung des imperialistischen Europas im kapitalistischen Rahmen nicht möglich ist.

Weder Europäismus noch Souveränismus, sondern revolutionärer Internationalismus

Diese beiden großen Positionen, die die europäische Linke durchziehen – Europäist*innen und Souveränist*innen – sind gleichermaßen reformistisch und führen in eine Sackgasse. Um die Politik des Europas des Kapitals und den Rassismus der extremen Rechten zu konfrontieren, ist der Kampf für ein internationalistisches und antikapitalistisches Programm der Arbeiter*innenklasse notwendig. Ein Programm, das die Zersplitterung der Arbeiter*innenklasse überwindet, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit bekämpft und für diesen Kampf die durch die Krise ruinierten Sektoren der Mittelschicht gewinnt, die sonst zur sozialen Grundlage der Demagogie der extremen Rechten werden würden.

Ein Programm mit Sofortmaßnahmen wie der Aufteilung der Arbeitszeit auf alle verfügbaren Hände ohne Lohnkürzung, der Beendigung prekärer Arbeit und der Streichung der Arbeitsmarktreformen, der Anhebung des Mindestlohns auf das Niveau der Lebenshaltungskosten, der Verstaatlichung des Bankenwesens und der strategischen Wirtschaftssektoren unter der Kontrolle der Arbeiter*innen.

Angesichts der von Brüssel verhängten Kürzungen und Sparmaßnahmen schlagen wir eine Erhöhung des Budgets für Gesundheit, Bildung und soziale Dienste auf der Grundlage der Nichtzahlung der Schulden (und des Kampfes für den Schuldenerlass der Gläubigerländer) sowie den Bruch mit allen Pakten und Verträgen der Europäischen Union vor.

Gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit kämpfen wir für die Freizügigkeit aller Menschen, die vollen politischen und sozialen Rechte von Geflüchteten und Migrant*innen und die Aufhebung der Ausländergesetze.

Angesichts der konservativen „Anti-Gender“-Politik des Vatikans und der extremen Rechten unterstützen wir den Kampf der Frauen- und der LGBT-Bewegung: gegen geschlechtsspezifische Gewalt und Homophobie, gegen jeden Versuch, Errungenschaften wie das Recht auf Abtreibung oder Ehe für alle einzudämmen, und für die Ausweitung der Rechte. Gleichzeitig erklären wir, dass es nicht möglich ist, die Unterdrückung von Geschlecht, Ethnie oder Sexualität im Rahmen des kapitalistischen Systems zu beenden, welches auf der Ausbeutung und dem Elend von Millionen Menschen für die Gewinne einer kleinen Minderheit basiert.

Angesichts der bonapartistischen und repressiven Tendenzen in den Staaten verteidigen wir die Freiheit der politischen Gefangenen und die Aufhebung von freiheitsfeindlichen Gesetzen wie der „Knebelgesetze“ im Spanischen Staat, die die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit angreifen. Wir sind für die Verteidigung der Selbstbestimmung der Völker, und wir unterstützen den Kampf des katalanischen Volkes um sein Recht auf Entscheidung gegen die Unterdrückung des Spanischen Staates.

Angesichts der Katastrophe des Klimawandels schlagen wir ein Programm vor, das auf die Macht der multinationalen Konzerne abzielt, die in erster Linie für Umweltverschmutzung und Umweltzerstörung auf der ganzen Welt verantwortlich sind. Das Ziel einer radikalen Reorganisation des Energiesektors wird immer dringlicher, indem große Konzerne enteignet werden, um Unternehmen unter die demokratische Leitung der Arbeiter*innen zu stellen, unter der Aufsicht von Komitees der Nutzer*innen. Die Verstaatlichung ohne Entschädigung und unter der Kontrolle der Arbeiter*innen aller Verkehrsunternehmen sowie der großen Automobilunternehmen ist von grundlegender Bedeutung für eine massive Verringerung der Automobilproduktion und des privaten Verkehrs bei gleichzeitiger Entwicklung des öffentlichen Verkehrs auf allen Ebenen. Die Verstaatlichung unter direkter Leitung der Arbeiter*innen in Sektoren wie diesen wäre nur der erste Schritt zur Verstaatlichung aller strategischen Wirtschaftssektoren der Städte und des ländlichen Raums mit dem Ziel, einen wirklich nachhaltigen Gesamtplan zu erstellen.

Ein solches Programm kann nur durch Klassenkampf in ganz Europa vorangetrieben werden, indem die Methode der Generalstreiks wiederentdeckt und die Passivität der Gewerkschaftsführungen und der „parlamentarischen“ Illusionen des neuen Reformismus überwunden werden.

Bei den Europawahlen am kommenden 26. Mai haben wir von der Revolutionären Strömung der Arbeiter*innen (CRT, die Schwesterorganisation von RIO im Spanischen Staat) keine Kandidatur vorgelegt und fordern zur Wahl des Movimiento Corriente Roja auf. Trotz der wichtigen programmatischen und strategischen Unterschiede, die wir mit dieser Strömung auf nationaler und internationaler Ebene haben, präsentiert sie sich zu diesen Wahlen mit einem Programm der Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse. In Frankreich rufen unsere Genoss*innen von Révolution Permanente, die der CCR in der NPA angehören, dazu auf, für die Kandidat*innen von Lutte Ouvrière zu stimmen.

Angesichts des Europas des Kapitals, das den Arbeiter*innen und den Massen nichts als Elend und soziale Tragödien bieten kann, stellen wir uns in den Dienst des Kampfes für Arbeiter*innenregierungen, in der Perspektive der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

  • Courant Communiste Révolutionnaire (CCR) in der NPA, Frankreich
  • Corriente Revolucionaria de Trabajadores y Trabajadoras (CRT), Spanischer Staat
  • Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO), Deutschland
  • Frazione Internazionalista Rivoluzionaria (FIR), Italien

Diese Erklärung erschien zuerst am 19. Mai auf Spanisch in Contrapunto, der Sonntagsausgabe von IzquierdaDiario.es.

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