Chemie-Tarifvertrag: Reallohnverluste für Beschäftigte

18.10.2022, Lesezeit 4 Min.
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Foto: ricochet64 / shutterstock.com

Bei den Chemie-Tarifverhandlungen einigten sich die IGBCE und die Chemie-Arbeitgeber:innen auf ein „Entlastungspaket“ - für die rund 580.000 Beschäftigten der Chemieindustrie bedeutet das vor allem eines: Reallohnverluste.

Nach dreitägigen Verhandlungen in der dritten Tarifrunde verkündeten die Tarifparteien am Dienstagmittag das Ergebnis der Chemie-Tarifverhandlungen. Es sei sich „angenähert“ worden. Um 13:30 Uhr startete die Pressekonferenz, auf der die Abschlussergebnisse feierlich vorgestellt wurden.

Die offiziellen Ergebnisse, wie sie von der IGBCE veröffentlicht werden, klingen tatsächlich erst einmal nicht schlecht. So ist die Rede von „Im Schnitt 12,94 Prozent mehr“. Schaut man jedoch genauer hin, so bleibt vom anfänglichen Enthusiasmus über das Verhandlungsergebnis nicht mehr viel übrig. Der ausgehandelte Tarifvertrag gilt fast zwei Jahre: bis 30. Juni 2024. In Zeiten von Inflation, Krieg und Krise ist das viel zu lang, denn so kann die Gewerkschaft nicht auf steigende Inflation und weitere Umstände reagieren.

Weiterhin soll es tabellenwirksame Entgelterhöhungen von 6,5 Prozent geben. Nicht nur, dass diese 6,5 Prozent selbst, gemessen an der aktuellen Inflationsrate von zehn Prozent, zu gering sind und zu Reallohnverlusten führen und auch nicht rückwirkend zum ausgelaufenen Tarifvertrag gelten. Die Erhöhungen werden geteilt und so steigen die Entgelte ab Januar 2023 um 3,25 Prozent und im Januar 2024 noch einmal um 3,25 Prozent. So verlieren die rund 600.000 Beschäftigten allein im nächsten Jahr rund sieben Prozent ihres Gehalts.

Als vermeintlicher Trost für die tabellenwirksamen Erhöhungen wurden schließlich steuer- und abgabenfreie Einmalzahlungen vereinbart. Diese richten sich nach dem Angebot der Bundesregierung und betragen die maximal möglichen 3000 Euro. Doch auch hier wird der Betrag geteilt und je 1500 Euro in den Kalenderjahren 2023 und 2024 ausgezahlt. Die Einmalzahlungen sollen vor allem dem bezahlen der Energierechnungen dienen.

Schaut man sich das Ergebnis an, stellt sich die Frage, inwiefern es sich wirklich um eine Entlastung für die Arbeiter:innen handelt. Von den versprochenen 13 Prozent mehr, bleiben 2023 in Wirklichkeit nur circa 3,25 Prozent Gehaltserhöhung übrig. Bei einer durchschnittlichen Inflationsrate der Lebensmittelpreise von beispielsweise rund 17 Prozent wirkt das nur wie ein Tropfen auf den heißen Stein.

Umso dreister sind dann die Worte vom IGBCE-Vorsitzenden Michael Vassiliadis. Zu dem Abschluss sagt er: „Dieser Abschluss hat Signalwirkung über die Branche hinaus. Beweist er doch, dass gut gemachte Tarifpolitik zentraler Baustein eines gesamtgesellschaftlichen Bollwerks gegen Inflation und Energiekrieg sein kann.“
Auch Chemie-Verhandlungsführer und stellvertretender IGBCE-Vorsitzender Ralf Sikorski sagt zu den Ergebnissen: „Wir haben […] Wort gehalten und eine intelligente Kombination aus schnell spürbarer Entlastung und nachhaltigem Lohnplus durchgesetzt.“ Weiter sagt er: „Die Menschen profitieren […] von der höchsten Tariferhöhung in der Chemie seit mehr als 30 Jahren.“

Dass gerade die Gewerkschaftsbürokratie, mit exorbitanten Gehältern, die Ergebnisse verteidigt, zeigt, wie weit sie von den Arbeiter:innen entfernt ist. Während viele Beschäftigte der Chemieindustrie nicht wissen, wie sie ihre Lebensmittel- und Energierechnungen bezahlen sollen, feiert die Gewerkschaftsbürokratie einen verhandelten Reallohnverlust.

Wir müssen den Gewerkschaften zeigen, dass wir Arbeiter:innen uns nicht verkaufen lassen. Erste Reaktionen von Beschäftigten auf Instagram zeigen schon einmal, dass nicht alle die Geschichte der IGBCE-Führung vom guten Abschluss glauben: „Das was zu befürchten war – 3000€ vom Staat werden als Vorwand genutzt, um keine hohen echten Entgelterhöhungen machen zu müssen.“ – „Dann noch für 20 Monate zugesagt, 20 Monate lang keine Verhandlungen mehr?!?! ich geh kaputt!!” – “warum gibts die 3,25% eigentlich nicht rückwirkend zum ausgelaufenen Tarifvertrag”. Natürlich sind das nur einzelne Meinung, es ist jedoch nur naheliegend, dass mehr Beschäftigte ähnliche Gedanken haben. Das Mindeste, was die IGBCE-Führung deshalb tun sollte, wäre ein demokratischer Mitgliederentscheid über das Ergebnis. Wenn das wirklich so gut ist, wie sie behaupten, müssen sie davor auch keine Angst haben. Das muss jedoch verbunden werden mit Versammlungen von Beschäftigten, auf denen diskutiert wird, ob das Ergebnis angenommen wird und ob im Falle einer Ablehnung gestreikt werden muss.

Was es braucht, sind kämpferische Gewerkschaften, die die Interessen der Arbeiter:innen durchsetzen und sich nicht auf halbgare Deals mit den Arbeitgeber:innen einlassen. Gewerkschaftsfunktionär:innen müssen jederzeit abwählbar und ihren Mitgliedern rechenschaftspflichtig sein und einen normalen Arbeiter:innenlohn verdienen. Tarifergebnisse wie dieses, dürfen wir nicht hinnehmen. Wir müssen in unseren Gewerkschaften und Betrieben Druck aufbauen und für unsere Interessen kämpfen. Für einen Inflationsausgleich und für bessere Arbeitsbedingungen.

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