Beendet die „Ampel“ die Festung Europa?

20.10.2021, Lesezeit 6 Min.
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Protest von Geflüchteten aus Sierra Leone vor der Zentralen Ausländerbehörde in München. Foto: Ayrin Giorgia (Klasse Gegen Klasse)

Das kommende Regierungsbündnis versteht sich als „Fortschrittskoalition”. Geflüchtetenproteste wie aktuell in München werfen die Frage auf: Wie fortschrittlich wird die Ampel in Fragen der Migration sein?

„Stop Deportations! Stop, Stop Stop!“ So hallen derzeit die Forderungen von Geflüchteten aus Sierra Leone einem Regierungsamt in München entgegen. Aus ganz Bayern sind sie vor die Zentrale Ausländerbehörde gekommen und haben dort ein Protestcamp eingerichtet.

Dort finden Anhörungen statt, die sie unmittelbar mit der Abschiebung bedrohen. Die Leitlinien der Migrations- und Geflüchtetenpolitik, die damit umgesetzt werden, stammen allerdings vor allem aus Berlin. Was also ist von der sich formierenden Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP zu erwarten?

Die drei Parteien wollen eine „Fortschrittskoalition“ bilden. Gerade aus den Reihen der Grünen gab es in den vergangenen Legislaturperioden immer wieder Kritik an der Migrationspolitik der Großen Koalition. So fand auch eine zentrale Formulierung Eingang in das Sondierungspapier der Vertreter:innen der drei Parteien, die den Anspruch progressiver Migrationspolitik deutlich machen soll: Man wolle „das Sterben auf dem Mittelmeer genauso wie das Leid an den europäischen Außengrenzen“ beenden. Bereits in den Wahlprogrammen von Grünen und sogar der FDP waren solche Formulierungen aufgetaucht. Wird dies  mehr als eine Floskel sein?

Andere Formulierungen in dem Papier lassen erkennen, dass darauf nicht gehofft werden darf. Dort ist davon die Rede, Werte und Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Union „nach innen wie außen“ zu schützen. Das bedeutet letztlich nichts weiter als die (notwendigerweise gewaltsame) Aufrechterhaltung der europäischen Außengrenzen. Die FDP hatte in ihrem Wahlprogramm sogar den Ausbau der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex gefordert – eben jener Einrichtung, deren Name als Inbegriff für das brutale Grenzregime der EU steht.

Es wäre auch allzu verwunderlich, wenn die Ampel-Parteien einen tatsächlichen Kurswechsel in der Migrationspolitik einleiten würden. Schließlich ist seit Jahrzehnten jeweils mindestens eine der Parteien an der Bundesregierung beteiligt – ganz zu schweigen von den Regierungen auf Länderebene, wo zum Beispiel Abschiebungen letztlich umgesetzt werden.

Nützlich oder nicht?

Auch die kommende Regierung, so verheißt das Sondierungspapier, wird zwischen Migrant:innen unterscheiden, die sie für wirtschaftlich nützlich hält und solchen, die sie wieder loswerden möchte. Das 2019 erlassene „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ verlieh dieser Differenzierung zuletzt Rechtsform. Sein Ziel war dem Bundesinnenministerium zufolge,

dass diejenigen Fachkräfte zu uns kommen können, die unsere Unternehmen vor dem Hintergrund des großen Personalbedarfs und leerer Bewerbermärkte dringend benötigen. Das sind Hochschulabsolventinnen und -absolventen sowie Personen mit qualifizierter Berufsausbildung.

Letztlich geht es darum, für den industriellen Strukturwandel, den die kommende Regierung vorantreiben muss, geeignete Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Das „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ will die Ampel dazu „praktikabler ausgestalten“. Auch für den Pflegenotstand ist der Lösungsvorschlag lediglich, mehr qualifizierte Arbeiter:innen aus dem Ausland zu gewinnen, statt die Bedingungen in dem Sektor für alle unabhängig von ihrer Herkunft zu verbessern. Also auch hier: mehr vom Altbekannten. An der prekären Lage vieler Migrant:innen auf dem rassistisch segregierten Arbeitsmarkt wird sich damit jedenfalls gar nichts ändern.

Statt darauf zu vertrauen, dass eine Ampelregierung Verbesserungen bringen wird, gilt es selbst ein Programm aufzustellen, das diese Spaltung in „Nützliche“ und „Unnütze“ überwinden kann. Für die Einheit der Arbeiter:innen braucht es einen Kampf der Gewerkschaften, deren Apparate über die SPD mit der kommenden Regierung verbunden sein werden, für ein Bleibe- und Arbeitsrecht für alle, wie es die Geflüchteten aus Sierra Leone fordern. Wir brauchen aber damit verbunden auch einen Kampf für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen für alle, für ein Ende von prekärer Arbeit und von Outsourcing, für eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, für bezahlbares Wohnen für alle.

Die Sache mit der „Entwicklungszusammenarbeit“

In ihrem Wahlprogramm hatten die Grünen angekündigt, „die bestehenden ,Migrationspartnerschaften’, die Fluchtabwehr und Rückführungen zur Bedingung etwa von Entwicklungszusammenarbeit machen“ abzulehnen. Für das Paradebeispiel einer solchen Partnerschaft, dem EU-Türkei-Deal, waren der Sozialdemokrat Frank-Walter Steinmeier und sein Außenministerium verantwortlich. Die Türkei erhielt enorme Summen und hielt dafür Menschen von der Flucht nach Europa ab. Kein Wunder also, dass die Ampel-Parteien auch in dieser Frage weiter machen wollen wie bisher. Nur „europäischer“ soll die Entwicklungspolitik in Zukunft aufgestellt werden.

Ob es nun offiziell eine solche Partnerschaft gibt oder nicht: Es ist klar, wer am längeren Hebel sitzt. Im Fall der aktuell protestierenden Sierra-Leoner:innen ist es eine Botschaftsdelegation aus ihrem Herkunftsland, die ihre Identität feststellen soll, um sie für die Abschiebung bereit zu machen. Sierra Leone ist wirtschaftlich schwach und liegt im Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen auf einem der hintersten Ränge. Von 1991 bis 2002 herrschte ein blutiger Bürger:innenkrieg. Dementsprechend angewiesen ist das Land auf Gelder aus der sogenannten Entwicklungszusammenarbeit. Der kleine Staat besitzt jedoch beträchtliche Rohstoffvorkommen, exportiert diese nach Zahlen des Observatory of Economic Complexity vor allem nach Belgien und China. Deutschland steht an fünfter Stelle der Abnehmer:innen. Es braucht demnach kein formales Abkommen, um die sierra-leonischen Behörden dazu zu bringen, an der Abschiebepolitik des deutschen Staates aktiv mitzuwirken.

Den Willen dazu verhehlen die Vertreter:innen Sierra Leones nicht. Das Honorarkonsulat Sierra Leones in Bayern, das sich in den aktuellen Protesten als Vermittler eingeschaltet hat, bezeichnet als eine Chance für das Land die „Rückholung Humankapital“, also: Abschiebungen.

Weder in den vorläufigen Verhandlungsergebnissen zwischen SPD, Grünen und FDP noch in ihrer bisherigen politischen Praxis deutet irgendetwas auf eine grundsätzliche Verbesserung in der Migrationspolitik hin. Das Leben von Migrant:innen wird weiterhin der wirtschaftlichen Verwertbarkeit untergeordnet werden. Lediglich die Rhetorik wird wohl eine mildere sein. Jemanden wie Horst Seehofer, der über 69 Abschiebungen nach Afghanistan an seinem 69. Geburtstag witzelt, wird es in einer Ampelregierung wohl nicht mehr geben. Ansonsten stehen die Zeichen auf „Weiter so!“.

Dabei gibt es gerade an der Basis von SPD und Grünen sowie unter ihrer Wähler:innenschaft durchaus Viele, die sich von ihren Parteien eine humanitärere Politik wünschen würden. Nicht wenige von ihnen haben auch in den vergangenen Jahren immer wieder an Demonstrationen gegen Abschiebungen etwa nach Afghanistan teilgenommen. Sie müssen nun Farbe bekennen und die aktuellen Geflüchteten-Proteste in München unterstützen. Es muss auch klar sein: Wer die Fortsetzung der brutalen Migrationspolitik unter den Farben der Ampel nicht mittragen will, darf diese Regierung nicht unterstützen.

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