Aus Frankreich lernen: Weg mit Hartz IV, für ein Ende des neoliberalen Alptraums

05.12.2018, Lesezeit 10 Min.
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Seit 15 Jahren werden Arbeitslose mit Sanktionen tyrannisiert, zum Leben reicht der ALG-II-Satz nie. Die Drohung, „Hartzer“ zu werden, lastet auf allen Lohnabhängigen. Wir wollen keine Reform des neoliberalen Alptraums – sondern sein Ende. Vorschläge für eine gewerkschaftliche, feministische und linke Kampagne, mit Lehren aus der Massenbewegung in Frankreich.

In Frankreich sind mit den Gilet Jaunes, den „Gelbwesten“, die Massen auf den Straßen. Sie fordern unter anderem die Senkung von Steuern, von denen vor allem Arbeiter*innen, Mittelschichten und Arme betroffen sind, sowie die Erhöhung der Renten und Löhne. Anlass war die Einführung einer Kraftstoffsteuer. Inzwischen gab es einen ersten Erfolg der Bewegung, die Einführung dieser Steuer und zwei weiterer soll verschoben werden – aber „die Franzosen wollen das ganze Baguette“, wie ein Aktivist im Fernsehen formulierte. Er sagte zudem dass das nicht ausreiche und die „Gelbwesten“ Verhandlungen mit Präsident Emmanuel Macron weiterhin ablehnen. Denn mit dem Hass auf den inzwischen völlig diskreditierten neoliberalen „Retter“ Macron ist etwas Tieferes verbunden, der Hass auf den sterbenden Neoliberalismus selbst. Dieses kapitalistische Wirtschaftsregime drückt die Lebensbedingungen der Massen teils unter das Existenzminimum und schüchtert mit seiner Behauptung kapitalistischer Alternativlosigkeit die Lohnabhängigen ein. Seit Jahren schon demonstrieren auch die Arbeiter*innen in Frankreich dagegen, die jetzt in der Aufgabe stehen, eine Hegemonie über die Massenbewegung zu erlangen.

Die aktuellen Ereignisse sollten den Gewerkschafter*innen, Linken und Feminist*innen etwas zeigen: Wir brauchen ein Programm gegen den sterbenden Neoliberalismus, das in den Massen der Bevölkerung greift. Neuerdings steht wieder Hartz IV zur Debatte, aber weder die Groko noch ihre potentiellen Alternativen wollen die Tyrannei gegen die Arbeitslosen beerdigen, da sie das Heer der Arbeitslosen in der kapitalistischen Konkurrenz als „industrielle Reservearmee“ brauchen – zum Beispiel als „Standortvorteil“ gegenüber Frankreich. Aber wir brauchen es nicht und wir brauchen die Kapitalist*innen auch nicht, sondern eine breite Kampagne, die eine Massenwirkung wie in Frankreich erzielen kann.

Für eine radikale Senkung der Arbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich!

Hartz IV wurde nicht einfach hingenommen, gegen Hartz IV wurde gekämpft. Doch die gescheiterten Montagsdemonstrationen nach der Einführung von Hartz IV und die erfolgloseUmleitung in ein Wahlprojekt namens Linkspartei lassen für uns nur die Lehre zu, dass ein mobilisierter Kampf der Arbeiter*innenklasse und ihrer Organisationen mit Streiks notwendig ist, um den neoliberalen Agenda-Alptraum „Hartz IV“ zu beenden. Dahin wollen wir kommen. Nur das ist im Interesse der Arbeiter*innen: Denn Lohndrückerei, Tarifflucht und gewerkschaftsfeindliche Konzernpolitik, Outsourcing und Privatisierung, sowie die unerträgliche Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse… all das wird möglich durch die Existenz von Hartz IV, als Damoklesschwert über unser allen Köpfen. Das Kalkül der andauernden Drohung: Auch wer lange Zeit Facharbeiter*in oder Angestellte*r war, kann ganz tief unter die Räder kommen, wenn der Job auf einmal weg ist, sei es wegen Betriebsschließung, Krankheit, betriebsbedingten Kündigungen oder als Union-Busting-Maßnahme gegen aufmüpfige Gewerkschafter*innen.

Wir fordern das Ende von Hartz IV und ein unbefristetes, sanktionsfreies Arbeitslosengeld, das nicht an Bedingungen geknüpft ist und den Lebensstandard von Facharbeiter*innen decken kann. Wir wollen aber außerdem die Verteilung der Arbeit auf alle – als ein Programm, das Arbeitslosigkeit und Konkurrenz aufhebt. Dazu fordern wir eine radikale Senkung der Arbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich, sowie die Aufstockung des Personals in der öffentlichen Daseinsvorsorge, wie Erziehung, Soziales, Verkehr oder Gesundheit. Auf diese Weise kommt der technische Fortschritt der Digitalisierung und des Strukturwandels den Lohnabhängigen zugute, anstatt sie zu spalten und zu verelenden: In Zukunft sollen die Maschinen mehr und die Menschen weniger arbeiten. Das funktioniert ganz einfach, die Kapitalist*innen bekommen dann eben weniger Profite. Denn ihre Profite sind nichts anderes als die uns vorenthaltenen Lohnanteile.

Aktuelle Fälle, wie die angedrohte Schließung des Autozulieferers Neue Halberg Guss, zeigen, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln durch die Kapitalist*innen zur Verelendung ganzer Viertel führen kann, wenn Investor*innen nicht mehr wollen – selbst wenn ein Betrieb produzieren und sogar noch Gewinne erwirtschaften kann. Beim Metallverarbeiter Neue Halberg Guss in Leipzig und Saarbrücken konnte nur der Zusammenhalt der Belegschaften im Streik die Schließung verhindern – aber dauerhaft ist diese Sicherheit nicht. Wir fordern dagegen die Enteignung und Verstaatlichung schließender Betriebe unter Arbeiter*innenkontrolle, nach dem Vorbild internationaler Beispiele wie der Keramikfabrik Zanon in Argentinien. Das Gleiche fordern wir für Betriebe, die massenhaft Stellen abbauen und Arbeiter*innen so in die Arbeitslosigkeit stürzen. Wir lehnen die Entschädigung ab. Mit einer Entschädigung werden die Kapitalist*innen durch einen Kaufpreis auch noch für ihre Machenschaften belohnt und der Verlust wird auf die Allgemeinheit umgelegt. Die Arbeiter*innenklasse hat für die Fabriken ihre Lebenszeit hergegeben, also sollen sie ihr auch gehören. Schließlich fordern wir die Angleichung der Löhne in Ost und West und das Ende jeglicher Benachteiligung von Menschen im Gebiet der ehemaligen DDR – denn durch die fatalen Folgen des gewaltsamen kapitalistischen Ausverkaufs der DDR trifft Hartz IV in vielen Gebieten doppelt hart, da sie deindustrialisiert wurden, was zur Verelendung ganzer Städte führte.

Für die Vergesellschaftung der Pflege-, Erziehungs- und Hausarbeit!

Von Fortschritten in der Emanzipation von Frauen kann nicht die Rede sein, während Millionen von Frauen sich in erzwungener Armut befinden und durch Sanktionen und Auflagen in ihren Freiheiten eingeschränkt werden. Die oft zusätzlich anfallende Haus-, Pflege- und Erziehungsarbeit arbeitsloser und arbeitender Frauen bleibt individualisiert und unbezahlt. Alleinerziehende arbeitende Frauen oder Frauen, die Hauptverdienerinnen in der Familie sind, werden durch Hartz IV in besonderem Maße bedroht und unter Druck gesetzt, da sie mit dem Hungersatz ihre Kinder kaum durchbringen können. Kapitalist*innen sehen diesen Zustand gern, weil er ihnen dabei hilft Aufstockerinnen als Billiglöhnerinnen anzustellen. Schließlich noch verbietet ein reaktionäres Abtreibungsrecht und der teure, teils restriktive Zugang zu Verhütungsmitteln Frauen die Kontrolle über die eigene Reproduktion.

Die Voraussetzung für die Befreiung der Frau ist auch im 21. Jahrhundert noch die Befreiung vom materiellen Elend, das mit Hartz IV in einem Ausmaß zurückkam, wie es seit den Nachkriegsjahren nicht mehr bekannt war. Der Kampf gegen Hartz IV ist also ein feministischer Kampf: Wir fordern in diesem Sinne zusätzlich die Vergesellschaftung der Haus-, Pflege- und Erziehungsarbeit, insbesondere ausreichend viele und kostenlose Pflege- und Kita-Plätze, auch für Beschäftigte im Schichtdienst. Für die öffentliche Pflege und Erziehung fordern wir gute Arbeitsbedingungen und Löhne, sowie gleichen Lohn für gleiche Arbeit überall, außerdem keine kirchlichen Sonderarbeitsrechte. Außerdem fordern wir Sexualaufklärung, kostenlose Verhütungsmittel nach Wahl und das Recht auf kostenlose, sichere und legale Abtreibung, sowie das Recht von Ärzt*innen, öffentlich über Schwangerschaftsabbrüche aufzuklären.

Geflüchtete Frauen oder Frauen ohne festen Aufenthaltstitel werden von all diesen Bedingungen nochmal härter getroffen: Sie werden oft zu illegalisierter, unsicherer Arbeit und Prostitution gezwungen, und befinden sich durch ihre unsichere Lage oft in besonderer Abhängigkeit gegenüber Familie und Männern. Für Frauen und alle Menschen ohne deutschen Pass fordern wir daher die gleichen Rechte wie für Deutsche, insbesondere Bleiberecht, Arbeitsrechte und demokratische Rechte. Außerdem fordern wir eine Abschaffung des Lagersystems und die Möglichkeit des Familiennachzugs für alle Geflüchteten. Nur mit diesen Maßnahmen ist es möglich, dass wir zusammen mit Geflüchteten als Teil der multiethnischen Arbeiter*innenklasse um Verbesserungen für uns alle kämpfen können.

Jugendliche selbstorganisiert gegen den Rechtsruck und für ein gutes Leben!

Wer heute jugendlich ist, kennt gar keine Welt ohne Agenda-Politik. Die Hartz-Reformen und alles was dazu gehört wurden dieser Generation in einer Spritze der Vereinzelung und Konkurrenz eingeimpft: Schulen und Unis sind Lernfabriken, die fürs Arbeitsleben vorbereiten sollen. Burnout wird dabei hingenommen. Viele werden auf dem Weg „aussortiert“ und müssen selbst einmal Hartz IV und Sanktionen fürchten, wenn sie keine Billigarbeit annehmen. So wurde der jungen Generation von heute auch gleichzeitig mit dem Neoliberalismus ein Gespür dafür eingeimpft, dass die Sozialpartnerschaft offensichtlich kaputt ist. Zwar gibt es Massenunis und nie studierten mehr Jugendliche als heute – aber das heißt nicht, dass man danach einen auch nur halbwegs sicheren Job bekommt. Ausbildungsplatz- und Übernahmegarantiegarantie sind Fehlanzeige. Kinder von Hartz-IV-Empfänger*innen, Mini-, Midi- und Multijobber*innen haben es extrem schwer Bildung zu bekommen und irgendwann einmal ein gutes Leben zu führen. Ebenso schwer haben es migrantische Kinder und Jugendliche. Wer noch alles zu gewinnen oder zu verlieren hat, wird den größten Anteil in den kommenden Kämpfen haben – und am meisten bereit sein mit dem Konservatismus des Bestehenden zu brechen.

Wir fordern freien Zugang zu Bildung und das Recht auf einen Ausbildungs- oder Studienplatz für alle. Außerdem treten wir für eine Hegemonie der Arbeiter*innenklasse in den sozialen Bewegungenein, um sie zum Erfolg zu führen. Sei es die Umweltbewegung, die antifaschistische und antirassistische oder die feministische – die vom Kapitalismus erzeugten Probleme können von ihm selbst nicht mehr gelöst werden, der Geist ist aus der Flasche. Allein gegen den Rechtsruck gingen in den letzten Jahren Hunderttausende Jugendliche auf die Straße, die in einer solidarischen Gesellschaft leben und sich nicht spalten lassen wollen. Der Neoliberalismus bietet ihnen die Grünen als „weltoffene“ Version von sich selbst an. Es sind die Grünen, die Hartz IV und Kriege verbrochen haben und selbst in „ihren“ Ländern ständig abschieben und Polizeigewalt gegenüber linken Jugend-Demonstrationen ausüben. Wegen des notwendigen Versagens des Reformismus und Liberalismus schlagen wir eine Selbstorganisierung der Jugend mit einem Programm der multiethnischen Arbeiter*innenklasse vor, an den Orten, an denen sich Jugendliche befinden: Ausbildungsplätze, Schulen, Universitäten. Das Organisierungskonzept einer marxistischen Jugend, das wir dafür diskutieren möchten, ist eines der Zusammenführung demokratischer Forderungen nach Freiheit von sexueller, rassistischer, geschlechtlicher und nationaler Unterdrückung, sowie der Emanzipation vom Kapitalismus.

Wie das alles erreichen?

„Das ist ja eine schöne Wunschliste, die ihr da habt“, werde manche Abgeordnete und Gewerkschaftssekretär*innen jetzt sagen, „wie soll das denn jemand erreichen, wir erreichen ja nicht einmal kleine Verbesserungen…“ Und „…ja eben!“ entgegnen wir darauf: Der Reformismus bringt lange schon keine Reformen mehr, im Gegenteil. Die reformistischen Parteien SPD und Linkspartei drücken die Bedingung vieler Lohnabhängiger, durch ihre kapitalfreundliche Politik in Bund und Ländern, sogar selbst. Die einzige „Verbesserung“ seit der Zeit von Agenda 2010 war die Einführung des viel zu geringen Mindestlohns. Neben seiner mangelnden Höhe ist es durchsetzt von Ausnahmen, da es ja den Bossen nicht weh tun darf. Also „ja eben“, genau weil der Reformismus und die Bürokratien unserer Gewerkschaften kein Kampfprogramm aufstellen können, erreichen sie nichts, sondern treiben die Bevölkerung in die Verzweiflung und damit nach rechts.

Wir wollen aber auf unsere Gewerkschaften nicht verzichten, nur weil sie von Bürokrat*innen geführt werden, von angeblichen „Kolleg*innen“, wie dem überbezahlten Reiner Hoffmann, die sogar Hartz IV verteidigen. Wir wollen innerhalb der Gewerkschaften für eine breite Kampagne gegen Hartz IV und für die Forderungen der Arbeiter*innen, Frauen und Jugendlichen um ein gutes Leben eintreten. Einmal als unmittelbares Kampfprogramm für heute und einmal als ebenso notwendige Grundlage einer kommenden antibürokratischen und antikapitalistischen Strömung in den Gewerkschaften, mit der die Arbeiter*innen ihre Organisationen zurückerobern können. Dafür müssen sie von der neoliberalen Kollaboration zwischen Kapital und Arbeit, die sich in der SPD am stärksten ausdrückt, getrennt werden, mit jederzeitiger Abwählbarkeit, Rotation sowie durchschnittlichem Arbeiter*innengehalt der Amtsträger*innen und demokratischen Streik- sowie Arbeiter*innen-Versammlungen. Die Kämpfe der Massen in Frankreich, von denen die dortigen Gewerkschaftsbürokratien ihre Basis künstlich zu trennen versuchen, zeigen uns nämlich, wie schnell das Blatt sich gegen den Neoliberalismus und den zugrundeliegenden Kapitalismus wenden kann. Dann brauchen wir unsere Gewerkschaften nicht als Verwalter*innen neoliberaler Zumutungen, sondern als Arbeiter*innen-Kampforganisationen – und aus „niemals“ kann schnell „heute noch“ werden.

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