Abschied von Esteban Wolkow, Hüter der historischen Erinnerung an Leo Trotzki

21.06.2023, Lesezeit 5 Min.
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Foto: La Izquierda Diario Mexiko

Mit Trauer verabschieden wir uns vom Enkel des grenzenlosen Revolutionärs, der uns die Türen des Leo-Trotzki-Hauses in Coyoacán so häufig öffnete. Wir veröffentlichen den Nachruf unser mexikanischen Schwesterorganisation.

Mit Trauer verabschiedeten wir uns am 16. Juni vom Enkel des grenzenlosen Revolutionärs, der uns die Türen des Leo-Trotzki-Hauses in Coyoacán so häufig öffnete. Ein Großteil seines Lebenswerks bestand darin, das Erbe seines Großvaters zu erhalten und zu seiner Verbreitung beizutragen.

Ein tiefer Blick aus himmelblauen Augen, der Erinnerungsschätze aus sehr schweren Zeiten bewahrte. Beherrscht und fest, wie edles Metall, destillierte Lebensfreude. So war Esteban Wolkow (russ: Wsewolod Wolkow), der im Jahr 2019 zusammen mit dem „Zentrum für Studien, Forschungen und Veröffentlichungen Leo Trotzki“ (CEIP) in Argentinien eine Protesterklärung gegen die Netflix-Serie „Trotzki“ initiierte. Denn diese betrieb eine – keineswegs naive – historische Verfälschung des Lebens seines Großvaters, eines der führenden Köpfe der Russischen Revolution.

Die Serie hatte die Flammen der Verleumdungen und Lügen wieder angefacht, die den in der Ukraine geborenen Revolutionär Leo Trotzki getroffen hatten. Dieser hatte sein letztes Exil im Mexiko von Lázaro Cárdenas gefunden und wurde von einem stalinistischen Auftragskiller ermordet.

Bis zu seiner Ankunft in Mexiko hatte Wolkow die turbulenten Gewässer des Exils, der Verfolgung und des Todes, die seine Familie geprägt hatten, durchquert. Sein Vater, Platon Iwanowitsch Wolkow, ein Aktivist der linken Opposition in der UdSSR, wurde 1928 nach Sibirien deportiert und Jahre später erschossen.

Sinaida, Tochter aus Trotzkis erster Ehe und ebenfalls Oppositionelle, gelang es, die UdSSR zu verlassen und ihren Vater während seines ersten Exils in Prinkipo in der Türkei zu besuchen. Doch der Stalinismus hinderte sie daran, in ihr Land zurückzukehren, wo sie ihr anderes Kind zurückgelassen hatte. Das Ausmaß der Verfolgung ihres Vaters und seiner Anhänger:innen sowie ihr Kummer trieben sie 1933 in Berlin in den Selbstmord, als Hitler an die Macht kam. Esteban blieb so im Alter von 7 Jahren als Vollwaise zurück. Er wurde auf ein Internat in Wien geschickt und dann von Leo Sedow, dem Sohn aus Trotzkis zweiter Ehe und einem seiner wichtigsten Mitarbeiter:innen, aufgenommen. Doch Sedow fiel während eines Krankenhausaufenthalts in Frankreich einem Attentat der GPU zum Opfer. Seine Frau stritt mit Trotzki um Estebans Sorgerecht, und schließlich gelang es Freund:innen seines Großvaters, ihn nach Mexiko zu bringen.

Esteban Wolkow, „Siewa“, wurde als 14-Jähriger zum Zeugen des Attentats auf seinen Großvater im Mai 1940 und dann seiner Ermordung im August desselben Jahres. Jedes Mal, wenn er die Geschichte erzählte, überkam ihn ein Gefühl der Ergriffenheit: Er kam von der Schule nach Hause und sah den Aufruhr in dem Haus in der Calle Viena in Coyoacán. „Der Großvater stand im Esszimmer, sein Kopf war blutüberströmt“, erinnerte er sich, „aber er hatte noch die Geistesgegenwart zu sagen: ‚Haltet den Jungen fern, er darf diese Szene nicht sehen'“.

Im Schatten dieser Erinnerungen wuchs Esteban Wolkow in Mexiko auf. Er studierte Chemieingenieurwesen und war einer derjenigen, die die ersten Antibabypillen herstellten. Er heiratete und bekam drei brillante Töchter. Eine Tradition in der Familie. Im Laufe der Jahre gründete er das Museo Casa León Trotsky und das Instituto del Derecho de Asilo, Einrichtungen, die er bis vor einigen Jahren leitete.

Darin liegt die Bedeutung von Esteban Wolkow Lebenswerk als Bewahrer des historischen Gedächtnisses seines Großvaters. Bei der Vorstellung von The Case of Leon Trotsky, einem Werk mit den Protokollen und dem Bericht der Dewey-Kommission, schrieb Esteban: „Von den vielen Schlachten, die Leo Trotzki gegen den Stalinismus führte, war die Dewey-Kommission oder die Moskauer Gegenprozesse zweifellos eine der bemerkenswertesten und wichtigsten. Dort entlarvte und bewies er auf eindringliche und unanfechtbare Weise vor der gegenwärtigen und zukünftigen Geschichte der Menschheit die absolute Illegitimität des stalinistischen Regimes, das nur auf der Grundlage von Verbrechen und historischem Betrug aufrechterhalten werden konnte“. Im Rahmen dieser Arbeit zur Verbreitung des Werks des russischen Revolutionärs geben das Trotzki-Museum Casa León und das CEIP seit 2012 gemeinsam die Ausgewählten Werke von Leo Trotzki heraus, die bereits 15 Bände umfassen.

Kürzlich betonte er in einer der letzten Würdigungen seines Großvaters, dass „die Anhänger:innen Trotzkis ein Teilchen der Zukunft der Menschheit in sich tragen“. Esteban „Siewa“ Wolkow widmete so seine Tage der Bewahrung des historischen Andenkens seines Großvaters und der Reinwaschung seines Namens. Heute würdigen wir, die in den Reihen derjenigen Strömung aktiv sind, die von Leo Trotzki selbst mit dem Ziel der Beendigung des Kapitalismus und des Aufbaus einer kommunistischen Gesellschaft gegründete wurde, sein Wirken.

Dieser Artikel erschien zuerst am 16. Juni 2023 auf Spanisch bei La Izquierda Diario Mexiko.

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